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Großer Bruder Zorn

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
396 Seiten
Deutsch
Eichbornerschienen am11.03.20161. Aufl. 2016
Box-Promoter Aris braucht den Befreiungsschlag gegen die drohende Insolvenz und organisiert einen letzten großen Kampfabend. Jessi vom Netto will ein besseres Leben für ihre kleine Tochter und muss sich ihrer Vergangenheit stellen. Und Serdar aus dem Späti denkt an nichts anderes als an einen Knockout am Freitag.

Eine Woche im Weddinger Kiez, jeder hat seine eigenen Pläne und eine andere Herkunft, aber alle haben dieselbe Heimat. Die Wege der Protagonisten irrlichtern jeden Tag schneller umeinander, bis sie bei der großen Fight Night schließlich aufeinanderprallen.

Ein Plot, der in die Sitze presst, Typen wie das echte Leben, ein unverwechselbarer Sound.


Johannes Ehrmann, geboren 1983, arbeitet als freier Journalist und Autor in Berlin. Sein Debütroman Großer Bruder Zorn (Eichborn 2016) war für den Klaus-Michael-Kühne-Preis nominiert. 2017 erschien Die Winzigkeit des Glücks, ein literarischer Brief des Autors an seine Zwillingstöchter.
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Produkt

KlappentextBox-Promoter Aris braucht den Befreiungsschlag gegen die drohende Insolvenz und organisiert einen letzten großen Kampfabend. Jessi vom Netto will ein besseres Leben für ihre kleine Tochter und muss sich ihrer Vergangenheit stellen. Und Serdar aus dem Späti denkt an nichts anderes als an einen Knockout am Freitag.

Eine Woche im Weddinger Kiez, jeder hat seine eigenen Pläne und eine andere Herkunft, aber alle haben dieselbe Heimat. Die Wege der Protagonisten irrlichtern jeden Tag schneller umeinander, bis sie bei der großen Fight Night schließlich aufeinanderprallen.

Ein Plot, der in die Sitze presst, Typen wie das echte Leben, ein unverwechselbarer Sound.


Johannes Ehrmann, geboren 1983, arbeitet als freier Journalist und Autor in Berlin. Sein Debütroman Großer Bruder Zorn (Eichborn 2016) war für den Klaus-Michael-Kühne-Preis nominiert. 2017 erschien Die Winzigkeit des Glücks, ein literarischer Brief des Autors an seine Zwillingstöchter.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783732523627
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Verlag
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum11.03.2016
Auflage1. Aufl. 2016
Seiten396 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2193051
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

17

Du trinkst auch einen, oder?

Ja.

Ich mach einen starken.

Jessi löffelt Pulver in den Filter, bis er halbvoll ist. Krönung, die grüne Packung, 4,49 im Angebot. Jessi lässt Wasser in die Kanne laufen und gießt es hinten in die Maschine.

Mutti sitzt am Küchentisch und raucht West.

Groß ist Jessis Küche nicht. Da bist du im Grunde in drei Schritten schon einmal durch, also, in drei so mittelgroßen Schritten. Quer schaffst du nicht mal zwei. Viel passt hier nicht rein. An der einen Längsseite die Pressholzschränke und die Arbeitsplatte, vor dem Fenster ein schmaler Tisch, das war´s auch schon. Damit ist die kleine Neubau-Küche so ziemlich vollgestellt. Aber gut, sie sind ja auch nur zu zweit.

Jessi startet die Kaffeemaschine und schnappt sich eine West vom Tisch. Sie raucht kaum noch, eigentlich gar nicht mehr, wegen Line und der Gesundheit und dem Erwachsenwerden und überhaupt. Aber jetzt macht sie sich auch eine an.

Eine zum Runterkommen.

Jessi hört das Feuerzeug ratschen, zweimal, dreimal, sie sieht die wacklige Flamme vor ihrer Nase und dahinter das Profil der Mutter, ihr ewigbraunes Gesicht mit den hundert Falten, die sie immer noch versucht zu überschminken, ihre straff zurückgebundenen Wasserstoffhaare, den dünnen Hals.

Mutti raucht und guckt angestrengt aus dem Fenster. Groß zu sehen gibt´s da eigentlich nichts.

Nichts außer der Hauswand gegenüber, hellgrauer Putz und ein paar Fenster mit Rüschenvorhängen, kleine Fenster mit schmalen Bänken drunter, an deren Enden der Regen dunkle Streifen in die Hauswand gewaschen hat.

Traurige Münder, findet Jessi, das sind die Fensterbänke.

Sie nimmt einen Zug von ihrer Zigarette, spürt das Kratzen im Hals und pustet den Rauch durch den Mundwinkel hoch Richtung Decke. Sie guckt rüber zu Mutti, die hinter dem Qualm ihrer West am Tisch sitzt und aus dem Fenster guckt, als ob gar nichts wäre, aber natürlich ist was.

Mutti wartet auf eine Erklärung. Schon klar. Da muss sie jetzt gar nichts groß sagen. Sie wartet auf eine Erklärung für eben.

Eine Erklärung für Jessis Blick. Für Jessis Blick eben beim Reinkommen.

Jessi überlegt.

Was kannst du sagen?

Ganz vergessen, dass heute Dienstag ist, ganz vergessen, dass wir heute hier verabredet waren, die vielen Schichten, Line, du weißt ja, wie das ist. Das alles kannst du sagen und noch mehr, ja, sorry, du hattest es einfach kurz nicht auf dem Schirm, das mit dem Zweitschlüssel, ja, mein Gott, wenn du ganz in Gedanken bist, da kannst du dich ja schon mal erschrecken, oder nicht?

Ja, so könntest du es probieren. Aber ganz ehrlich. Wem willst du hier eigentlich was vormachen?

Okay, mal angenommen. Nur mal angenommen, es wäre bloß der Blick gewesen, Jessis Blick, als sie eben in ihre Wohnung gekommen ist. Sie hat ihn ja selbst nicht sehen können, aber dem ist das Entsetzen sicher schon so ziemlich anzusehen gewesen, dem Blick, und zwar mehr noch das Entsetzen darüber, DASS da jemand an der Spüle stand. Weil es ja eh ein paar Sekunden gedauert hat, bevor sie überhaupt gecheckt hat, WER da eigentlich an der Spüle stand, Schwamm und Teller in der Hand, Schaum an den Plastikhandschuhen. Aber wer hätte es auch sonst sein sollen, mal im Ernst?

Wer bitte schön sonst?

Selbst mal angenommen, es wäre nur der Blick gewesen und nichts weiter, ändern würde das gar nichts, die Frau kümmert sich x-mal die Woche um deine Tochter, die geht hier ein und aus, ihr wart einwandfrei verabredet und selbst wenn nicht, selbst wenn du deine Mutter bei dir zu Hause in der Küche stehen siehst, dann wirst du normal nicht zu Hui Buh. Da macht dein Gesicht in der Regel nicht einen auf Leichentuch.

Und den Zitterich wie ein Fixer auf Turkey kriegst du da schon mal gar nicht.

Also lass den Blödsinn weg. Sag ihr, wie´s ist.

Jessi drückt ihre Kippe aus und guckt zu Mutti rüber.

Ich hab ihn gesehen.

Ihre Mutter dreht den Kopf und guckt sie an.

Gestern, sagt Jessi. Ich hab ihn gestern gesehen, nach der Arbeit, am U-Bahnhof. Glaub ich.

Mutti nimmt einen Zug.

Also, das heißt, ich bin mir sicher. Es war seine Kappe. Weißt du? Die, die er immer aufhat. Sein dummes weißes Basecap.

Die Mutter dreht sich wieder zum Fenster. Sie raucht mit zusammengekniffenen Augen.

Ich bin mir sicher, Mutti, ich bin mir echt sicher. Also. So ziemlich.

Jessi versucht, im Gesicht der Mutter eine Reaktion zu erkennen. Aber da ist nichts. Sie sitzt da und raucht, wie sie immer raucht, in tiefen, langen Zügen, sie bläst den blauen Westqualm schräg nach oben weg und scheint über irgendwas nachzudenken.

Wobei, eigentlich, sagt Jessi, eigentlich weiß ich´s auch nicht. Ich meine, kann irgendwie nicht sein, oder? Kann er doch eigentlich gar nicht gewesen sein. Oder?

Die Mutter drückt ihre Kippe im Ascher aus und angelt sich eine neue aus der Packung. Sie nimmt das Feuerzeug vom Tisch und guckt wieder raus ins Grau des Tages. Der Kaffee blubbert hinter Jessis Rücken durch den Filter.

Kann er doch nicht sein, sagt Jessi ein bisschen lauter. Hörst du? Der sitzt doch noch. Mutti?

Na ja, sagt die Mutter und pustet eine Rauchwolke bis zur Spüle rüber.

Was na ja?

Na ja, sagt die Mutter noch mal. Der ist draußen.

Der Boden bewegt sich. Jessi hört das Kaffeeblubbern hinter sich, es wird lauter. Alles wird lauter. Sie tastet mit der Hand nach der Kante der Arbeitsplatte.

Ja, sagt die Mutter ruhig, der ist wieder draußen. Tagsüber jedenfalls. Hat Freigang. Seit Juni.

Jessi starrt die Mutter an.

Jetzt spring mir nicht gleich an den Hals.

Jessi umkrallt die Arbeitsplatte. Sie nimmt einen tiefen Zug. Sie muss husten.

Die Mutter klemmt ihre Kippe in den Ascher. Sie steht auf, geht an Jessi vorbei und holt zwei Tassen aus dem Geschirrschrank.

Ja, na ja, sagt sie. Ist so. Gute Führung. Hat mir Dieter neulich erzählt.

Dieter. Muttis Bekannter bei der Bullerei. Also, Bekannter. Ihr Ex. Ihr Immer-mal-wieder. Wie auch immer. Egal.

Ah ja, schön, sagt Jessi. Dieter. Neulich. Und wann wolltest du MIR das mal sagen?

Jessi drückt ihre Zigarette aus und wirft der Mutter einen bösen Blick zu. Wie sie das hasst. Dieses Gehabe. Diesen Mutterblick. Diesen Ach-Kindchen-Blick. Dieses Ich-weiß-eh-was-am-besten-für-dich-ist-Getue. Jessi merkt, dass sie kurz davor ist, rumzubrüllen.

Warum, hört sie die Mutter sagen, warum hätte ich es dir denn sagen sollen? Du siehst doch, was dann passiert.

Und das sagt sie jetzt in einem Ton, der so richtig zu ihrem Blick passt. In so einem betont beruhigenden, auch ein bisschen herablassenden Ton, so einem richtig beschissenen MUTTERTON. Als wäre Jessi wieder fünf, als wäre sie so alt wie Line und hätte gerade gefragt, warum Erwachsene rauchen dürfen und Kindergartenkinder nicht.

Er ist tagsüber draußen, das schon, sagt die Mutter und nimmt die Kaffeekanne aus der Maschine. Aber das kann er nicht gewesen sein.

Aha, na fein. Und woher willst DU das so genau wissen?

Er weiß doch gar nicht, wo ihr wohnt. Er weiß nicht, wo du arbeitest. Und auch nicht, wo ...

Jessis Mutter spricht den Satz nicht zu Ende, aber Jessi weiß auch so, wie er weitergeht.

Wo Lines Kita ist.

Ah ja. Das weiß er alles nicht, sagt Jessi. Weil du das so vermutest. Und wenn doch? Was wenn DOCH?

Jessis Mutter schüttelt den Kopf, schmeißt zwei Stückchen Zucker in jede der beiden Tassen und gießt ein.

Wie soll er das gemacht haben?

Keine Ahnung, sagt Jessi, woher soll ich das wissen? Und wenn er es irgendwie von irgendwoher mitbekommen hat? Wenn er mich auf der Straße gesehen hat, auf dem Weg zur Arbeit, in der U-Bahn, ein blöder Zufall, ein blöder Scheiß-Zufall, die Stadt ist groß, aber so groß jetzt auch wieder nicht!

Ach was, sagt die Mutter, nimmt ihre halb gerauchte Kippe aus dem Aschenbecher und rührt in ihrem Kaffee.

Jessi guckt raus in den Flur. Sie sieht die Garderobenhaken mit ihrem grauen Kapuzenpulli und darunter halb verdeckt Lines hellgrüne Regenjacke. Man sieht sie kaum unter dem Pulli, so klein.

Was wenn doch, denkt Jessi. Was dann?

Trink einen Schluck.

Die Mutter schiebt Jessi die Kaffeetasse hin.

Jessi schnappt sich die Tasse vom Tisch und nimmt einen kleinen Schluck. Stark. Stark und süß.

Tja. Was wenn doch?

Was dann?

Jessi denkt an Lines Regenjacke draußen im Flur, die winzige Regenjacke mit der Schildkröte vorne drauf, sie denkt an Line und ihr neues Leben zu zweit, an den Tag, als sie die Kleine auf den Arm genommen, die Tür zum Treppenhaus aufgemacht und nicht mehr zurückgeschaut hat.

Jessi spürt, wie der heiße Kaffee das Kratzen im Hals wegspült, sie denkt an Line und an ihre drei Leben, das vor Line und das nach ihm und das dazwischen, sie denkt an den Freitagabend, als sie raus ist ins Treppenhaus, den Atem der Kleinen im Ohr, und dann merkt sie, dass sie die ganze Zeit auch an jemand anderen denkt.

Und sie fragt sich, was er gerade macht und ob sie ihn noch mal zu Gesicht bekommt, und sie hofft, dass es das nicht schon gewesen ist, das kann ja nicht alles gewesen sein, die seltsame Nummer an der Kasse gestern.

Aber das erzählt sie Mutti jetzt mal lieber nicht.

Da schwirrt der eine Schläger irgendwo da draußen rum, mit wer weiß was für Absichten, und seine waren...

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