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Die Lügen der Frauen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
168 Seiten
Deutsch
Hanser, Carl GmbH + Co.erschienen am05.06.20171. Auflage
Shenja ist eine Frau, zu der man rasch Zutrauen fasst. Ireen, eine englische Ferienbekanntschaft, erzählt ihr sofort ihre ganze (erfundene) Lebensgeschichte, und bei einer Dokumentation über russische Prostituierte in der Schweiz bemerkt sie verblüfft, dass jedes Mädchen die gleiche Kindheit hinter sich hat. Eine literarische Erkundung der weiblichen Lügen, ein Zyklus gewitzter und weiser Geschichten, die alle von der Kunst zu leben handeln.

Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015), Jakobsleiter (Roman, 2017), Eine Seuche in der Stadt (Szenario, 2021) und Alissa kauft ihren Tod (Erzählungen, 2022). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur sowie 2020 den Siegfried Lenz Preis.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextShenja ist eine Frau, zu der man rasch Zutrauen fasst. Ireen, eine englische Ferienbekanntschaft, erzählt ihr sofort ihre ganze (erfundene) Lebensgeschichte, und bei einer Dokumentation über russische Prostituierte in der Schweiz bemerkt sie verblüfft, dass jedes Mädchen die gleiche Kindheit hinter sich hat. Eine literarische Erkundung der weiblichen Lügen, ein Zyklus gewitzter und weiser Geschichten, die alle von der Kunst zu leben handeln.

Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015), Jakobsleiter (Roman, 2017), Eine Seuche in der Stadt (Szenario, 2021) und Alissa kauft ihren Tod (Erzählungen, 2022). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur sowie 2020 den Siegfried Lenz Preis.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446257436
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum05.06.2017
Auflage1. Auflage
Seiten168 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2368277
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Diana

Das Kind hatte Ähnlichkeit mit einem Igel: störrisches, stachliges dunkles Haar, eine neugierige lange, spitze Nase, das amüsante Gebaren eines selbständigen Geschöpfs, das ständig an allem herumschnüffelte, und schließlich eine totale Unzugänglichkeit für Zärtlichkeiten, Berührungen, geschweige denn mütterliche Küsse. Doch auch seine Mama war allem Anschein nach ein Igelwesen - sie berührte es kaum, reichte ihm nicht einmal auf dem steilen Pfad vom Strand hinauf zum Haus die Hand. Der Junge kletterte vor ihr her, sie lief langsam hinter ihm, ließ ihn allein an Grasbüscheln Halt suchen, sich hochziehen, abrutschen und wieder hinaufsteigen, den kürzesten Weg zum Haus anstelle der sanft aufsteigenden Straße, die normale Urlauber benutzten. Er war noch keine drei Jahre alt, doch bereits von so ausgeprägtem Charakter, so unabhängig, daß auch seine Mutter manchmal vergaß, daß er noch ein Kleinkind war, und ihn behandelte wie einen erwachsenen Mann, von dem sie Schutz und Hilfe erwartete; dann besann sie sich, nahm den Jungen auf den Schoß, ließ ihn aufhüpfen, sang »Hoppe, hoppe, Reiter ⦫, und er juchzte, wenn er in den aufgespannten Rock zwischen den Knien der Mutter rutschte.

»Fällt er in den Graben ⦫ sagte die Mutter.

»Fressen ihn die Raben!« erwiderte er freudig.

So lebten sie eine ganze Woche zu zweit in dem großen Haus, in dessen kleinstem Zimmer - die übrigen warteten blitzblank geputzt auf ihre Bewohner. Es war Mitte Mai, die Saison begann gerade erst, zum Baden war es noch zu kühl, aber dafür war das subtropische Grün noch frisch, voller Saft, und die Morgen waren so klar und rein, daß Shenja, seit sie eines Tages zufällig im Morgengrauen erwacht war, keinen Sonnenaufgang mehr versäumte, das tägliche Schauspiel, das sie bislang nur vom Hörensagen gekannt hatte. Sie lebten hier wunderbar friedlich, so daß Shenja sogar Zweifel kamen an den Diagnosen, die Kinderpsychologen ihrem lebhaften, zappeligen Sohn gestellt hatten. Er war nicht bockig, bekam keine Tobsuchtsanfälle, man hätte ihn sogar als artig bezeichnen können, wenn Shenja eine Vorstellung davon gehabt hätte, was genau »artig« bedeutete.

In der zweiten Woche hielt eines Tages zur Mittagszeit vor dem Haus ein Taxi, und ihm entquoll ein ganzer Haufen Leute: erst der Fahrer, der ein sonderbares Eisengestänge unbekannter Bestimmung aus dem Kofferraum nahm, dann eine große schöne Frau mit einer Löwenmähne aus rotem Haar, dann eine krumme Alte, die unverzüglich in das Vehikel verfrachtet wurde, das aus dem flachen Gestänge entstanden war, dann ein Junge, etwas älter als Sascha, und schließlich die Hausherrin Dora Surenowna, festlich herausgeputzt und noch hektischer als sonst.

Das Haus stand an einem Hang, windschief und ganz für sich; die Chaussee verlief unterhalb, eine zweite, unbefestigte Straße oberhalb des Anwesens, und ein Stück abseits davon lag ein Pfad - der kürzeste Weg zum Meer. Dafür war das Grundstück selbst wunderbar angelegt: In der Mitte stand ein großer, von Obstbäumen umringter Tisch, und zwei einander gegenüberstehende Häuser, Dusche, Toilette und ein kleiner Schuppen waren darum gruppiert wie eine Theaterkulisse. Shenja und Sascha saßen am Ende des Tisches und aßen Makkaroni, doch als die ganze Gesellschaft in den runden Hof einfiel, verging ihnen der Appetit.

»Hallo, ihr beiden!« Die Rothaarige warf Koffer und Tasche ab und ließ sich auf die Bank fallen. »Euch habe ich hier noch nie gesehen!«

Damit war sofort klargestellt: Die Rothaarige war hier Stammgast, also die Hauptperson, Shenja und Sascha dagegen waren neu und damit zweitrangig.

»Wir sind das erste Mal hier«, sagte Shenja beinahe entschuldigend.

»Einmal ist immer das erste Mal«, erwiderte die Rothaarige darauf philosophisch und ging in das große Zimmer mit der Terrasse, auf das Shenja anfangs spekuliert hatte, das ihr aber von der Gastgeberin entschieden verweigert worden war.

Der Taxifahrer schleppte die Alte in ihrem Käfig herunter, und die Alte quiekte mit schwacher Stimme etwas, das nicht russisch klang.

Sascha stand vom Tisch auf und entfernte sich mit stolzer, unabhängiger Miene. Shenja räumte die Teller ab und trug sie in die Küche: Ein Kennenlernen war ohnehin unvermeidlich. Die Rothaarige verlieh diesem Sommer schlagartig einen neuen Akzent.

Der weißblonde Junge mit der Stupsnase und dem unglaublich schmalen Schädel wandte sich eindeutig auf englisch an die Rothaarige, doch was er sagte, konnte Shenja nicht verstehen. Sehr wohl dagegen die Worte der rothaarigen Mama, die ihn unterbrach: »Shut up, Donald.«

Shenja hatte noch nie leibhaftige Engländer gesehen. Und diese Rothaarige und ihre Familie entpuppten sich als echte Engländer.

Das eigentliche Kennenlernen geschah am für südliche Begriffe späten Abend, als die Kinder im Bett lagen, das Abendbrotgeschirr abgewaschen war und Shenja unter der Tischlampe, über die sie ein Tuch gebreitet hatte, damit der schlafende Sascha nicht geblendet wurde, »Anna Karenina« las, um einige Ereignisse ihres zerbröckelnden Privatlebens zu vergleichen mit dem echten Drama einer richtigen Frau - die einen schneeweißen Hals hatte, Ringellöckchen, weibliche Schultern, Spitzenbordüren am Negligé und ein handbesticktes rotes Täschchen in der schmalen Hand.

Shenja hätte nicht gewagt, zur neuen Nachbarin auf die Terrasse hinauszugehen, doch diese pochte mit ihren kräftigen polierten Fingernägeln ans Fenster, und Shenja ging hinaus, nachdem sie einen Pullover über den Schlafanzug gezogen hatte - nachts war es noch empfindlich kalt.

»Was habe ich wohl gemacht, als ich am Bonzenladen vorbeikam?« fragte die Rothaarige streng. Shenja schwieg irritiert, ihr fiel nichts Geistreiches ein. »Ich habe zwei Flaschen Krimwein gekauft. Oder magst du vielleicht keinen Portwein, trinkst du lieber Sherry? Na, komm schon!«

Shenja legte »Anna Karenina« beiseite und folgte wie hypnotisiert dieser prachtvollen Frau, die in eine Art Poncho oder Plaid gehüllt war, jedenfalls etwas Flauschiges, grün-rot Kariertes.

Auf der Terrasse herrschte ein wildes Durcheinander. Koffer und Tasche waren ausgepackt, und Shenja staunte, welche Unmenge an bunten Klamotten sie dabei hatten - alle drei Stühle, das Klappbett und der halbe Tisch waren damit überhäuft. In dem Rollstuhl saß die Alte, ein offenbar vor langer Zeit vergessenes entschuldigendes Lächeln im bleichen, etwas schiefen Gesicht.

Ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen, goß die Rothaarige den süßen Rotwein in drei Gläser; in das letzte etwas weniger - das reichte sie ihrer Mutter.

»Zu Mutter kannst du Susan Jakowlewna sagen, aber du kannst es auch lassen. Sie versteht kein Wort Russisch, vor dem Schlaganfall konnte sie ein bißchen, aber danach hat sie alles vergessen. Englisch auch. Sie kann nur noch Holländisch. Die Sprache ihrer Kindheit. Sie ist ein reiner Engel, aber völlig ohne Verstand. Trink, Granny Susi, trink.«

Zärtlich reichte sie ihr das Glas, und die Greisin nahm es mit beiden Händen. Voller Interesse. Es schien, als habe sie doch noch nicht alles auf der Welt vergessen.

Der erste Abend war der Familiengeschichte der Rothaarigen gewidmet - sie war beeindruckend. Der geistesschwache Engel holländischer Abstammung hatte eine kommunistische Jugend gehabt und sein Schicksal mit einem irischstämmigen Untertanen des Vereinigten Königreichs verbunden, einem Offizier der britischen Armee und sowjetischen Spion, der gefaßt, zum Tode verurteilt, schließlich gegen etwas Gleichwertiges ausgetauscht und in die Heimat des Weltproletariats gebracht wurde.

Shenja hörte mit offenem Mund zu und merkte gar nicht, wie sie sich betrank. Die Alte im Rollstuhl schnarchte leise, dann rann ein diskreter Strahl an ihren Beinen herab.

Ireen Leary - was für ein Name! - klatschte in die Hände.

»Ach, jetzt hab ich nicht aufgepaßt, hab vergessen, sie auf den Topf zu setzen. Na, nun ist es sowieso egal.«

Sie erzählte noch eine weitere...

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Autor

Ljudmila Ulitzkaja, 1943 geboren, wuchs in Moskau auf und ist eine der wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellerinnen Russlands. Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele, Theaterstücke und erzählende Prosa. Bei Hanser erschienen Die Lügen der Frauen (Erzählungen, 2003), das Kinderbuch Ein glücklicher Zufall (2005), Ergebenst, euer Schurik (Roman, 2005), Maschas Glück (Erzählungen, 2007), Daniel Stein (Roman, 2009), Das grüne Zelt (Roman, 2012), Die Kehrseite des Himmels (2015) und Jakobsleiter (Roman, 2017). 2008 erhielt Ljudmila Ulitzkaja den Alexandr-Men-Preis für die interkulturelle Vermittlung zwischen Russland und Deutschland, 2014 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur.