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Erinnerungen eines Narren

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Haymon Verlagerschienen am11.04.20121. Auflage
Es ist der Vorabend des Zweiten Weltkriegs, als ein verdrossener Internatsschüler beschließt, von Wien in die Welt hinauszuziehen. Er kommt in der Schweiz bei einem Wanderzirkus unter, wo ihn der altersweise Clown Hieronymo unter seine Fittiche nimmt. Bald nähert er sich auch dem misstrauischen Liliputaner Rollo und der Seiltänzerin Rachel an, die aus Angst vor dem NS-Regime jede Nacht hoch oben unter der Zirkuskuppel schläft. Die Geschichte von ihrer gemeinsamen Flucht bis zu seiner Rückkehr ins zerbombte Wien erzählt der Ausreißer Jahrzehnte später von seinem Krankenbett aus. Dabei spinnt er ein faszinierendes Gewebe aus Erinnerung und Vorstellung, aus Episoden der Mythologie und der Literatur. Bewegend und mit einzigartiger sprachlicher Kraft schildert Marianne Gruber die täglichen Ängste der Zirkusleute in der Fremde, aber auch die Solidarität, die ihnen zuteil wird. Atmosphärisch dicht zeichnet sie das nur vordergründig skurrile, zutiefst menschliche Personal vor dem Hintergrund des großen Weltgeschehens.

Marianne Gruber geboren 1944 in Wien, wo sie heute als freie Schriftstellerin lebt. Sie studierte Klavier am Konservatorium der Stadt Wien sowie mehrere Semester Medizin und Psychologie bei Victor E. Frankl. Ausgezeichnet u.a. mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur 1997. Zahlreiche Publikationen, u. a. Die gläserne Kugel. Roman (1981), Zwischenstation. Roman (1986), Der Tod des Regenpfeifers. Zwei Erzählungen (1991) sowie Beiträge für den Hörfunk und für Anthologien. Bei Haymon: Ins Schloss. Roman (2004).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextEs ist der Vorabend des Zweiten Weltkriegs, als ein verdrossener Internatsschüler beschließt, von Wien in die Welt hinauszuziehen. Er kommt in der Schweiz bei einem Wanderzirkus unter, wo ihn der altersweise Clown Hieronymo unter seine Fittiche nimmt. Bald nähert er sich auch dem misstrauischen Liliputaner Rollo und der Seiltänzerin Rachel an, die aus Angst vor dem NS-Regime jede Nacht hoch oben unter der Zirkuskuppel schläft. Die Geschichte von ihrer gemeinsamen Flucht bis zu seiner Rückkehr ins zerbombte Wien erzählt der Ausreißer Jahrzehnte später von seinem Krankenbett aus. Dabei spinnt er ein faszinierendes Gewebe aus Erinnerung und Vorstellung, aus Episoden der Mythologie und der Literatur. Bewegend und mit einzigartiger sprachlicher Kraft schildert Marianne Gruber die täglichen Ängste der Zirkusleute in der Fremde, aber auch die Solidarität, die ihnen zuteil wird. Atmosphärisch dicht zeichnet sie das nur vordergründig skurrile, zutiefst menschliche Personal vor dem Hintergrund des großen Weltgeschehens.

Marianne Gruber geboren 1944 in Wien, wo sie heute als freie Schriftstellerin lebt. Sie studierte Klavier am Konservatorium der Stadt Wien sowie mehrere Semester Medizin und Psychologie bei Victor E. Frankl. Ausgezeichnet u.a. mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur 1997. Zahlreiche Publikationen, u. a. Die gläserne Kugel. Roman (1981), Zwischenstation. Roman (1986), Der Tod des Regenpfeifers. Zwei Erzählungen (1991) sowie Beiträge für den Hörfunk und für Anthologien. Bei Haymon: Ins Schloss. Roman (2004).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783852187457
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum11.04.2012
Auflage1. Auflage
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2583 Kbytes
Artikel-Nr.2445334
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1

Wer? Und weshalb? Ich, das klingt seltsam. Über den Grund nichts zu sagen, nirgends eine Spur von Leben, die grünen Gewässer tot, die blauen Flüsse ausgetrocknet, die Straßen leer. Wüsten. Sand und Steinwüsten. Sind Sie deshalb gekommen? Sehen, ob es sich noch regt, den Puls fühlen, einen Spiegel vor den Mund halten und prüfen, ob er sich beschlägt oder blank bleibt? Seit fünf Monaten liege ich im Bett und kann meine Beine nicht mehr bewegen. Abgestürzt. Eine Geschichte, die sich an Lächerlichkeit kaum überbieten läßt: ein Clown, der abstürzt, aber davon später, falls Sie die Geschichte hören wollen. Nichts überstürzen. Die Tür, durch die Sie getreten sind, die Klinke trägt noch Ihren Geruch. Eben gekommen, es ist doch ein Kommen, oder? Das Gehen kommt erst, wie verrückt, ein Gehen, das kommt, irgendwo muß es einen Sessel geben, machen Sie es sich bequem oder sehen Sie sich meinetwegen um, nur, bitte, kein Licht. Sie werden in der Dämmerung genug sehen. Allzu viel Licht führt lediglich zum frühen Erblinden, glauben Sie mir, schon wieder der Glaube, wir kommen anscheinend ohne ihn nicht aus, irgendetwas in uns will immer höher hinaus, ich weiß nicht was, man sollte nicht über Dinge sprechen, über die man nicht sprechen kann. Daß ich rede, besagt nichts, es hört meist von selbst auf, zu viele Worte vergessen und zu viele behalten, es wird von selbst aufhören. Als ob man ausgeronnen wäre. Redefluß. Es hat etwas mit Wasser zu tun, irgendwie ungreifbar, man denkt, man könnte sich eines Tages mit Worten von der Welt der Dinge säubern, von den Schlägen und Tiefschlägen, von der Versessenheit, der fanatischen Gier, an den Machtspielen teilzuhaben, ohne sich mit ganzem Körper in die Waagschale werfen zu müssen. Ich habe solche Menschen kennen gelernt. Sie trinken Worte wie andere Wasser und Wein, sie saugen sie in sich auf, diese Dürre, diese Dürre hörte ich sie sagen, wenn sie keine Worte fanden, das Wort, das lebendig macht, klingt gut, Worte der Erlösung, der Liebe, das ganze schöngeistige Gestammel, das sich in den Köpfen der Wissenden ansammelt, mit denen sie auf den Leibern der stumpf dienenden Massen stehen, über den Abfalltonnen thronen, nicht wahr? Ich sage zu oft nicht wahr, das kommt vermutlich davon, daß ich noch immer nicht aufgehört habe, nach der Zustimmung der Menschen zu suchen, eine Übereinstimmung zu finden, wie töricht.

Wie auch immer, ich sehe, daß Sie stehen bleiben wollen, was mich vermuten läßt, daß Sie ungeduldig sind. Keine Angst, der kurz gewordene Atem, das Rasseln in der Lunge, das Schnappen nach Luft, nicht nur bei mir, es scheint, als handle es sich um eine allgemeine Kurzatmigkeit, die garantiert, daß wir irgendwann aufhören müssen, aufhören werden, eine große Stille, aber auch das kommt erst später, das hieße das Ende vorwegnehmen, das Ende kommt erst, sozusagen am Schluß, während wir beginnen, Anfang zu spielen.

Gegenwärtige Lage: Ich bin wieder in meinem alten Zimmer, kein Gefängnis, immerhin, Samtvorhänge, das Bett hier, der Tisch vollgeräumt, sodaß nicht einmal Ihre Ell­bogen Platz haben werden, die Kommode rechts von Ihnen, links von mir der Waschtisch. Kein Ort, an dem man sich sorglos zu Ende verschwendet, obwohl er wahrscheinlich unermeßlich ist. Die schwachen Lichtsäume deuten eine Ferne an, die ich nicht kenne, obwohl sie wahrscheinlich unermeßlich ist.

Fest steht: Ich lebe nunmehr seit fünf Monaten hier. Jählings, eines Tages, nein, allmählich, aber doch jählings konnte ich nicht mehr weiter. Jemand sagte mir, daß ich bleiben müsse. Ich wollte trotzdem weiter, ich konnte nicht mehr. Jemand, derselbe Mensch, sagte mir, daß ich versorgt werden würde, wenn ich bliebe, ich müsse bleiben, sonst wisse man nicht, wohin man meine Rente schicken solle, anscheinend ist für alles gesorgt. Wer so gütig ist, mir eine Rente zu gewähren, weiß ich nicht. Vielleicht die Unfallversicherung, es ist genug Geld im Haus, glaube ich, ich wollte trotzdem fort, obwohl ich hierher wollte, aber anders. Man hat mir, jemand hat mir gesagt, daß es nicht mehr an mir sei, Bedingungen zu stellen. Ich ergab mich bis auf das Aufbegehren im Kopf dann und wann, keine heroische Geste, sie werden mich nicht mehr holen kommen, und wenn, dann erst, nachdem alles vorbei ist. Diesmal werden sie warten, daß ich ihnen die Arbeit abnehme. Es lohnt anscheinend nicht mehr, mich früher zu holen. Nebenbei: Es hätte sich auch früher nicht ausgezahlt, als ich mich noch hinausgewagt habe, in die Welt, in den Wald, über die Schneegrenze der Gebirge, in Städte. Wenn ich wollte, könnte ich beschwören, daß ich unter Menschen war, dort liegen meine Zeugen. Dinge, es sind bloß Dinge, die an sie erinnern, es ist nur eine Feder von Ikarus Flügel, aber es ist sein Schrei. Eine Seemöwe flog gegen sein linkes Auge, und als er aufbrüllte, versehentlich gegen sein rechtes, sie hatte es nicht so gemeint, sie hatte gar nichts gemeint, sie konnte nichts meinen, sie hatte sich verirrt, aber er war nun blind und sah plötzlich, was der Vater getan hatte. Es war nicht über dem Meer, wie man allgemein erzählt, er flog über einer Stadt dahin, das ist falsch, es war keine Stadt, eine Festung war es, und sie, irgendjemand unter ihm, heizte die Öfen, und da dachte Ikarus, daß er, wenn er landete, zwischen den zerborstenen Steinen und dem Gestank verbrannten Fleisches würde beginnen müssen, er hatte noch sein ganzes Leben vor sich, er sollte dort unten beginnen, er würde die Schulden des Vaters zu bezahlen haben, er würde sich sein Leben lang schinden müssen und es doch nicht schaffen, da vergaß er aufs Fliegen, das ist alles. Keine Gutenachtgeschichte. Er stürzte in einen Schornstein, das war alles. Manchmal erzähle ich mir diese Geschichte zusammen mit anderen, die ich gehört habe, Geschichten, die mir der Andere erzählte, die man mir erzählte, abends vor dem Einschlafen, tagsüber vor dem Einschlafen, vor dem Einschlafen jedenfalls, in einer Dämmerung ohne Sonne und Tag, in einer fensterlosen Finsternis, lassen Sie es bitte dunkel, ich will keine Sonnenaufgänge mehr beobachten. Früher habe ich gern zugeschaut, wenn die Sonne morgens aufging. Zuerst wurde das Grau der Häuserfront gegenüber hell, dann plötzlich licht, und jedes Mal geschah das überraschend. Sosehr ich mich auch bemühte, genau hinzusehen, immer stand die runde Scheibe der Sonne plötzlich über den Dächern. Abends sah ich zu, wie sie hinter dem Schornstein versank. Nun will ich nicht mehr. Ich will mich nicht mehr ablenken lassen. Ich werde bald tot sein, ich meine, ganz tot. Da sind Versäumnisse unaufholbar. Ich muß die Geschichten zu Ende bringen, wie anders die gestellten Fragen beantworten.

Wer meine Rückführung in dieses Zimmer veranlaßt hat, weiß ich nicht. Fürsorgebeamte vielleicht oder Angestellte des Spitals, in dem ich mich zuletzt aufgehalten habe. Jedenfalls waren es vier Männer, der Fahrer des Krankenwagens, zwei Träger und dann noch ein Mann, der mir eine Menge Fragen stellte. Ich konnte sie alle nicht beantworten, und er übergab mich dieser alten Frau, die mich seither versorgt. Sie kocht und kümmert sich um die Post. Was sie sonst noch in den anderen Räumen tut, weiß ich nicht. Ich höre sie trippeln und schnauben. Manchmal kommt sie und fragt, was sie kochen soll. Sie achtet darauf, daß ich meine Medizin nehme und aufesse, das ist der Grund, warum ich immer dicker werde. Mein Bauch wächst und wächst, und noch immer steht diese alte Hexe da und füttert mich. Ich glaube, sie wird dafür bezahlt. Es darf nichts übrig bleiben. Es darf von uns nichts übrig bleiben. Sie will Ordnung machen, aber dies ist mein Leben, all diese Dinge, die man mir gütigerweise nachgebracht hat, meine Sammlung, ein ganzes Zimmer voll Dinge, die Sie in der Dämmerung schimmern sehen. Plunder, sagte die alte Frau, mein Leben, antworte ich, ein sozusagen nach außen gestülpter Bauch, die Dokumentation abgedienter Zeiten. Jedes Stück eine Geschichte, was sage ich, ein Kosmos für sich. Da, wenn Sie hingreifen nach dem brüchigen Stoff, dem vermodernden Holz, haben Sie in Händen, womit wir unsere Geschichte schreiben. Dinge, denen die Welt den Sinn genommen hat. Das sind wir, erschrecken Sie nicht, Ihnen wird es noch eine Weile anders erscheinen. Ich rede vom Später. Vom Danach, wenn wir schon gesehen haben, wie der Himmel, in kleine Parzellen der Seligkeit aufgeteilt, der weite Bogen in Stückwerk zerbricht. So viele Anfänge und kein Ende. So viele Enden und kein Anfang. Man muß darüber reden, ehe es zu spät ist, wiewohl es immer zu spät ist oder zu früh, was auf das Gleiche hinausläuft.

Ja, läuft es? Ich weiß es nicht. Der Mann, der mir diese Fragen stellte, sagte, ehe er ging, ich könne sie auch schriftlich beantworten. Er war in der Zwischenzeit schon einmal hier, nicht auf Besuch, aber hier und las kurz meine Notizen. Es war wohl nicht das, was er wollte. Er gab mir alles zurück und verwies mich auf die Listen, die ich ausfüllen sollte. Nach seiner Aussage braucht er sie. Es handelt sich um eine Art statistische Erhebung. Ich sagte ihm, daß ich von solchen Dingen nichts verstünde. Er meinte, daß das nicht nötig sei, ich möge die entsprechenden Kästchen ankreuzen, beim Ausfüllen der anderen Fragen sei er mir gern behilflich. Ich antwortete ihm, daß ich es allein versuchen wolle. Erst nachdem er gegangen war, wurde mir klar, daß ich damit zugesagt hatte weiterzumachen.

Ich habe mir die Listen angesehen, trotz der schwachen Augen. Die Dauer meiner Tätigkeit, die Orte meiner Engagements, Vertragskopien, Sozialversicherung. Vermutlich hat sie die Direktorin abgeschlossen, bei der ich zuletzt engagiert war. Ich glaube, heutzutage ist so etwas Pflicht, aber ich habe mich niemals darum gekümmert. Ich habe fast immer...

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Marianne Gruber geboren 1944 in Wien, wo sie heute als freie Schriftstellerin lebt. Sie studierte Klavier am Konservatorium der Stadt Wien sowie mehrere Semester Medizin und Psychologie bei Victor E. Frankl. Ausgezeichnet u.a. mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur 1997. Zahlreiche Publikationen, u. a. Die gläserne Kugel. Roman (1981), Zwischenstation. Roman (1986), Der Tod des Regenpfeifers. Zwei Erzählungen (1991) sowie Beiträge für den Hörfunk und für Anthologien. Bei Haymon: Ins Schloss. Roman (2004).