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Der Schmerz der Gewöhnung

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
296 Seiten
Deutsch
Haymon Verlagerschienen am24.07.20131. Auflage
Mit seinem neuen großen Roman knüpft Joseph Zoderer an seine berühmten Epen aus Südtirol an: Er erzählt die Tragödie eines Mannes, dessen Leben bestimmt wird von einem Land zwischen zwei Kulturen und zwei Sprachen, im Zentrum einer gewaltsamen europäischen Geschichte.

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther von-der Vogelweide-Preis (2005). Vom Autor des Romans Die Walsche (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen zuletzt: Der Himmel über Meran. Erzählungen (2005), Liebe auf den Kopf gestellt. Lyrik (2007) sowie bei Haymon: Das Glück beim Händewaschen. Roman (HAYMONtb 2009), Die Farben der Grausamkeit. Roman (2011) und Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen (2012).
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Produkt

KlappentextMit seinem neuen großen Roman knüpft Joseph Zoderer an seine berühmten Epen aus Südtirol an: Er erzählt die Tragödie eines Mannes, dessen Leben bestimmt wird von einem Land zwischen zwei Kulturen und zwei Sprachen, im Zentrum einer gewaltsamen europäischen Geschichte.

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther von-der Vogelweide-Preis (2005). Vom Autor des Romans Die Walsche (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen zuletzt: Der Himmel über Meran. Erzählungen (2005), Liebe auf den Kopf gestellt. Lyrik (2007) sowie bei Haymon: Das Glück beim Händewaschen. Roman (HAYMONtb 2009), Die Farben der Grausamkeit. Roman (2011) und Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen (2012).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783709976715
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum24.07.2013
Auflage1. Auflage
Seiten296 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1847 Kbytes
Artikel-Nr.2445922
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
14

Als sie sich zum erstenmal alleine in einer Großstadt trafen, in Rom, kam Mara in blauverwaschenen Jeans und einer Strohtasche, worin sie ihre paar Sachen hatte, aus ihrer Universitätsstadt Mailand, nach Tagen von Straßenkämpfen mit der Polizei (in ihrer Hochschule hatten sie Arbeitslose und Obdachlose zu Hunderten einquartiert und sich mit ihnen verbarrikadiert). Sie kam mit dem Morgenzug kurz nach sieben. Er wartete am Ende des Bahnsteigs im Gewühl der Ankommenden und Abreisenden und sah sie trotzdem sehr schnell, ihr weißes, schmales Gesicht, fast ohne Lächeln, die Augen scheinbar gesenkt, da kam sie mit müde geschwenkter Strohtasche, ihrem einzigen Gepäck, auf ihn zu. Sie liebten sich in einem rottapezierten Attica-Zimmer, das man nur über einer offenen Dachterrasse des Hotels erreichen konnte. Und nachdem sie auf ausgebreiteten Zeitungen, noch immer auf dem Bett, Wurst und Käse, auch kalte Hühnerstücke, zusammen mit Oliven und Essiggurken gegessen und Wein dazu getrunken hatten, lasen sie gemeinsam in dem Roman »Vogliamo tutto«. Ein wenig irritierte, ja befremdete ihn dieses Buch oder das Lesen darin, andererseits aber verstärkte diese Mischung von intimer Existenz und politischer Solidarität sein Daseinsgefühl, vor allem diese Liebe, und ließ ihn alles intensiver erleben, bewußter und weltverbundener.

Sonntags sonnten sie sich auf der Treppe der Piazza di Spagna, mit der Zeitung in der Hand, lasen von den Rückschlägen der Amerikaner in Vietnam, bummelten durch die Via Babbuino zur Piazza del Popolo, tranken unterwegs in einer Bar ein Glas Martini dry mit grüner Olive, schauten durch das Auslagenglas der Feltrinelli-Buchhandlung und lasen später auf den Marmorquadern des Forum Romanum wieder in »Vogliamo tutto«.

Wie das alles zugedeckt, so tief vergraben werden kann, sagte Mara damals in Rom, ich merke, wie unfähig ich bin, die Bilder wiederzufinden für meinen Vater. Oder hat man, fragte sie sich, mit einem Vater doch nicht viel Gemeinsames? Ihr Vater sei für sie vor allem abwesend gewesen, die meiste Zeit einfach nicht dagewesen, und wenn er zu Hause war, habe er gearbeitet -, und da mußten wir alle auf Zehenspitzen gehen. Ihr Vater habe sie oft in sein Arbeitszimmer gerufen, auf dessen Boden ein ockerfarbener Teppich lag, die Vorhänge aus goldglänzendem Damast (für Mara waren sie aus goldener Seide, damals). Hinter dem Tisch die Bücherstellage aus Nußholz, an der Wand gegenüber ein altes Madonnenbild aus seiner Geburtsstadt Agrigento. Auf dem im Barockstil nachgemachten Tisch - er hatte Holzwurmlöcher, worauf der Vater stolz gewesen sei wie auf einen Altertumsbeweis - mußte Mara für den Vater multiplizieren und dividieren. Oft eine halbe, manchmal auch eine ganze Stunde lang. Sie tat dies nicht besonders gerne, ihr Vater habe sehr schnell die Geduld verloren, habe sie angeschrien: Rechne genau, kontrollier noch einmal, bist du ganz sicher, daß alles so stimmt, hast du dich nicht verrechnet? Sie sei ihm gegenüber gesessen an dem schweren Tisch, auf dem sich immer Berge von Papieren getürmt hätten. Er habe ihr nur kleinformatige Blätter gegeben, eine Art Blockzettel, es sei auch wenig Platz gewesen auf diesem Tisch zwischen den Aktentürmen. Während ich rechnete, erzählte Mara, stand er meistens auf und sah mir über die Schulter oder er ging auf und ab, und wenn ich mit allem fertig war, sagte er: Geh jetzt. Wahrscheinlich überdachte er, was herausgekommen war, und wollte nicht gestört sein.

Wann immer Mara von ihrer Kindheit erzählte, stand stets der Vater im Vordergrund, und vor allem sein Tod, der ihr den ersten und größten Verlust zugefügt hatte: An jenem Jahreswechsel im winterlichen Ferienhaus, mitten in den Vertrautheitstagen zwischen Weihnachten und Neujahr, plötzlich dieser Herzinfarkt und kein Arzt zu erreichen in dieser Feiertagszeit, genau an Silvester.

Damals, als Mara das letzte Jahr in die Oberschule ging, sprachen die italienischen Sportlehrer in Bozen den Namen ihres Vaters noch fast ehrfürchtig aus. Sein Name stand hier für das Erziehungssystem der Jugend unter Mussolini, er war für die Ausbildung der jungen Faschisten, für ihre sportliche und geistige Entwicklung verantwortlich gewesen. Aber Mara behauptete, sie habe sich nie besonders um die Vergangenheit ihres Vaters gekümmert. Als Jul sie einmal (noch vor Natalies Geburt) fragte, ob sie in ihrer Schulzeit etwas von der faschistischen Karriere des Vaters zu spüren bekommen habe, sagte sie mit einem halben Lächeln: Meine italienische Turnlehrerin behandelte mich besonders streng, anscheinend weil ich die Tochter von dem und diesem war, ich sollte wohl so etwas wie ein sportliches Vorbild abgeben. Ganz anders sei es ihr in der Volksschule ergangen, die sie in deutschen Klassen am Fuße des Skiberges »Kronplatz« besucht hatte. Sie habe sich von Anfang an als etwas anderes als ihre Mitschülerinnen gefühlt, nicht als etwas Besseres oder Minderes, bloß als etwas anderes: Ich spürte, daß ich irgendwas nicht gemeinsam mit den anderen hatte, wußte aber nicht, was, später dachte ich - weil ich keinen deutschen Vater hatte.

Maras jüngerer Bruder Carmine, den Jul ebenfalls in der Garage kennengelernt hatte als einen linken Aktivisten, auch Carmine hatte sich angeblich nie belastet gefühlt von der Vergangenheit seines Vaters. Das erste, was mir in den Sinn kommt, wenn ich an meinen Vater denke, hatte er zu Jul gesagt, ist sein Brüllen, sein Schreien, Papà war einer, der immer laut sein mußte, jedenfalls bei uns zu Hause. Und einer, der - ganz gleich, ob in der Stadtwohnung oder im Ferienhaus am Land - sich stets mit vielen Menschen umgab, Freunden, Bekannten, Geschäftspartnern, immer schleppte er Gäste an, und Mama kochte und kochte, und wenn irgend etwas nicht so war, wie er es haben wollte, dann brüllte er los.

Carmine erzählte das in einem Tonfall, der ohne Vorwurf war, eher etwas wie Verständnis, auch Zuneigung anklingen ließ. Seine Augen zwinkerten belustigt. Carmine sprach von seinem Vater wie von einem, der in der Familie ein geliebter Kauz (oder ein geliebter Fremder?) gewesen war, einer, den man gern hatte und doch belächelte, jedenfalls jetzt, lange nach seinem Tod. So unbefangen wie Mara erzählte, daß sie sich auf Wunsch der Mutter in das Studio geschlichen habe und, während Papà dort sein Mittagsschläfchen hielt, aus seiner über einen Stuhl gehängten Jacke die Geldtasche herausstibitzte, so erzählte Carmine schmunzelnd von dem Barometer, auf dem sie dem Vater mehr als einmal Schönwetter-Aussichten herbeigeschwindelt hätten, Papà habe nämlich eine Art meteorologischen Tick gehabt und sich einen Dosenbarometer ins Speisezimmer gehängt, morgens, mittags und abends, vor und nach jeder Mahlzeit habe er einen prüfenden Blick daraufgeworfen, und da er sich bei Schlechtwetteraussichten immer ärgerte, hätten sie manchmal heimlich die drehbare der zwei Lanzetten so eingestellt, daß Papà sich auf einen Sonnentag habe freuen können, wenigstens ein paar Stunden lang.

Eine andere Marotte sei die Absicherung der Besitzgrenzen gewesen, im besonderen rund um das Ferienhaus. Papà habe zu diesem Zweck eines Tages eine große Anzahl von riesigen, leeren Blechdosen herangeschafft, Dosen, die einmal zehn Kilogramm Marmelade gefaßt hatten, er, Carmine, habe sie (und wie stolz er auf diese Aufgabe gewesen sei!) mit Zement und Wasser füllen müssen - als eine Art Marksteine hätten diese Betondosen den Besitz abgrenzen sollen, da sie aber nie in die Erde versenkt worden seien, hätten die Nachbarn sie beliebig verrücken können.

Über Politik hatte Carmine angeblich nie mit seinem Vater geredet. Carmine war sechzehn, als sein Vater starb. Meine Freunde, gab er beim Mittagessen an einem Sonntag in ihrem Berghaus, kaum zwei Jahre nach Natalies Tod, zu bedenken, waren Italiener wie ich, keine deutschen Südtiroler, und sie hatten eigentlich alle ehemalige Faschisten als Väter. Mussolini hat nun einmal keine Kommunisten heraufgeschickt, um das deutsche Etschland zu italianisieren. Wie hätte ich Söhne von italienischen Kommunisten oder Sozialisten meines Alters kennenlernen können? Er war sich in diesem Augenblick seiner Distanz zur Vatervergangenheit so gewiß, daß er lachen konnte.

Carmine hatte eine begeisternde Pfadfinderzeit hinter sich, war mit sechzehn ein Oberfuchs gewesen. Schon ein paar Jahre zuvor waren in einer Herzjesu-Nacht (was Herzjesu für Andreas Hofer-Tiroler bedeutete, begannen die Italiener im Lande erst damals allmählich zu erfahren) Dutzende von Strommasten in die Luft geflogen, die Landeshauptstadt Bozen war ohne Strom, Licht und Telefon. Und dann explodierten nicht nur Hochspannungsleitungen, sondern auch fast fertiggestellte Wohnbauten, die für italienische Zuwanderer aus dem Süden geplant waren.

Italien hatte den Südtirolern nach dem Zweiten Weltkrieg ihre kulturellen Rechte als Minderheit garantieren müssen, hatte aber dieses Versprechen dann die längste Zeit nicht eingehalten. Carmine wußte davon nichts, er wußte nur von den Anschlägen auf die Brenner-Bahnlinie, auf die »heiligen Gebeinhäuser« der angeblich in...
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Autor

Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther von-der Vogelweide-Preis (2005). Vom Autor des Romans Die Walsche (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen zuletzt: Der Himmel über Meran. Erzählungen (2005), Liebe auf den Kopf gestellt. Lyrik (2007) sowie bei Haymon: Das Glück beim Händewaschen. Roman (HAYMONtb 2009), Die Farben der Grausamkeit. Roman (2011) und Mein Bruder schiebt sein Ende auf. Zwei Erzählungen (2012).