Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Das Glück beim Händewaschen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
164 Seiten
Deutsch
Haymon Verlagerschienen am22.03.2016
Ein 12-jähriger Junge tritt eine schicksalhafte Reise in die streng religiöse Welt eines Schweizer Internats an. Abgeschirmt von der Außenwelt, werden ihm Gehorsam und Schweigsamkeit allmählich zur Ersatzheimat - bis ihn die Begegnung mit einem Mädchen dazu bringt, die heilige Regel des Schweigens zu brechen ... Joseph Zoderer erzählt eine berührende Geschichte von Heimat und Heimatlosigkeit, von Lust und Leiden an der Unterwerfung, aber auch von Rebellion und Widerstand.

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther von-der Vogelweide-Preis (2005). Vom Autor des Romans Die Walsche (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen zuletzt: Der Himmel über Meran. Erzählungen (2005), Liebe auf den Kopf gestellt. Lyrik (2007) sowie bei Haymon: Das Glück beim Händewaschen. Roman (HAYMONtb 2009), Die Farben der Grausamkeit. Roman (2011) und Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen (2012).
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR9,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextEin 12-jähriger Junge tritt eine schicksalhafte Reise in die streng religiöse Welt eines Schweizer Internats an. Abgeschirmt von der Außenwelt, werden ihm Gehorsam und Schweigsamkeit allmählich zur Ersatzheimat - bis ihn die Begegnung mit einem Mädchen dazu bringt, die heilige Regel des Schweigens zu brechen ... Joseph Zoderer erzählt eine berührende Geschichte von Heimat und Heimatlosigkeit, von Lust und Leiden an der Unterwerfung, aber auch von Rebellion und Widerstand.

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther von-der Vogelweide-Preis (2005). Vom Autor des Romans Die Walsche (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen zuletzt: Der Himmel über Meran. Erzählungen (2005), Liebe auf den Kopf gestellt. Lyrik (2007) sowie bei Haymon: Das Glück beim Händewaschen. Roman (HAYMONtb 2009), Die Farben der Grausamkeit. Roman (2011) und Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen (2012).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783709937181
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum22.03.2016
Seiten164 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1378 Kbytes
Artikel-Nr.2445046
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

 

Auf der letzten Station vor der Schweizer Grenze sah ich das Gesicht meines Bruders zwischen zwei Waggons verschwinden. Ich fuhr allein in das Land, wo Milch und Honig fließen. Neben mir saß ein Fremder in weißer Kutte.

Später hockte ich in der Leere eines langgezogenen Raumes an einem langen Tisch am Ende einer langen Bank. Der Fremde zeigte mir das Viereck in der Wand. Man konnte in diesem Viereck eine Falltüre hochschieben und in die Küche sehen, in Abständen kam darin eine Hand zum Vorschein und reichte verschiedene Schüsseln. Zuhause waren die Lebensmittel noch rationiert.

Durch dunkle Gangschluchten über enge Treppen wurde ich in einen Saal mit Holzwänden geführt. Inmitten von unzähligen Stahlrohrbetten stand das für mich bestimmte Stahlrohrbett. Ich hörte das Klicken des Schalters, als das Licht ausging. Es war ein großer Saal, in dem ich einschlief, auf die Seite gedreht, bis ich das Trampeln von Füßen hörte und ein grelles, fremdes Licht mich in die Mitte warf, auf einen Seziertisch für neugierige Blicke. Ich versuchte mich vor diesem Licht zu verbergen, indem ich mich schlafend stellte. Nie zuvor, erzählten mir Albisser und auch Leisibach später, hätten sie derart lange schwarze Haarzotteln gesehen. Der Haarwust hätte das weiße Kissen ganz und gar überschwemmt.

Der jähe Schrecken, der mich am nächsten Morgen die Decken zurückschlagen ließ wie bei einem Bombenalarm, dieser Schrecken würde sich täglich um fünf Uhr früh wiederholen, im Sommer wie im Winter, wenn die Klingel schrillte und fast gleichzeitig eine Stimme die Worte zerhackte: »Ehre sei Gott in der Höhe.«

Aus den Betten rings um mich herum klatschten Füße auf den Boden. Ein Maschinengewehr antwortete: »Und Deinem Geiste.« Alles in Latein.

Auch ich stand neben dem Bett, in Hemd und Unterhose. Die anderen schlüpften aus einem Pyjama in Unterhose, Socken, Unterhemd und Hose. Mit Unterhemd und Hose liefen sie weg und verschwanden. Niemand sprach mit mir, überhaupt sagte keiner etwas. Ich zog die Hose an, eine Kniehose, die wie meine Jakke braun, senfbraun war, zusammengeschneidert aus einer Tommy-Decke.

Ich lief dem Strom nach, tat so als ob ich es eilig hätte. Am Ende des Schlafsaals stieß ich rechter Hand auf den Waschraum. Ich wurde geschubst, absichtlich unabsichtlich gerempelt. Alles geschah so wortlos, und ich war froh, daß ich nichts sagen mußte. Ich sah das Gesicht meines Bruders zwischen zwei Eisenbahnwaggons, meine erst gestern verlassenen Nester: das zerbombte Haus neben der Kohlenhandlung, den Hinterhof mit Durchgang, den Hasenstall neben dem Mechaniker, die Bretterwand, hinter der man den Kanal hörte, Mutter, wie sie in der Küche Wäsche kocht, und den Hilmteich mit den Booten.

Ich wurde zu einem Waschbecken hingeschoben, das ich und kein anderer würde benützen dürfen. Ich versuchte, das nasse Gesicht mit den Händen zu trocknen, in Wirklichkeit verbarg ich es, während ich zu meinem Bett zurückging, um dort mein Handtuch auszupacken. Und dann hatte ich keine Zahnbürste.

Schlangestehen hinter der Schlafsaaltür. Genaues Einreihen in die Kolonne. Ich wurde nach hinten gezogen. Gesichter, filmartig, fremde Nasen, fremde Ausdrucksmünder, fremde Ausdruckswangen. Die Augen gehen in den Wangen und Nasenflügeln unter.

Abmarsch über die Stiegen von einem Stock in den unteren, drei Stockwerke bis ins Parterre. Mit dem ganzen Rudel in einen Raum, vollgestellt mit Bänken zum Knien und zum Sitzen. Und vorn in Briefanrededistanz der Altar, mit nur einer Stufe. Tischtuch, Tabernakel, der kleine Schlafsaal Gottes, sein Boudoir. Die Messe am ersten Morgen.

Zur Kommunion leerten sich die Bänke wie Gedärme. Allmählich und doch zu jäh war ich der einzige Körper zwischen den Sitz- und Kniegestellen. Ich hatte kaum Zeit zum Überlegen. Alles um mich herum war tiefer Ernst. Mit gefalteten Händen, mit vor sich hingetragenen gefalteten Händen oder mit an die Brust gedrückten gefalteten Händen, mit gesenktem Kopf oder mit steil aufgerichteter Stirn, mit geschlossenen oder offenen, aber verschleierten Augen, oder mit offenen, aber abweisenden Augen, mit auf den Boden oder ins Leere stierendem Blick sah ich sie nach vorn gehen und zurückkehren, nach vorn gehen, stehen, niederknien, Mund aufsperren, Oblate, lieber Gott, Oblatenteig, Papier, zerrinnendes Teigpapier, Gottes Schluckabtod. Sie schoben sich aneinander, durcheinander nach vorn, vorbei, zurück, es war ein leises Drängeln um das Brot Gottes, um das unblutige Blutvergießen Gottes. Nur ich blieb zurück.

Ich hatte noch alle Sünden, ich mußte erst noch beichten. Ich hätte statt Sünde auch Notsünde sagen können, Notwehr, ich mußte Gott in Notwehr verzehren.

Aber ich war eingeschüchtert von der Wortlosigkeit, von der Ruhe, von der Sauberkeit, die mich so selbstverständlich verschluckt hatten. Ich wollte mich anständig benehmen. Ich konnte Gott nicht vom fremden Tisch wegessen, ohne zu wissen, ob das gestattet war.

Die zurückkehrenden Blicke, ich spürte, wie mich die Blicke der komischen, weil so ungewohnt gutgekleideten Figuren bei der Rückkehr, beim Wiederauffüllen der Bänke streiften. Am nächsten Morgen schob auch ich mich mit allen meinen Knie- und Sitznachbarn aus der Bank und stellte mich in die Reihe und streckte die Zunge heraus und spürte Finger und Papierleib Gottes zugleich, kehrte, auf den Boden glotzend und seitwärts und manchmal nach vorn blinzelnd, in meine Bank zurück. Nichts denkend, als daß die Oblate sich auf dem Weg bis zur Bank auf der Zunge auflöste, und, wenn Gott die Oblate war, Gott jetzt mit Händen und Füßen und Haar und Haut durch meine Gurgel in den Dünndarm und weiter abrutschen und zu riechen anfangen würde. Aber das dachte ich mir in der allgemeinen Gottesfurcht zuallerletzt.

Im selben Sommer, bevor ich durchs Land zur Grenze gefahren war, hatte ich mich im einzigen Schlafzimmer der elterlichen Wohnung verirrt. Dort, wo in einer Ecke mein Bruder und gegenüber meine ältere Schwester und ich mit meiner jüngsten Schwester nachts im großen Ehebett schliefen, dort verirrte ich mich, weil Nachmittag war, ins Bett unserer zwangszugeteilten »Ausgebombten« und Untermieterin. Vielleicht weil es Nachmittag war, schlief Mary nicht, sondern tat, als lese sie. Und ich kroch zu ihr unter die Decke und klappte ein Buch auf. Ich lehnte das Buch mit dem oberen Rand leicht an ihren Rücken, und sie stützte sich auf ihrem rechten Ellenbogen auf und lag seitwärts mit dem Rücken zu mir und dem Gesicht zur Wand. Sie trug ein aalglattes Negligé, das knisterte, wenn ich den Atem anhielt.

Im selben Sommer, in einer der letzten Wochen, bevor ich abreisen sollte, lief ich am Flußufer entlang neben Mary her. Möglicherweise machten wir eine lange Abkürzung durch die Stadt, und vielleicht am anderen Ende mußte sie Dokumente besorgen. Ich schaute auf die Brennesseln, die in dichten Büschen auf der Uferböschung wuchsen, sah die weißgrauen Ufersteine, die vom Wasser angespült wurden. Mary erzählte, nur in Andeutungen, von ihren Erfahrungen mit den Tommys, erzählte auf eine Art, daß ich nicht an Besatzungssoldaten, sondern an Krimihelden denken mußte. Sie ließ sich breit aus, wenn sie von ihrer Kleinen sprach oder einfach von sich. Wie das vor sich gegangen sei: sie noch ein Pflasterstein, dann der Schrei, der in ihr einen Sprung, einen riesigen Sprung quer durch sie hindurch verursacht hätte. Auf einmal hätte sie diesen Stoß rasend gespürt und ihn gewollt und noch einmal gewollt: und wie ein Pflasterstein sei sie zersprungen. Und dann hätte sich alles noch einmal in einem qualvollen Blutbad wiederholt. Mir schien, daß ihr die Leute die Gedärme zwischen den Schenkeln aus dem Bauch gerissen hatten, und daß sie geschrien haben mußte, bis sie nicht mehr konnte. Das zweitemal sei alles ohne großes Tamtam gegangen. Wie ein Geschwür hätten sie das Tote aus ihr herausgezogen, mit einer einzigen Hand.

Die Einzelheiten des ersten Tages im Hause der Regel glichen den meisten Einzelheiten der darauffolgenden Tage, den Einzelheiten von eintausendfünfhundert Tagen, in ein Gemeinsames zusammengeronnen, eine graue Wasserfläche, aus der einige Eisspitzen ragten, schön und kalt. Alles woran ich mich erinnere, ist kalt, auch wenn einiges schön war, woran ich mich erinnere.

Ich hob meine Füße über die Treppen, eingezwängt in der Schar der anderen, die wie ich die Füße über die Treppen hoben und schwiegen, so wie ich schwieg. Die Gangschluchten verschluckten mich, wie die anderen. Es waren nicht meine Wände, auch wenn sie aus Holz waren. Die anderen taten, als ob ich ihr Besitz wäre, sie schleppten mich mit. Im Speisesaal waren die Wände nicht aus Holz. Weißverkalkte Mauern.

Man war freundlich zu mir, neugierig freundlich. Konnte ich boxen, war ich Einhundert-Meter-Läufer, war ich eine Nummer am Barren? Ich war kleiner als der Kleinste und ich hatte lange Haare. Auch war ich der einzige Ausländer. Ich mußte anders riechen. Zumindest redete ich ein anderes Deutsch. Ein lächerliches Schriftdeutsch. Ihr raffiniertes Schwyzerdütsch gefiel mir. Es war, als würden mich Baumstämme streicheln.

Aber im...
mehr

Autor

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther von-der Vogelweide-Preis (2005). Vom Autor des Romans Die Walsche (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen zuletzt: Der Himmel über Meran. Erzählungen (2005), Liebe auf den Kopf gestellt. Lyrik (2007) sowie bei Haymon: Das Glück beim Händewaschen. Roman (HAYMONtb 2009), Die Farben der Grausamkeit. Roman (2011) und Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen (2012).