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Dunkler See der Angst

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
576 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am25.09.2017
Angst verfolgt Marc-Édouard seit seiner Jugend. Wie ein dunkler Schatten hat sie sich auf die Seele des scheuen Geschichtsprofessors aus Toulouse gelegt. Seit jenem Sonntagmorgen vor dreißig Jahren, als seine Welt jäh aus den Fugen geriet. Damals wurden die Leichen von drei Jugendlichen an einem See gefunden. Die Ermittlungen der Polizei verliefen im Sand, der Mörder wurde nie gefunden. Marc-Édouard kannte die Opfer, hatte mit ihnen dieselbe Privatschule besucht. Nun kehrt er zurück an den Ort seiner Kindheit, in die verträumte Kleinstadt im Südwesten Frankreichs. Er will verstehen, was in jener Nacht wirklich geschehen ist, um sich endlich von den Geistern der Vergangenheit zu befreien.

Christian Carayon, 1969 geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Kriminalromane. Er stammt aus dem Südwesten Frankreichs und lebt heute im Loiretal, wo er als Geschichtslehrer tätig ist.
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Produkt

KlappentextAngst verfolgt Marc-Édouard seit seiner Jugend. Wie ein dunkler Schatten hat sie sich auf die Seele des scheuen Geschichtsprofessors aus Toulouse gelegt. Seit jenem Sonntagmorgen vor dreißig Jahren, als seine Welt jäh aus den Fugen geriet. Damals wurden die Leichen von drei Jugendlichen an einem See gefunden. Die Ermittlungen der Polizei verliefen im Sand, der Mörder wurde nie gefunden. Marc-Édouard kannte die Opfer, hatte mit ihnen dieselbe Privatschule besucht. Nun kehrt er zurück an den Ort seiner Kindheit, in die verträumte Kleinstadt im Südwesten Frankreichs. Er will verstehen, was in jener Nacht wirklich geschehen ist, um sich endlich von den Geistern der Vergangenheit zu befreien.

Christian Carayon, 1969 geboren, ist Autor mehrerer preisgekrönter Kriminalromane. Er stammt aus dem Südwesten Frankreichs und lebt heute im Loiretal, wo er als Geschichtslehrer tätig ist.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641202859
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum25.09.2017
Seiten576 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2908 Kbytes
Artikel-Nr.2363453
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1

Angst beherrscht mein Leben. Mir kommt es so vor, als sei sie schon immer da gewesen, seit meinen ersten bewusst erlebten Stunden. Das mag falsch sein, aber selbst wenn ich gründlich nachdenke, fallen mir aus meinen frühen Jahren nur wenige wirklich unbeschwerte Momente ein. Sie wurden ausgelöscht durch einen Schatten, der sich über mich schob und immer schwärzer wurde.

Trotzdem weiß ich, dass es ein Leben davor gab. Ich weiß es, weil ich den Augenblick kenne, in dem meine Welt aus den Fugen geriet: Es war am Sonntag, dem 24. August 1980, kurz vor zehn Uhr am Morgen, als mehrere Männer, vorwiegend Familienväter, dreißig Meter durch das noch nachtkühle Wasser schwammen, die Îlot des Bois-Obscurs erreichten und entdeckten, was ein ganzes Tal, ja ein ganzes Land erschütterte.

Die Vertreter der »Alten Schule« behaupten, Geschichte sei eine Wissenschaft, die keinerlei Raum für Phantasie lassen dürfe. Das sehe ich anders. Ich glaube, dass es ohne Phantasie keine Geschichte gibt. Die Vergangenheit existiert allein deshalb, weil jeder Einzelne sich in sie zurückversetzen kann, und zwar in eine Vergangenheit, wie er sie sieht, empfindet und in seiner Erinnerung wahrnimmt. Wissenschaftliche Erkenntnisse legen zweifellos das Fundament, aber wir sorgen als Architekten für den Rest. Ich habe über Monate hinweg Nachforschungen zu der Tragödie angestellt, doch am Ende hat meine Erfindungsgabe die Lücken geschlossen. Ich habe ihr freien Lauf gelassen, bis jene dunkle Zeit nach mehr als dreißig Jahren in meinem Geist Form annahm. Und mit ihr die Menschen, die sie bevölkerten.

Was ich von jenem sonnigen Sonntagvormittag weiß: Die Sonne schien, und die Morgenluft war erstaunlich mild. Es verhieß ein heißer Tag zu werden. Solche Tage waren seit Jahren eine Seltenheit. Es war, als hätten die Hundstage von 1976 sämtliche Hitzereserven der folgenden Jahre aufgebraucht. Der Sommer 1980 war bislang genauso lausig wie die drei davor. Ende August jedoch hatte er sich entschieden, ein freundlicheres Gesicht zu zeigen und mit richtiger Sonne, einem wolkenlosen Himmel und höheren Temperaturen aufzuwarten, ohne dass sich am späten Nachmittag gleich ein Gewitter entladen hätte.

Der Lac de Basse-Misère heißt heute nur noch in einigen topographischen Karten so und in Fernsehsendungen, die sich auf grausam-düstere Kriminalfälle spezialisiert haben. Man hat den See mittlerweile umbenannt. Fragt man, wo er liegt, tun die Leute so, als wüssten sie nicht, wovon die Rede ist. Der Name ist zu einem Tabu geworden. Er lässt das Blut gefrieren und die Blicke starr, wenn nicht gar böse werden. Der See wurde 1936 zwischen den Ausläufern des Massif Central angestaut, um für das Tal Strom zu erzeugen, und füllt die Schluchten von Font d´Issalès über eine Länge von zehn Kilometern. Heute nennen die Leute ihn Lac de Saint-Pierre oder Lac de Sagne-Claire, je nachdem, von welcher Seite sie kommen.

Saint-Pierre-d´Issalès ist ein kleines Dorf am nördlichen Seeufer. Die wenigen, wie aus dem Nichts kommenden Straßen, die die umliegenden Berge zerfurchen, kreuzen sich dort. Seit den 1960-er Jahren hat das Dorf das touristische Potenzial, das sich ihm nunmehr bot, zu nutzen verstanden und ist, zumindest in der schönen Jahreszeit, zu neuem Leben erwacht. Das Seeufer wurde umgestaltet. Gras- und Sandstrände, Picknickplätze, ein großer schattiger Campingplatz sowie ein Ferienlager wurden angelegt. Entfernt man sich jedoch ein wenig von Saint-Pierre, wird der See wieder ursprünglich. Der Wald scheint sich bis ins Wasser zu ergießen und lässt nur einen schmalen Saum aus Felsen und staubiger Erde als Strand übrig. Hier und da finden sich in einer kleinen Bucht oder auf einem Felsvorsprung einladende Plätzchen. Die Wege durch den Wald enden stets unvermittelt am See, den man vorher nicht sehen, ja, nicht einmal erahnen kann. Er schlängelt sich zwischen den dicht bewachsenen Bergkuppen hindurch und bildet die Form der Schluchten nach, die er sich einverleibt hat. Nähert man sich der Talsperre von Süden her, trifft man auf etwas mehr Leben. Dort erhebt sich auf einer der üppig grünen Wiesenflächen das Dörfchen Bouscadié mit seinen renovierten Häusern, die zu Zweitwohnsitzen umgebaut wurden, einige davon sogar mit Seeblick.

Ein Stück weiter liegt der Club Nautique des Crozes, von dem aus man direkten Zugang zum Wasser hat. Er ist nur über eine enge Straße erreichbar, die kurvenreich aus dem Tal von Valdérieu heraufführt, und wurde von ein paar reichen Familien zu einer Zeit gegründet, als die Industrie in der Gegend noch florierte. Er ist ein Privatclub, in den man nur durch Zahlung eines stattlichen Jahresbeitrags und ausschließlich durch Hinzuwahl aufgenommen wird. Echtes Interesse am Wassersport und nachweisliche Kenntnisse auf diesem Gebiet sind dabei von Vorteil. Die meisten Clubmitglieder besaßen damals Boote am Meer, in den Badeorten des Languedoc, die gar nicht so weit entfernt sind. Dort gingen sie segeln, tauchen oder Hochsee angeln. Der See war ihnen wohl zu klein. Trotzdem fühlten sie sich dem Club sehr verbunden. Hier traf man sich, um sich über bereits vollbrachte oder bevorstehende maritime Großtaten auszutauschen, hier kamen Familien zusammen, auch außerhalb der schönen Jahreszeit, wenn der Badespaß durch Pilzsuche, Jagd, Angeln, Fahrradausflüge oder Wanderungen abgelöst wurde.

Drei mit weiß gestrichenem Holz verkleidete Gebäude gehörten zum Club. Das erste und zugleich imposanteste war das eigentliche Clubhaus mit einer Bar, die zu einer schönen Terrasse führte, einer geräumigen, voll ausgestatteten Küche und einem großen Saal, den die Mitglieder für private Anlässe nutzen konnten. Unten am Strand mit dem kurz geschorenen weichen Gras stand ein weiteres Haus, in dem die Umkleiden und Duschen untergebracht waren. Und ein Stück weiter entfernt lag in einer schattigen kleinen Bucht, die im Sommer als Ankerplatz diente, das Bootshaus. Das Prunkstück des Clubs befand sich allerdings noch etwas weiter weg, nämlich auf dem Wasser. Dort hatte man eine Badeinsel festgemacht, die von morgens bis abends von der Sonne erwärmt wurde und den Neid der anderen Badegäste aus der Umgebung weckte. Dieser gediegene, durch eine Reihe alter Bäume klar abgeschirmte Club war eine Welt für sich.

Mehrmals im Jahr wurde gefeiert, um die kleine Gemeinschaft zusammenzuschweißen: im Januar das Fest des ersten Bades; im März, oft noch im Schnee, die Eröffnung der Angelsaison; der Ostermontag mit einem über Holzfeuer gebackenen Riesenomelette; der Johannistag, der die Tore zum Sommer aufstieß; im Oktober wurden die Champignons gefeiert, und am letzten Sonntag im November gab es ein Wildschweinessen. Das wichtigste Fest war jedoch das am vorletzten Augustwochenende; es wurde von allen »Das Fest von Les Crozes« genannt. Von Samstagmorgen bis Sonntagabend feierten die Clubmitglieder noch einmal den zu Ende gehenden Sommer und die Ferien. Man amüsierte sich ausgiebig, bevor wenig später die Schule wieder begann und die Tage kürzer und grauer wurden. Der Club hatte vor allem einen Zweck: den Sommer über am See die Familien zusammenzubringen, die das restliche Jahr über verstreut lebten. Kinder, Enkel, Cousins und Cousinen, all jene, die in den übrigen Monaten anderswo lebten, trafen sich hier mit ihren Eltern und Großeltern, Onkeln und Tanten, mit denen also, die den Club gegründet hatten und ihn am Leben erhielten, damit sie hier zusammenkommen konnten. Die Erwachsenen schwelgten in Kindheitserinnerungen, die Jüngeren schienen diese Abfolge gemeinsam verbrachter Tage nie sattzubekommen, und die Familien waren wieder Familien.

Sie wollten mit dem »Fest von Les Crozes« ein Zeichen setzen und der vergehenden Zeit beweisen, dass sie sich nicht alles wegnehmen ließen. Ab dem frühen Samstagmorgen wurden die Wasserski herausgeholt, Grillfleisch und gekühlte Getränke besorgt sowie Spiele und Wettkämpfe vorbereitet, darunter das beliebte Wettschwimmen durch den See. Den Abschluss des Tages bildete der Ball, der erst spät nachts endete; gefolgt vom Frühstück, bei dem sich unter den Bergen von Wurstwaren und Gebäck die Tische bogen und der Duft von gerösteten Brotscheiben einem das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ; es gab Hängematten und Decken zum Sternegucken, und auf der Wiese hinter dem Club hatte man Zelte aufgestellt, in denen die Kinder zu ihrer großen Freude übernachten durften. Am Sonntagvormittag schließlich wurde auf einer schönen Lichtung zwischen dem Club und Bouscadié eine Messe abgehalten. Viele Bewohner des Dörfchens waren ohnehin Clubmitglieder. Die Übrigen wurden nicht nur zur Messe, sondern auch zum Abendessen und zum Ball am Samstagabend eingeladen.

Im August 1980 war das Fest nicht wie in den beiden Vorjahren abgesagt worden. Hätte sich der Sommer nicht entschlossen, seine Nasenspitze zu zeigen, wäre nichts passiert. So konnte das Fest jedoch stattfinden. Zum letzten Mal.

Am späten Samstagnachmittag verließen vier Kinder - zwei Jungen und zwei Mädchen - den Club an Bord von zwei Kanus. Drei von ihnen wohnten in Valdérieu und besuchten dieselbe Privatschule. Guillaume und Justine waren vierzehn und gingen seit der Sechsten in dieselbe Klasse, Emmanuel war ein Jahr jünger. Das vierte Kind hieß Florie und war deutlich jünger, noch nicht einmal zehn. Florie lebte in der Normandie und kam nur im Sommer und zu Silvester hierher. In den Ferien wich sie ihrer Cousine nicht von der Seite.

Gemeinsam hatten die Kinder den Plan ausgeheckt, ein wenig gegen das Reglement des Festes zu verstoßen und sich für eine Nacht abzusetzen. Man hatte ihnen erlaubt, fern von den anderen zu zelten. Da man sie für vernünftig und vertrauenswürdig hielt, hatte man ihnen dieses...

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