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Der Brief

Roman
dtv Deutscher Taschenbuch Verlagerschienen am01.07.2017
Eine Frau zwischen zwei Leben Marie, Anfang 30, ist höchst irritiert, als sie die Zeilen ihrer alten Schulfreundin Christine liest. Darin ist von Maries Leben in Paris die Rede, von ihrem Mann Victor, dem erfolgreichen Galeristen, und von ihrer lebensbedrohlichen Krankheit. Tatsächlich erfreut sich Marie jedoch bester Gesundheit, arbeitet als Journalistin in Hamburg und führt eine glückliche Beziehung mit der Architektin Johanna. Aber der mysteriöse Brief lässt Marie keine Ruhe. Kurz entschlossen reist sie nach Paris - und findet sich in einem Leben wieder, das ihr seltsam vertraut ist.  

Carolin Hagebölling lebt seit 2010 als freiberufliche Texterin, Konzeptionerin und Redakteurin in München und Düsseldorf. Sie liebt die Berge, das Reisen, das Schreiben und den Blick über den eigenen Horizont.
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Produkt

KlappentextEine Frau zwischen zwei Leben Marie, Anfang 30, ist höchst irritiert, als sie die Zeilen ihrer alten Schulfreundin Christine liest. Darin ist von Maries Leben in Paris die Rede, von ihrem Mann Victor, dem erfolgreichen Galeristen, und von ihrer lebensbedrohlichen Krankheit. Tatsächlich erfreut sich Marie jedoch bester Gesundheit, arbeitet als Journalistin in Hamburg und führt eine glückliche Beziehung mit der Architektin Johanna. Aber der mysteriöse Brief lässt Marie keine Ruhe. Kurz entschlossen reist sie nach Paris - und findet sich in einem Leben wieder, das ihr seltsam vertraut ist.  

Carolin Hagebölling lebt seit 2010 als freiberufliche Texterin, Konzeptionerin und Redakteurin in München und Düsseldorf. Sie liebt die Berge, das Reisen, das Schreiben und den Blick über den eigenen Horizont.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423431477
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum01.07.2017
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse569
Artikel-Nr.2156907
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
Kapitel 1

Es war der 26. Mai, als ich den Brief bekam. Es war einer dieser Tage, die sich nicht entscheiden können, ob sie der Sonne eine Chance geben wollen. Es war der Tag, der mein Leben auf den Kopf stellte.

 

Der Brief kam in einem dieser unscheinbaren blassweißen Umschläge, die es im Zwanzigerpack in jeder Postfiliale gibt. Versehen mit einer handgeschriebenen Adresse, der ich eigentlich keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Ich tat es dennoch, denn: Es war die falsche. Auf dem Brief stand:


Marie Kluge

15 Rue Visconti

75006 Paris

France


Ich lachte. Sollte das ein Scherz sein? Ich hatte noch nie in meinem Leben in Paris gewohnt und konnte mich nur schemenhaft an die Stadt erinnern, die ich in Kindheitstagen mal mit meinen Eltern besucht hatte. Vielleicht war ich gar nicht gemeint. So ungewöhnlich war mein Name nicht, dass es nicht auch eine Namensvetterin geben konnte, die zufällig nach Frankreich ausgewandert war. Aber wie kam der Postbote dann auf meine Adresse in Hamburg? Ich drehte den Brief um. Absenderin war Christine Hausmann. Christine Hausmann, hmm.

Es dauerte einen Moment, bis ich mich an eine alte Jugendfreundin erinnerte, die ich seit bestimmt fünfzehn Jahren nicht mehr getroffen hatte. Konnte das sein? Laut Absender wohnte sie nun in Berlin. Die Briefmarke zeigte den Berliner Gendarmenmarkt, der Poststempel ließ sich nicht entziffern.

Noch immer leicht belustigt ging ich in die Küche. Dort öffnete ich den Brief gegen meine Gewohnheit nicht mit den Fingern, sondern fein säuberlich mit einem Messer. Ich zog einen weißen Bogen heraus, dessen Ränder mit schlichten Ornamenten verziert waren, faltete ihn auseinander und begann zu lesen. Und mit jeder Zeile, jedem Satz und jedem Wort, das ich las, entfernte ich mich unmerklich aus einem Leben, das ich bisher als normal empfunden hatte. In dem Brief stand:


Liebe Marie,

 

jetzt haben wir schon so lange nichts mehr voneinander gehört. Aber Du weißt ja, wie das ist: Der Job, die Familie, die vielen kleinen und großen Verpflichtungen und, schwupps, ist schon wieder ein halbes Jahr rum. Wie geht es Dir und Victor? Habt ihr euch von dem Vorfall erholt? Ich bewundere Deine Stärke. Wie oft habe ich während der schweren Zeit daran gedacht, wie wir als Kinder in dem kleinen Wald hinter der Scheune gespielt haben. Kannst Du Dich noch an unser Versteck erinnern? Ich wette, unsere Kreidezeichnungen sind dort noch heute irgendwo.

Oje, ich will gar nicht so nostalgisch werden. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ab Mitte dreißig die Uhren wieder rückwärts laufen. Vor allem, wenn man Kinder hat. Paul und Amelie sind zwei echte Goldstücke. Amelie läuft jetzt seit ein paar Monaten und Paul ist so ein schlaues Kerlchen, dass wir ihn wahrscheinlich dieses Jahr schon einschulen werden. Keine Ahnung, von wem er das hat.

Wie geht es Dir in Paris? Was für eine schöne Stadt! Wie laufen die Ausstellungen? Ach je, wir müssen uns einfach wieder treffen.

Komm doch mal nach Berlin - wir würden uns freuen!

 

Alles Liebe + Umarmung

Deine Christine

 

PS: Ich soll Dich von Yvonne grüßen. Sie ist mir durch Zufall über den Weg gelaufen, als ich meine Eltern besucht habe.


Mein Mund war trocken. Ich schluckte. Das war nicht mehr lustig. Weil alles in dem Brief auf seltsame Weise vertraut und doch komplett verkehrt war. Christine und ich waren Sandkastenfreundinnen gewesen, wir hatten die Schulzeit miteinander verbracht. Aber danach war der Kontakt vollständig abgebrochen. Ich wusste nur eines ganz sicher: dass sie nicht in Berlin wohnte, sondern immer noch in unserem Heimatdorf in Niedersachsen. Meine Mutter hatte mir mal erzählt, dass sie geheiratet und einen kleinen Jungen bekommen hatte. Von einem Mädchen wusste ich nichts. Was meinte sie mit »Vorfall« und »schwerer Zeit«? Welche Ausstellungen in Paris? Ich arbeitete als freie Journalistin in Hamburg. Und wer zum Teufel war Victor? Ob sie sich einen schlechten Scherz erlaubte? Andererseits: Warum sollte sie? Aber das Allerschlimmste war, und das jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken: Yvonne war seit drei Jahren tot. Bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich hatte damals noch mit dem Gedanken gespielt, zur Beerdigung zu fahren.

Was war hier los?

Ich hörte, wie die Wohnungstür geschlossen wurde, und Johanna kam in die Küche. Die Frau, die ich seit zwei Jahren liebte und mit der ich seit einem Jahr zusammenwohnte, schaute mich erstaunt an.

»Wie siehst du denn aus? Du bist ja ganz blass. Geht s dir nicht gut?«

Ich weiß nicht, warum ich ihr nichts von dem Brief erzählte. Irgendetwas war so komplett verkehrt, dass ich mich einfach nicht in der Lage dazu fühlte. Mehr noch: Es machte mir Angst. Ich murmelte etwas von Kreislauf und Unterzuckerung und Johanna fragte nicht weiter nach. Warf aber einen skeptischen Seitenblick auf den Umschlag, den ich in den Händen hielt. Dann plauderte sie in ihrer fröhlichen Art vor sich hin, erzählte von einem neuen Bauprojekt und dem Klatsch und Tratsch aus dem Büro.

Johanna war Architektin. Ich hatte sie vor gut zwei Jahren bei einem Interview kennengelernt. Es ging um das Thema »Coming-out am Arbeitsplatz«, das ich für eine kleine Tageszeitung recherchieren sollte. Eigentlich kein typischer Stoff für ihre eher konservative Leserschaft, aber es passte zur aktuellen politischen Debatte. Bis auf eine unschuldige Schwärmerei während der Pubertät hatte ich mich mit dem Thema »Homosexualität« nie beschäftigt. Von Stefan, meinem letzten Freund, hatte ich mich gerade erst getrennt und genoss neben all dem Trennungsschmerz die neu gewonnene Freiheit. Johanna nahm sie mir in nur drei Sätzen. Sie sagte: »Ich liebe Frauen. Ich liebe die Art, wie sie reden, wie sie riechen und wie sie sich anfühlen. Hast du schon mal eine Frau geküsst?« Sie hatte Grübchen und einen schiefen Schneidezahn. Ich tat es noch am selben Abend.

Den Rest des Tages verbrachte ich in einer tiefen Unruhe. Johanna bemerkte es, sagte aber nichts. Das war so ihre Art. Abwarten und Ruhe bewahren, bis man von allein mit dem Problem herausrückte. Wenn ich wütend auf sie war, brachte mich das zur Weißglut, jetzt war ich eigentlich ganz froh darüber. Weil ich einfach nicht wusste, wie ich mich verhalten sollte. Den Brief zerreißen und unter »du musst nicht alles im Leben erklären können« abspeichern? Oder der Sache nachgehen? Davor gruselte es mir. Gegen Abend beschloss ich, meine Mutter anzurufen.

»Schätzchen, wie geht es dir?«, begrüßte sie mich. So würde sie mich wahrscheinlich in zwanzig Jahren noch nennen. Es tat gut, die vertraute Stimme zu hören. Ich versuchte, ganz unbefangen zu plaudern, über den Job, die Freizeitpläne, das Wetter. »Was ist los?«, fragte sie unvermittelt.

Ich war eine schlechte Schauspielerin. Oder einfach zu aufgewühlt. Ich schluckte und fragte sie, ob sie in der letzten Zeit etwas von Christine gehört habe.

»Du meinst deine alte Schulfreundin Christine? Ab und zu laufen wir uns mal über den Weg. Manchmal hat sie den Kleinen dabei, der jetzt auch mittlerweile - lass mich überlegen - vielleicht fünf Jahre alt sein müsste. Warum?«

»Weißt du, ob sie noch ein anderes Kind hat, vielleicht eine Tochter?«

»Nein, das hätte ich sicherlich mitbekommen. Wie kommst du darauf?«

»Das kann ich gerade schlecht erklären«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Habt ihr mal über mich geredet?«, fragte ich weiter.

»Na ja, du weißt ja, wie das ist, man grüßt sich, plaudert vielleicht kurz übers Wetter und dann geht wieder jeder seiner Wege. Ab und zu fragt Christine nach dir. Ich habe ihr erzählt, dass du als Journalistin in Hamburg arbeitest - das hat sie gefreut.«

Das Gespräch mit meiner Mutter brachte keine neuen Erkenntnisse. Und keinerlei Anhaltspunkte, warum mir Christine so einen Brief schreiben sollte. Mir fiel ein, dass ich mit ihr auf Facebook verlinkt war, und ich beschloss, ihr Profil zu durchstöbern.

Nachdem ich mich eine halbe Stunde durch Babyfotos und belanglose Einträge gewühlt hatte, war ich immer noch nicht weiter. Es gab viel über den kleinen Paul, aber eine Tochter namens Amelie wurde an keiner Stelle erwähnt. Nur eine Sache machte mich stutzig: Vor ziemlich genau zwei Jahren war der rege Strom an Einträgen für zwei bis drei Monate unterbrochen. In dieser Zeit hatte sie auf ihrem Profil nur ein Lied gepostet: »La valse d Amélie«. Kommentarlos.

Gedankenverloren starrte ich auf den Bildschirm, während ich dem melancholischen Klavierstück lauschte. Plötzlich schreckte ich auf, weil ich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Johanna stand hinter mir. Sie musste dort schon eine Weile gestanden haben, ohne dass ich sie bemerkt hatte.

Sie schaute mich fragend an. »Willst du mir jetzt erzählen, was los ist?«

Nach kurzem Zögern holte ich den Brief hervor, den ich in meine Schreibtischschublade gelegt hatte. Wortlos drückte ich ihn ihr in die Hand. Sie schaute mich kurz an, entfaltete ihn und begann zu lesen. Dann las sie ihn noch mal und drehte den Briefumschlag zu sich herum, der adressiert war an:


Marie Kluge

15 Rue Visconti

75006 Paris

France


Ich kannte die Anschrift mittlerweile auswendig.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte Johanna mich.

»Wenn ich das wüsste«, antwortete ich, »würde ich hier nicht so sitzen.«

»Wer ist Christine?«

»Eine alte...
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