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Am Ende der Reise

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
512 Seiten
Deutsch
Kein + Abererschienen am30.08.20171. Auflage, neue Ausgabe
Lou fährt seinen unheilbar kranken Vater Larry zu einer Klinik in Zürich - sein Vater möchte Sterbehilfe in Anspruch nehmen, was in seiner Heimat England gesetzlich verboten ist. Als nach vielen Kilometern in ihrem 80er- Jahre-VW Lous ältere Halbbrüder nach erstem Widerstand doch noch dazustoßen, deckt die Reise immer mehr innerfamiliäre Befindlichkeiten auf. Sie kämpfen, streiten, lachen, betrinken sich, philosophieren über das Leben und sich selbst - ein Roman, in dem sich jede Leserin und jeder Leser sofort finden wird!

Edward Docx, geboren 1972 als Sohn eines Briten und einer Russin, arbeitet als Journalist und Schriftsteller. Er schreibt regelmäßig für den Guardian, wurde mehrfach ausgezeichnet und ist Autor von vier Romanen, von denen derzeit zwei verfilmt werden. Sein Roman Pravda wurde für den Man Booker Prize nominiert. Er lebt mit seiner Familie in London.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR15,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR13,99

Produkt

KlappentextLou fährt seinen unheilbar kranken Vater Larry zu einer Klinik in Zürich - sein Vater möchte Sterbehilfe in Anspruch nehmen, was in seiner Heimat England gesetzlich verboten ist. Als nach vielen Kilometern in ihrem 80er- Jahre-VW Lous ältere Halbbrüder nach erstem Widerstand doch noch dazustoßen, deckt die Reise immer mehr innerfamiliäre Befindlichkeiten auf. Sie kämpfen, streiten, lachen, betrinken sich, philosophieren über das Leben und sich selbst - ein Roman, in dem sich jede Leserin und jeder Leser sofort finden wird!

Edward Docx, geboren 1972 als Sohn eines Briten und einer Russin, arbeitet als Journalist und Schriftsteller. Er schreibt regelmäßig für den Guardian, wurde mehrfach ausgezeichnet und ist Autor von vier Romanen, von denen derzeit zwei verfilmt werden. Sein Roman Pravda wurde für den Man Booker Prize nominiert. Er lebt mit seiner Familie in London.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783036993669
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2017
Erscheinungsdatum30.08.2017
Auflage1. Auflage, neue Ausgabe
Seiten512 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4064 Kbytes
Artikel-Nr.2380138
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Dover

Ich hätte mich niemals darauf einlassen sollen. Das ganze Ausmaß wird mir leider erst klar, als wir in Dover ankommen und zum Fährterminal abbiegen. An der Passkontrolle kurbele ich das Fenster herunter, ein kalter Windstoß bläst herein - Meeresluft, Diesel, Schiffsrost -, und die Möwen kreischen, als wäre gerade jemand umgebracht worden.

Ich reiche der Kontrolleurin unsere Pässe.

»Urlaub?«, fragt sie.

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Ja.«

Sie wirft einen Blick auf Dad, und ich lehne mich zurück, damit sie an mir vorbeischauen und entscheiden kann, ob wir möglicherweise aus irgendeinem irrwitzigen Grund die Fähre in die Luft jagen wollen. Wir sitzen in einem heruntergekommenen Campingbus, weil wir kein richtiges Auto haben. Dad schläft auf dem Beifahrersitz, und das fühlt sich komplett falsch an, weil er sonst jeden Sommer in dieser Situation hinter dem Steuer saß, noch lange, nachdem meine älteren Brüder nicht mehr mitkommen wollten und nur noch ich und meine Eltern übrig waren.

Ich bekomme die Pässe zurück und stecke sie in das kleine Fach unter dem Lenkrad, als hätte ich hier das Sagen. Dann atme ich bewusst die Meeresluft ein, tue so, als würde mich das total überraschen, was es auch jedes Mal tut, und rolle auf das nächste Häuschen zu, wo einem ein Typ von der Fährgesellschaft so einen länglichen Zettel gibt, auf dem die Nummer der Schlange steht, in die man sich einreihen soll. Auf unserem steht »76«, fünf Jahre älter als Dad. Ich hänge ihn an den Rückspiegel und fahre zu den aufgereihten Autos, die es alle kaum erwarten können, auf das Schiff zu gelangen. Und plötzlich wallen die Emotionen in mir auf, und ich weiß nicht, wo ich hinschauen oder wie ich mich verhalten soll.

Zu diesem Zeitpunkt sprang Dad nämlich immer aus dem Auto, um Tee aufzusetzen, als wäre er einer dieser Formel-1-Mechaniker, bei denen jede Sekunde zählt. Und weil der Bus damals zu vollgestopft war, um unterwegs mal eben die Kochplatte auszupacken, und er wahrscheinlich Ralph und Jack nicht stören wollte, die gerne mal einen Aufstand anzettelten, hockte er sich stattdessen mit dem kleinen Campingkocher auf den Asphalt. Und ich hockte mich jedes Mal daneben und beobachtete, wie das blaue Flämmchen im Wind flackerte, die Hände auf die Knie meiner besten Sommerferienjeans gestützt, fünf Jahre alt, aber im Geiste ebenfalls bei Ferrari unter Vertrag. Meine Brüder lasen währenddessen im Bus, und meine Mutter ließ die Hand mit der Lucky-Strike-Zigarette aus dem Fenster hängen und hoffte inständig, dass wir nicht dran wären, bevor das Wasser kochte, da sie wusste, dass Dad sein »Tässchen Tee« brauchte, wie sie gerne mit übertriebenem britischen Akzent sagte.

Als Nächstes muss ich jetzt also überlegen, ob Dad und ich einen Tee trinken sollen, während wir in der Schlange warten, den ich selbst aufsetzen müsste, da seine Feinmotorik schon dabei ist, »kontinuierlich nachzulassen«, wie es in einem der achthundert PDFs heißt, die ich zum Thema »Was auf Sie zukommt« und »Wie Sie sich am besten vorbereiten« gelesen habe. Und das hier ist nur eine weitere unmögliche Entscheidung, die wir zu treffen haben.

Ein Mann in Warnweste winkt uns in »Spur 76« zu den anderen Kleinbussen und Geländewagen. Ich fahre vor, und die Handbremse knarzt wie eine alte Uhr, die man bis zum Anschlag aufzieht. Und da ich zu aufgewühlt bin, um mit Dad zu reden, öffne ich meine Tür und steige aus, alles in einer einzigen, schnellen Bewegung - als wäre ich derjenige, der dauernd Krämpfe in den Beinen bekommt.

Ich bereue jedoch sofort, den beschissenen Bus verlassen zu haben. Jetzt stehe ich nämlich auf dem Parkplatz vor den getönten Scheiben eines Geländekombis mit Kajaks auf dem Dach und Fahrrädern am Kofferraum, und der Familienvater steigt aus und sagt: »Alles klar, zwei Cappuccinos und einen Latte«, und er wirft mir über die Motorhaube einen Blick zu, als wäre er irgendein großer Anführer oder so, und als müsste ich wissen, was für ein toller Vater er sei und was für einen tollen Krieger er abgeben würde, wenn er denn müsste, was nicht der Fall ist. Und ich zittere und denke, vielleicht jage ich die Fähre ja doch noch in die Luft. Ich drehe mich um und schiebe die quietschende Seitentür des Busses auf, die mal wieder geölt werden müsste, aber wann bitte sollen wir das machen?

»Wir gehts dir, Dad?«, frage ich.

»Gut.« Er dreht sich lächelnd zu mir um. Er trägt scheußliche Klamotten, so wie immer - einen puddinggelben Fleecepullover, ausgewaschene beigefarbene Chinos, extraleichte Wanderstiefel, auf die er unerklärlich stolz ist. »Vielleicht geh ich noch eben eine Runde joggen«, fügt er hinzu.

Ich nicke langsam. Dieser Tage rudern wir zwischen Witzen und Sarkasmus hin und her, als hätten wir Angst vor dem Ufer.

»Hab ich schon hinter mir«, erwidere ich. »Du hast noch geschlafen.«

»Schon wieder einen Halbmarathon?«

»Jep. Und dann hab ich noch mit dem Kajak ein bisschen Strecke gemacht.«

Er gibt ein missbilligendes Geräusch von sich. Wir hassen solche Ausdrücke wie »Strecke machen«.

»Vielleicht schmeiß ich mich noch schnell in ein paar brutale Yogaposen«, sagt er.

»Die Atmosphäre da draußen ist jedenfalls schon mal ziemlich spirituell.«

Er mustert die aufgereihten SUVs und legt innerlich die Zukunft in Schutt und Asche, welche die Menschheit womöglich noch erwartet. Sein Kiefer krampft sich manchmal zusammen, und er gähnt oft.

Die Meeresluft hat sich mir um die Schultern gelegt und mich abgekühlt. Ich steige ein, und Dad fummelt an einem Hebel herum, um den Sitz nach hinten zu drehen. Ich fülle Wasser in den Kessel. Anscheinend ziehen wir das mit dem Tee echt durch. Ich klappe den grauen Plastiktisch auf, an dem wir schon so viele gesellige Mahlzeiten eingenommen haben. Dad hat den Bus 1989 gekauft, kurz vor meiner Geburt; ein altmodischer, kastenförmiger VW aus den Achtzigern in Blau-Metallic, den man selbst geschenkt nicht haben wollte. Aber er hat Charakter - zumindest finden wir das. Und das zählt. Oder sollte es zumindest.

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie Dad mit dem Sitz kämpft. Wenn man es nicht mit den Beinen hat, kann man einfach die Füße gegen den Boden stemmen und sich umdrehen. Aber in Dads Beinen kribbelt es oft, er leidet unter »Funktionseinschränkung der unteren Extremitäten«. Gleichzeitig will ich ihm aber auch nicht alles abnehmen, und ich habe keine Ahnung, was angebracht wäre - hier, jetzt, wann auch immer. Also lasse ich ihn machen und widme mich dem Campingkocher.

Auf der einen Seite denke ich, wehe, wenn Ralph nicht kommt. Auf der anderen Seite sind wir ohne ihn vielleicht besser dran und bleiben lieber so lange wie möglich unter uns - nur ich und Dad -, da Ralph an einer Art metaphysischer Tollwut leidet. Und außerdem frage ich mich, wie Jack das alles sagen und tun kann, was er sagt und tut. Wie kann er sich jetzt noch weigern, mitzukommen? Wann erkennt er endlich, dass Dad es eben doch ernst meint? Jack ist schlimmer als Ralph, ein Ausbund an passiver Aggressivität. Ralph ist wenigstens einfach nur aggressiv.

Ralph und Jack sind Zwillinge und eigentlich nur meine Halbbrüder. Ralph ist der Dünne von beiden, Jack eher weniger. Sie nehmen Dad ganz anders wahr. Als wäre er für sie ein ganz anderer Mann. Meine Mutter meinte früher immer, sie wären von ihm »psychologisch beeinflusst« worden. Aber wer weiß - vielleicht liegt es auch an den Genen? Irgendwo hab ich mal gelesen, dass Gene sozusagen die Zutaten sind, und das Familienumfeld ist die Art, wie man sie zubereitet.

Ich werfe einen Blick zu Dad. Er kniet jetzt im Fußraum und stemmt sich mit der Schulter gegen den Sitz. Er hebt den Kopf, und wir sehen uns zum ersten Mal richtig in die Augen, seit er aufgewacht ist - oder zumindest so getan hat. Und dann stellt er mir rundheraus die gleiche Frage, die ich ihm gestellt habe: »Und wie gehts dir, Louis?«

»Ging schon mal besser.«

Er nickt. »Nur damit du´s weißt, Lou, und um deine Frage zu beantworten: Ich bin gerade echt glücklich.«

Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, also sage ich: »Vielleicht hättest du dich öfter mal im Fußraum von klapprigen Campingbussen rumtreiben sollen.«

Und dann lächelt er mich richtig an, so wie er es jetzt ständig macht, traurig-aber-glücklich, reuevoll-aber-froh, als wäre zwischen uns alles geklärt. Das hilft mir nicht gerade, und manchmal frage ich mich, ob das mit seinen Medikamenten zu tun hat. Aber das rechtfertigt noch lange nicht, dass er mich alle fünf Minuten so anlächelt. Und es ist auch nicht so, als wäre ich hiermit einverstanden. Zumindest nicht mehr. Nicht jetzt, wo wir es tatsächlich machen.

Ich stelle mich in die Kochnische und tue so, als hätte ich mit dem Tee alle Hände voll zu tun.

Er hat den Sitz umgedreht und scheint sehr zufrieden mit sich. Er zwängt sich durch die Lücke - seine Arme funktionieren noch einwandfrei - und plumpst mit einem theatralischen Seufzer auf das Polster.

»Wie lange haben wir noch?« Er deutet mit dem Kopf Richtung Meer.

Das ist so ziemlich die schlimmste Frage, die er hätte stellen können, aber das wird ihm erst hinterher klar.

»Ich meine, wie lange, bevor wir ablegen.«

»Wir haben noch jede Menge Zeit.«

Und das ist die schlimmste Antwort. Das Problem haben wir natürlich schon seit achtzehn Monaten. Die Hälfte von dem, was wir sagen, klingt zu bedeutungsvoll, und die andere Hälfte so hohl, dass ich mich...

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Autor

Anna-Christin Kramer, geboren 1987, übersetzt seit zehn Jahren Literatur aus dem Englischen. Für Kein & Aber hat sie Nicola Upson, Kevin Kwan, Mason Currey u.a. ins Deutsche übertragen.

Jenny Merling hat für Kein & Aber u. a. Am Ende der Reise von Edward Docx und Bewahren Sie Ruhe von Maile Meloy ins Deutsche übertragen.

Edward Docx, geboren 1972 als Sohn eines Briten und einer Russin, arbeitet als Journalist und Schriftsteller. Er schreibt regelmäßig für den Guardian, wurde mehrfach ausgezeichnet und ist Autor von vier Romanen, von denen derzeit zwei verfilmt werden. Sein Roman Pravda wurde für den Man Booker Prize nominiert. Er lebt mit seiner Familie in London.