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Die bucklige Verwandtschaft - Driving Home for Christmas

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am20.10.20171. Auflage
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

Details
Weitere ISBN/GTIN9783644402454
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum20.10.2017
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.5
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1141 Kbytes
Artikel-Nr.2376467
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Tobias Haberl

Die Weihnachtsverweigerin


Wenn es anfängt, frischer zu werden, also Ende August, Anfang September, kurz bevor in den Tchibo-Filialen die Thermounterwäsche ausliegt, geht bei meiner Mutter der Stress los. Dann überlegt sie Tag und Nacht, was sie diesmal verändern oder weglassen könnte, damit an Heiligabend ja keine feierliche Stimmung aufkommt, und je näher Weihnachten rückt, desto angespannter wird sie, weil sie so viele Ideen hat, wie sie es dieses Jahr hinkriegen könnte, die Adventszeit und vor allem den Jahrestag der Geburt Jesu Christi so gewöhnlich ablaufen zu lassen, als handele es sich um einen verregneten Dienstagnachmittag im März.

Warum sie das macht?

Wir wissen es nicht, aber wir glauben, dass es mit einer Art beginnender Unlust zu tun hat, sich den Konventionen des Lebens anzupassen. Als Mädchen war sie auf einem Klosterinternat; sie hat Bratsche gespielt, in einem Stockbett geschlafen, heimlich die Türklinke der Oberschwester mit Honig eingeschmiert und ihr Taschengeld bis zu dem Tag gespart, an dem sie mein Vater gefragt hat, ob sie ihn heiraten wolle, da war sie achtzehn.

Sie ist so seltsam, so zurückhaltend, ich kann mir nicht vorstellen, dass sie sich jemals einem Mann hingegeben hat, auf der anderen Seite gibt es ja mich, es muss also doch mal passiert sein. So oder so, sie hat gedient, gekocht, gewartet und auch sonst ein gottesfürchtiges Leben geführt, und jetzt ist sie 57 und mag nicht mehr. Es ist eine Art zweite Pubertät, eine Rebellion gegen das Leben, wie es nun mal ist, wenn man in einer Kleinstadt in Bayern lebt, in einem großen Haus am Waldrand mit Terrasse und einer Garage, in der, vorausgesetzt, man kann gut einparken, drei Autos nebeneinander Platz haben.

Es geht ihr nicht darum, Weihnachten vom Kitsch zu befreien, das wäre ihr zu sentimental. Meine Mutter ist nicht sentimental. «Ihr mit eurem süßlichen Getue», das sagt sie oft.

Vor zwei Jahren hat sie das Jesuskindlein aus der Krippe genommen und kommentarlos als Kaminanzünder verwendet. Man muss dazu sagen, dass der kleine Jesus zierlich und aus Holz war und erstaunlich schnell Feuer fing; völlig unlogisch war die Sache also nicht, aber der Reihe nach.

Vor ein paar Jahren ging es los. Als Erstes mussten ihr Spritzgebäck, ihre Zimtsterne und Lebkuchen dran glauben.

«Seid mir nicht böse», sagte meine Mutter an einem Freitag im September, «aber dieses Jahr backe ich keine zehn Sorten mehr.» Der Stress und überhaupt, das sei doch alles ungesund, und sie wisse ja nicht, wie es uns gehe, aber sie bekomme Sodbrennen von dem klebrigen Zeug.

«Wovon sprichst du?», fragte ich.

«Keine zehn Sorten mehr», sagte sie und lenkte den tannengrünen Mercedes in unsere Einfahrt. Das sei doch dekadent, da könne sich ja kein Mensch entscheiden.

«Mama, alles gut?», fragte ich.

Zehn Sorten würden auch gar nicht dem Zeitgeist entsprechen. Weniger, langsamer, bewusster, das lese man überall, man könne doch auch Butterkekse aus der Dose essen oder sich - vorausgesetzt, man habe überhaupt Hunger, denn auch das müsse ja nicht sein, wenn man ordentlich gefrühstückt habe - ein Spiegelei braten.

Es gab dann schon noch Plätzchen, aber nur noch Makronen, ein Jahr später gab es überhaupt keine mehr. Anfangs vermisste ich sie, nicht den Geschmack, ich mag eigentlich keine Plätzchen, ich vermisste eher die Tatsache, dass es welche gab, die Gewissheit, dass in den alten Blechdosen meiner Oma, die auf der hölzernen Wendeltreppe zum Speicher gestapelt waren, Süßigkeiten lagerten.

Meine Mutter - das muss an dieser Stelle gesagt werden - ist ein reizender, aber verwirrender Mensch mit einer Vorliebe für absurde Ideen. Sie findet ihre Ideen nicht absurd, eher hilfreich, manchmal auch praktisch, was sie nur noch absurder macht. Im Vergleich zu meiner Mutter war Dalí ein naturalistischer Landschaftsmaler, so absurd sind ihre Ideen. Sie ist die angesehenste Frau der Stadt, die Menschen sagen Frau Doktor zu ihr, dabei ist sie gar kein Doktor, und das hindert sie nicht daran, seit Jahren meine alten Metal-T-Shirts anzuziehen. Darauf sind Totenschädel und umgedrehte Kreuze zu sehen, schreckliche Dinge, die einen heimsuchen, wenn man nachts nicht schlafen kann, aber das stört sie nicht.

«Die sind wie neu», sagt sie, «und passen mir wie angegossen.»

Die Menschen schauen sie irritiert an, wenn sie durch die Straßen zum Metzger spaziert.

«Was glotzen die so?», hat sie mich mal gefragt.

«Ich weiß es nicht, Mama», habe ich geantwortet, «ich weiß es wirklich nicht.»

Neulich hat sie einen Perserteppich für unser Wohnzimmer gekauft, handgeknüpft, aus Ghom-Seide, ein orientalischer Traum. Es dauerte zwei Tage, da lag ein altes Bettlaken drüber.

«So ist es besser», sagte sie, «so bleibt er wie neu.»

Ich erinnere mich an eine Zeit, da ragten Blumen aus schlanken asiatischen Vasen. Lange her. Sie ragten dann noch ein paar Jahre aus Mineralwasserflaschen, irgendwann gab es keine mehr.

«Warum Blumen kaufen, wenn man sie auch googeln kann?», sagte sie und sah mich mit einem Blick an, der mir das sichere Gefühl gab, dass sie recht hatte und ich nur nicht clever genug war, um sie zu verstehen.

Meine Mutter hat viel Geld - wie sonst könnte sie sich einen Perserteppich kaufen? -, aber die größte Freude hat sie an Gegenständen, die sie nicht gebrauchen muss, die sich nicht abnutzen.

Viele Leute zeigen ihren Reichtum her, meine Mutter versteckt ihn, sogar vor sich selbst. Ihr Keller ist voller Antiquitäten, die damit beschäftigt sind, so gut wie möglich erhalten zu bleiben, während ihr Haus mit IKEA-Möbeln vollgestellt ist. Die sind zwar nicht schön, dafür haben sie Namen. Ihr Bett heißt Malm.

Früher war das Schönste an Weihnachten die Zeit davor: Wenn ich beim Einschlafen an das Piratenschiff von Playmobil dachte, das ich zwischen den Apfelkisten im Keller entdeckt hatte, wenn ich die Teigschüssel ausschlecken und mit meinem Vater frühmorgens durch den eisigen Wald stapfen durfte, um Moos für die Krippe zu sammeln. Ganz wichtig war, dass wir am Ende verschiedene Moossorten im Körbchen liegen hatten, Birnmoos, Kranzmoos, Quellmoos, Goldhaarmoos.

«Nur so sieht es echt aus», sagte mein Vater immer.

Wenn wir zurückkamen, hatte meine Mutter jedes Mal ein Räuchermännchen angezündet, und es duftete im ganzen Haus nach Zimt und Äpfeln, von irgendwoher kam leise Musik. Es waren glückliche Jahre. Ich wurde reich beschenkt, ich durfte Kinderpunsch trinken und so tun, als sei ich betrunken, und immer wenn die geizigen Tanten mit meinen Cousins und Cousinen anrückten, versteckten wir die Hälfte der Geschenke im Keller.

«Damit sie nicht neidisch werden», meinte mein Vater.

Und dann fing meine Mutter an, das schöne Fest immer weiter zurechtzustutzen, als sei Weihnachten ein Hippie, der dringend zu einem Internatsschüler gemacht werden muss. Sie machte es weniger opulent, weniger feierlich, weniger süßlich. Es war, als wolle sie das ganze Fest abschaffen, das feierliche Getue, die beseelten Mienen, das sehnsüchtige Warten, dieses alljährlich wiederkehrende Warten.

«Irgendwie ist es immer das Gleiche», sagte sie eines Tages. Man wisse jedes Mal schon vorher, was als Nächstes komme, die Kirche, das Essen, das Singen, die Bescherung und so weiter. Im Kino würde man in so einem Fall sein Geld zurückverlangen. Sie auf jeden Fall würde das tun.

Vor ein paar Jahren erwischte es die ersten Hirten. «Diese riesige Krippe», jammerte sie. Ob es nicht auch eine Nummer kleiner gehe, dann bräuchte man auch nicht so viel Moos, das bringe eh nur Ungeziefer ins Haus. Am Ende einigten wir uns auf einen Kompromiss: Drei Hirten und ein Kamel mussten gehen, dafür durften die Heilige Familie, die Heiligen Drei Könige und ein paar Schafe bleiben. Im Jahr darauf stand nur noch Melchior vor dem Stall, wieder ein Jahr später landete Jesus im Kamin, und danach machte es irgendwie keinen Sinn mehr, an dieser schönen Tradition festzuhalten. Eine Krippe ohne Jesuskind wäre wie ein James Bond-Film ohne James Bond, man kann das schon machen, aber irgendwas fehlt.

Irgendwann wollte sie nichts mehr geschenkt bekommen. Sie habe doch alles, und ja, das stimmt, sie hat sogar eine beleuchtete Pfeffermühle, aber geschockt waren wir trotzdem. Weihnachten ohne Jesuskind, daran hatten wir uns fast gewöhnt, aber ohne Geschenke - das durfte nicht sein.

«Wehe, einer von euch schenkt mir was», drohte sie noch am Vorabend.

Als mein Vater versuchte, sich ihrem Willen zu widersetzen und ihr eine wirklich hübsche Kette um den Hals legte, war sie eine Woche lang eingeschnappt, und als er es im Jahr darauf mit einem Taschenbuch probierte, sagte sie: «So, das habt ihr jetzt davon, dass mich keiner respektiert, im nächsten Jahr gibt es keinen Baum mehr.»

«Okay», meinte mein Vater, «vielleicht sollten wir Weihnachten mal woanders verbringen, in der Karibik oder auf den Malediven unter Palmen?»

«Sehe ich aus wie eine Arzthelferin?», spottete sie und strafte meinen Vater mit Verachtung.

Früher hatten wir zusammen am Tisch gesessen, Kerzen brannten, die sich in den roten Christbaumkugeln spiegelten, es gab Bratwürste und gekochtes Schweinefleisch und selbstgemachtes Sauerkraut, manchmal spielte meine Mutter Weihnachtslieder auf der Bratsche, und ich summte leise mit - und jetzt: gab es also nicht mal mehr einen Weihnachtsbaum. Was denn so ein Baum mit der Geburt Jesu zu tun habe, fragte sie, und wir wussten es auch nicht, und damit hatte sich die Sache erledigt.

Im letzten Jahr...
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Autor

Dietmar Bittrich, Jahrgang 1958, lebt in Hamburg. Er gewann den Hamburger Satirerpreis und den Preis des Hamburger Senats. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen von ihm u.a. der Bestseller "Alle Orte, die man knicken kann". Seit 2012 gibt er die erfolgreiche Weihnachtsanthologie mit Geschichten rund um die bucklige Verwandtschaft heraus.Mehr erfahren Sie unter: dietmar-bittrich.deSören Sieg wurde geboren, wuchs auf, studierte, arbeitet und wohnt. Nähere Angaben müssen aus Rücksicht auf seine Familie leider unterbleiben. Seit 2012 schreibt er für die Rowohlt-Weihnachtsanthologie. Im August 2016 erschien sein elftes Buch «Die dünnen Jahre sind vorbei» bei Ullstein. (soerensieg.de)André Herrmann ist Stand-up-Comedian, Autor und der wohl bekannteste Roaster im deutschsprachigen Raum. Zweimal gewann er die Deutschsprachigen Poetry Slam-Meisterschaften. Als Autor konzipiert er Programme, verfasst Gags für renommierte TV-Shows (ZDF NeoMagazin Royale, heute-show, Late Night Berlin), entwickelt und schreibt Serien für TV sowie Streamingdienste. Vor der Kamera veröffentlichte er über 100-mal den «Roast der Woche» für Comedy Central. 2015 erschien sein Debütroman« Klassenkampf» bei Voland & Quist. 2018 folgte «Platzwechsel». Seit Herbst 2022 ist André mit seinem ersten Soloprogramm «Roast in Peace» live auf Tour. Er lebt und arbeitet in Leipzig.Sebastian Schnoy, Jahrgang 1969, lebt in Hamburg. Nach dem Studium der Geschichte wurde er Kabarettist und gibt heute rund 150 Vorstellungen pro Jahr in ganz Deutschland. 2006 erschien sein Debütroman "Rampenfieber". Mit seinem Bühnenprogramm "Hauptsache Europa" bringt er als erster Künstler Geschichte unterhaltsam auf die Bühne.Mehr über Sebastian Schnoy unter: schnoy.deJudith Luig, Jahrgang 1974, begann ihre journalistische Karriere als Reporterin für Schützenkönigskrönungen, Karnevalsprinzessinnen und goldene Hochzeiten. Sie schrieb für die «taz» über Frauen, Männer und Paralleluniversen und unterrichtete Literaturwissenschaften an der Freien Universität und an der Humboldt-Universität Berlin. Für die «Welt am Sonntag» stieg sie auf in die Liga der Thronfolgerhochzeiten, Heavy Metal Festivals und Protestkulturen. Sie ist Redakteurin im Politik Ressort von «Zeit Online» mit dem Schwerpunkt Familie, Schule und Erziehung. Käthe Lachmann ist Komikerin und Buchautorin aus Hamburg. Mit ihren selbstgeschriebenen Comedyprogrammen war sie zwanzig Jahre lang bundesweit unterwegs. Parallel ist sie als Buchautorin tätig, sie hat bisher drei Romane veröffentlicht («Draußen nur Männchen, «Ich bin nur noch hier, weil du auf mir liegst» und «Wenn zwei sich streiten, freut sich Brigitte»), außerdem verschiedene Kurzgeschichten und Geschenkbücher. Weihnachten fände sie mit einer Katze noch schöner, Silvester täte ihr die aber leid.Katrin Seddig, geboren in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Über «Runterkommen» (2010) schrieb die taz: «Ein brillantes Debüt ... Anrührend, witzig und nüchtern.» Über «Eheroman» (2012) urteilte «Der Tagesspiegel»: «Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht». Zuletzt erschienen «Das Dorf» (2017) sowie der Roman «Sicherheitszone» (2020), für den Seddig mit dem Hamburger Literaturpreis und dem Hubert-Fichte-Preis ausgezeichnet wurde.Tillmann Prüfer, geboren 1974, ist Stellvertretender Chefredakteur des ZEITmagazins, wo seit 2018 wöchentlich seine beliebte Kolumne «Prüfers Töchter» erscheint. Seine beiden Bücher «Kriegt das Papa, oder kann das weg?» und «Jetzt mach doch endlich mal das Ding aus!» wurden von Presse und Publikum gefeiert. Tillmann Prüfer lebt mit seiner Familie in Berlin. Kathrin Weßling ist Autorin und Social-Media-Expertin. Ihre Postings und Beiträge verfolgen über 70.000 Menschen.