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Der weiße Freitag

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
251 Seiten
Deutsch
Beck C. H.erschienen am23.02.20171. Auflage
Goethes zweite Schweizer Reise 1779 hätte gut die letzte des damals Dreißigjährigen sein können, und der 'Werther' sein einziges bekanntes Werk. Denn das Risiko einer neunstündigen Fußwanderung über die Furka im November durch Neuschnee war unberechenbar. Aber der frisch ernannte Geheimrat hatte es auf den kürzesten Weg zu seinem heiligen Berg, dem Gotthard, abgesehen, seinen acht Jahre jüngeren Landesfürsten Carl August mitgenommen und alle Warnungen in den Wind geschlagen. Adolf Muschg liest diesen 12. November, den 'weißen Freitag', die Wette Goethes mit seinem Schicksal, als Gegenstück zu Fausts Teufelswette und zugleich als Kommentar zum eigenen Fall eines gealterten Mannes, der mit einer Krebsdiagnose konfrontiert ist. Als Zeitgenosse weltweiter Flucht und Vertreibung und einer immer dichteren elektronischen Verwaltung des Lebens findet er gute Gründe, nach Vorhersagen, Warnungen und Versprechen in einer Geschichte zu suchen, die gar nicht vergangen ist. Sie handelt vom Umgang mit dem Risiko, dem auch der noch so zivilisierte Mensch ausgesetzt ist, weil er es als Naturgeschöpf mit Kräften zu tun hat, die er nicht beherrschen kann. Muschg hat mit dieser Doppelbelichtung zweier Reisen sein persönlichstes Buch geschrieben und sich ihrem bei aller Verschiedenheit gemeinsamen Grund genähert, den man nur im Erzählen ahnt - mit immer noch offenem Ende und doch im Wissen um die Endlichkeit, die nicht zu überschreiten ist.


Adolf Muschg, geboren 1934 in Zürich, war u. a. von 1970 - 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und von 2003 - 2006 Präsident der Akademie der Künste Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane "Im Sommer des Hasen" (1965), "Albissers Grund" (1977), "Das Licht und der Schlüssel" (1984), "Der Rote Ritter"(1993), "Sutters Glück" (2004), "Eikan, du bist spät" (2005) und "Kinderhochzeit" (2008) wurde mit zahlreichen Preisen ausge­ zeichnet, darunter der Hermann-Hesse-Preis, der Georg-Büchner-Preis, der Grimmelshausen-Preis und zuletzt der Grand Prix de Littérature der Schweiz.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextGoethes zweite Schweizer Reise 1779 hätte gut die letzte des damals Dreißigjährigen sein können, und der 'Werther' sein einziges bekanntes Werk. Denn das Risiko einer neunstündigen Fußwanderung über die Furka im November durch Neuschnee war unberechenbar. Aber der frisch ernannte Geheimrat hatte es auf den kürzesten Weg zu seinem heiligen Berg, dem Gotthard, abgesehen, seinen acht Jahre jüngeren Landesfürsten Carl August mitgenommen und alle Warnungen in den Wind geschlagen. Adolf Muschg liest diesen 12. November, den 'weißen Freitag', die Wette Goethes mit seinem Schicksal, als Gegenstück zu Fausts Teufelswette und zugleich als Kommentar zum eigenen Fall eines gealterten Mannes, der mit einer Krebsdiagnose konfrontiert ist. Als Zeitgenosse weltweiter Flucht und Vertreibung und einer immer dichteren elektronischen Verwaltung des Lebens findet er gute Gründe, nach Vorhersagen, Warnungen und Versprechen in einer Geschichte zu suchen, die gar nicht vergangen ist. Sie handelt vom Umgang mit dem Risiko, dem auch der noch so zivilisierte Mensch ausgesetzt ist, weil er es als Naturgeschöpf mit Kräften zu tun hat, die er nicht beherrschen kann. Muschg hat mit dieser Doppelbelichtung zweier Reisen sein persönlichstes Buch geschrieben und sich ihrem bei aller Verschiedenheit gemeinsamen Grund genähert, den man nur im Erzählen ahnt - mit immer noch offenem Ende und doch im Wissen um die Endlichkeit, die nicht zu überschreiten ist.


Adolf Muschg, geboren 1934 in Zürich, war u. a. von 1970 - 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und von 2003 - 2006 Präsident der Akademie der Künste Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane "Im Sommer des Hasen" (1965), "Albissers Grund" (1977), "Das Licht und der Schlüssel" (1984), "Der Rote Ritter"(1993), "Sutters Glück" (2004), "Eikan, du bist spät" (2005) und "Kinderhochzeit" (2008) wurde mit zahlreichen Preisen ausge­ zeichnet, darunter der Hermann-Hesse-Preis, der Georg-Büchner-Preis, der Grimmelshausen-Preis und zuletzt der Grand Prix de Littérature der Schweiz.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783406706226
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum23.02.2017
Auflage1. Auflage
Seiten251 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2213280
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Und wie weiter?  wollte der Graf nun doch wissen. Die nahe Geisterstunde kam gerade recht für die Fortsetzung von Wedels Bericht.

Nun denn: Weber blieb mit dem Rücken zum Fenster stehen und perorierte dabei ununterbrochen, denn der Lauscher glaubte seinen Bariton bis in den Hof hinaus zu hören. Aber er war nicht der Mann aufzugeben, bevor das Rätsel gelöst war, und Kätter verschaffte ihm Gelegenheit dazu, als sie für Wedels kranken Johann leihweise einsprang. Die Stallmeisterin war mit ihr gerade sehr unzufrieden, dachte sogar daran, sie auf ihren Bauernhof zurückzuschicken. Die nervöse Natur brauchte zwar eine Magd, welche die saumäßigen Spuren der Ehepflicht wieder aufräumte, verübelte ihr aber zugleich, daß das arme Kind als Zeugin für Vorgänge gelten mußte, deren Verbreitung unter Dienstboten sie nicht wünschte, weil das Gerede danach unaufhaltsam auch in die oberen Etagen dringt. Dieser Argwohn war, wie Kätter schluchzend versicherte, ganz unberechtigt, und auch jetzt redete sie nur, weil sie einen Menschen brauchte, dem sie ihr Leid klagen konnte.

Dieser Mensch war Wedel, ihr Dienstherr leihweise, und sie schien gar nicht zu bemerken, daß sie gerade ihr Gelübde brach, während er ihr tröstend zusprach und gar den Arm um sie legte, um ihre Tränen zu trocknen. Da kam es, wie es kommen mußte, denn natürlich war das Mädchen keine heilige Unschuld und hatte beim naturnahen Treiben auf dem Bauernhof nicht nur zugesehen. Wedel trocknete immer noch, und bald schon wieder, ihre Tränen, als er seine eigenen Säfte nicht länger hatte zurückhalten können. Dabei galt es auch noch mäuschenstill zu sein, damit Wedel mit einem Ohr gewissermaßen im Unterstock verweilen konnte, wo Webers Stimme aber keinen Augenblick innehielt und in hohem, gewissermaßen geistlichen Ton immer fort orgelte, ohne daß die Worte zu verstehen waren. Danach steckte Wedel dem aufgelösten Kind einen Taler zu, womit der Spaß bei weitem überzahlt war, jedoch das Versprechen einschloß, morgen nach dem Dienst bei ihrem Frauenzimmer auch bei ihm wieder zum Rechten zu sehen. Auch für Kätter war es angenehmer, geherzt als geschlagen zu werden - denn das hatte die feine Stallmeisterin wirklich getan! -, als Kätter ihren Ansprüchen nicht genügt und auch noch das ganze schöne Puder verschüttet hatte. Und Wedel tat wieder sein Bestes, das Kind mit seinem ungerechten Schicksal zu versöhnen.

Seit wann wurde Kätter auch als Putzmacherin der Frau benötigt? Seit ihr der Geheime Rat seine abendliche Aufwartung machte; dafür konnte sie gar nicht schön genug sein, während sie - welcher Zufall! - den Schutz ihres Eheherrn entbehrte. Er wurde gerade zur Führung eines launischen Zuchthengstes in Eisenach benötigt, da mußte die eigene eheliche Pflicht wohl oder übel zurücktreten, und Kätter fand ihre Herrschaft in dieser Zeit nicht weniger nervös, aber zugleich hochgestimmt und bisweilen sogar nachsichtig. Wenn der Besuch die Klingel zog, dreimal kurz, wie verabredet, wurde Kätter allerdings nicht mehr benötigt und frei zu ihrem Dienst für den Herrn im Oberstock. Es mußte eine stumme Messe bleiben, zu der Weber im Untergeschoß sein bewegtes, doch unverständliches Te deum lieferte, während Wedel seinen Atem anhielt und der Kätter den Mund verschloß, wenn sie dem ihren zu jammervoll den Lauf lassen wollte.

Dafür fand sie sich so reichlich belohnt, daß sie auch zu einem weiteren Dienst bereit war. Er bat sie also, sich in der Steinschen Wohnung zu verstecken und diskret, aber genau in Erfahrung zu bringen, was die Herrschaften miteinander denn so trieben. Und es bedurfte nur eines kleinen Zuschusses, daß die Gute, wenn auch mit Zittern und Zagen, das Mögliche zu tun versprach.

Auch im stallmeisterlichen Haus gibt es keine Wand ohne Ohren, will sagen: Astlöcher, durch die man sich zur Augenzeugin des in ihrem Schutz Vorgehenden machen kann. Aber Wedel mußte zwei geschlagene Stunden warten, bevor er draußen einen Mann sich entfernen hörte, mit dem wohlbekannten Wandererschritt, und noch länger, bevor die Spionin bei ihm einschlüpfte und ihm flüstern konnte, was sie gesehen hatte: nichts. So gut wie nichts. Eigentlich nicht der Rede wert, bis auf eine Einzelheit, die sie - auf peinliche Befragung - errötend nachlieferte.

Ein Misel  war sie wahrlich nicht, die Frau Stallmeisterin.

Von diesem Wort muß man wissen, daß es - für Weimarer Gespräche unter Männern - eine hohe Exklusivität besaß. Eigentlich durften es nur der Graf und Weber in den Mund nehmen. An diesen elsässischen «Mäuschen» hängt das Parfum französischer Désinvolture, zugleich die Unschuld des Hirtenkindes, die man ihm nicht geraubt haben will, wenn man sie ihm abgewinnt. Man will s decken, das süße Lamm, aber die rechte Lust verlangt ihrerseits die Deckung einer großen Erzählung, am liebsten einer mythologischen, und vom Entgegenkommen des Misel die Miene holder Verschämtheit. (Hold will sagen: «geneigt», wie in «Halde» oder den «holden Schwänen» mit ihrem sich neigenden Hals.) Carl Augusts erotische Souveränität ist ein Grund mehr, warum er in Goethes Tagebuch unter dem Zeichen Jupiters erscheint, auch wenn er für einen höchsten Gott noch reichlich jung ist - wenigstens spielen muß er ihn können, und zu einer kostspieligen Tragödie darf es nicht kommen. Ein Tripper geht in den Kauf, mit dem Carl August, gerade aus Paris zurück, ausgerechnet zu seiner Verlobung mit Louise angetreten war. Aber noch tauscht er sich mit Goethe nicht über Sexualia aus - das bleibt der Zeit vorbehalten, wo er sicher sein kann, daß der Freund auch selbst weiß, wovon er spricht, und dazu bedurfte er der Nächte Italiens. Danach erst rühren sie auch unverblümt an Dinge, vor denen sich ein Mann wirklich zu hüten hat - wg. Hygiene und Prävention.

Um so strenger bleiben die Grenzen, die eine Dame beachten muß - jedenfalls, was ihren Ruf betrifft. Auch wenn sie als Verheiratete von ihrer Verletzung anderes zu befürchten hat als eine Ledige: In der Furcht des Herrn muß sie immer leben, und die will gepflegt sein, denn sie kommt, als zarte Garantie, einer vorteilhaften Heirat zugute, aber nicht minder einer glücklichen Ehe. Darin haftet die Frau auch für das Glück des Mannes und stellt dafür das eigene zurück. Gerade bei einer fürstlichen Ehe, auch wenn sie in allen Fugen ächzt, sorgt die Frau dafür, daß ihre Schauseite ohne sichtbare Risse bleibt; mag hinter der Fassade geschehen, was will, das heißt, was der Mann, gewollt oder ungewollt, nicht entbehren kann. Selbst wenn es der Frau nicht mehr gelingt, ihn über sein Männerschicksal zu trösten; selbst wenn er es gar müde werden sollte, sich von ihr trösten zu lassen - daß sie sich selbst anders tröstet, ist nicht vorgesehen, es wäre unwürdig und würde auch von Verständnisvollen so und nicht anders vermerkt. Was die Fassade betrifft, bleibt sie die Verbündete ihres Mannes, denn sie muß wissen, daß auch er mit dieser Fassade steht und fällt. Er kann gründlich fallen, zuerst in der Achtung seiner Untertanen, am Ende gar von der Macht. In diesem Fall könnte er nicht einmal mehr eine Ehefrau standesgemäß versorgen, und wäre sie ihm noch so treu gewesen.

Nach dem Bilde  Aber nun endlich heraus damit: Was hat die Kätter, hinter der Tür des Steinschen Salons, nun wirklich belauscht?

Nun also: Der Herr Rat war eingetreten und hatte sich vor der Dame verbeugt, die von ihrem Sekretär aufgestanden war, um ihm die Hand zum Kuß zu reichen. Dann hatte sie sich wieder gesetzt und das Buch - wahrhaftig, die Bibel! - an einer bestimmten Stelle aufgeschlagen, um sich in das Bild vor ihren Augen zu vertiefen; welches, hatte Kätter nicht zu erkennen vermocht. Dann aber war der Herr Rat ans Fenster getreten, hatte ihm den Rücken gedreht und - nach längerem Schweigen - zu erzählen begonnen, und zwar eine Geschichte, die Kätter auch schon gehört hatte - lesen kann sie nicht, doch zur Predigt geht sie regelmäßig -, aber so noch nie.

Es war die Geschichte des Knaben Joseph im Hause Potiphars, des Obersten der Leibwache, und der Herr Rat beschrieb mit bewegter Stimme alle Pflichten, die Joseph darin versehen hatte, zu denen auch diejenige des Garderobiers gehörte. Kätter verschluckte sich an dem fremden Wort, aber es war ihr klar, daß es um Kleider ging. Und siehe, es waren gerade die Kleider, die der Herr Rat und die Frau Stallmeisterin selbst anhatten; Kätter hatte ihr gerade hineingeholfen. Und dieser Kleider, siehe, begannen sich diese Personen nun zu entledigen, Stück für Stück, mit zärtlicher Sorgfalt, die die Stimme des Rats beben ließ.

Aber...
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Autor

Adolf Muschg, geboren 1934 in Zürich, war u. a. von 1970 - 1999 Professor für deutsche Sprache und Literatur an der ETH in Zürich und von 2003 - 2006 Präsident der Akademie der Künste Berlin. Sein umfangreiches Werk, darunter die Romane "Im Sommer des Hasen" (1965), "Albissers Grund" (1977), "Das Licht und der Schlüssel" (1984), "Der Rote Ritter"(1993), "Sutters Glück" (2004), "Eikan, du bist spät" (2005) und "Kinderhochzeit" (2008) wurde mit zahlreichen Preisen ausge­ zeichnet, darunter der Hermann-Hesse-Preis, der Georg-Büchner-Preis, der Grimmelshausen-Preis und zuletzt der Grand Prix de Littérature der Schweiz.