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Die letzten Tage meiner Kindheit

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
239 Seiten
Deutsch
Bastei Lübbeerschienen am27.04.20181. Aufl. 2018
'Die Welt ist eingeteilt in wir und sie. Wir sind mehr, aber wir verlieren immer.' Diese Lektion lernt Lluc schon früh. Am letzten Tag des Spanischen Bürgerkriegs muss der Achtjährige mitansehen, wie seine Mutter erschossen wird. Bei der fürsorglichen Senyora Stendhal findet er ein neues Zuhause - und verliert es schon bald wieder. Lluc sinnt auf Rache. Er träumt davon, in die Berge zu ziehen und sich dem Widerstand gegen Franco anzuschließen. Denn er will nicht sein Leben lang auf der Seite der Verlierer stehen ...



Rafel Nadal kann besser schreiben als Tennis spielen. Der Journalist und Schriftsteller wurde 1954 in Girona geboren. Er schreibt für die Tageszeitung La Vanguardia sowie für mehrere Radio- und Fernsehsender. Sein bislang erfolgreichster Roman Das Vermächtnis der Familie Palmisano stand zwanzig Wochen in Folge auf der spanischen Bestsellerliste und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
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Produkt

Klappentext'Die Welt ist eingeteilt in wir und sie. Wir sind mehr, aber wir verlieren immer.' Diese Lektion lernt Lluc schon früh. Am letzten Tag des Spanischen Bürgerkriegs muss der Achtjährige mitansehen, wie seine Mutter erschossen wird. Bei der fürsorglichen Senyora Stendhal findet er ein neues Zuhause - und verliert es schon bald wieder. Lluc sinnt auf Rache. Er träumt davon, in die Berge zu ziehen und sich dem Widerstand gegen Franco anzuschließen. Denn er will nicht sein Leben lang auf der Seite der Verlierer stehen ...



Rafel Nadal kann besser schreiben als Tennis spielen. Der Journalist und Schriftsteller wurde 1954 in Girona geboren. Er schreibt für die Tageszeitung La Vanguardia sowie für mehrere Radio- und Fernsehsender. Sein bislang erfolgreichster Roman Das Vermächtnis der Familie Palmisano stand zwanzig Wochen in Folge auf der spanischen Bestsellerliste und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783732556106
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum27.04.2018
Auflage1. Aufl. 2018
Seiten239 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2510021
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Ursprünglich hatte ich das Antiquariat bloß betreten, um mich vor dem Regen in Sicherheit zu bringen, doch als ich wieder herauskam, hielt ich einen Schatz in den Händen.

Über Gironas Altstadt ging eine Sintflut nieder. Die von den Ziegeldächern herabstürzenden Wassermassen brachten die Kanäle zum Überlaufen und ergossen sich in Strömen von der Placeta de l Institut Vell die Carrer de la Força hinab. Mein Mantel troff, und meine Schuhe waren pitschnass. Verzweifelt blickte ich mich nach allen Seiten um, doch ich konnte nirgends einen Balkon oder Hauseingang entdecken, wo ich mich hätte unterstellen können. Also rannte ich die Straße hinauf. Als ich in eine Pfütze trat, drang die Nässe bis zu meinen Strümpfen.

Ein Blitz tauchte die Kathedrale in helles Licht, und kurz darauf dröhnte die gesamte Altstadt. Der Regen prasselte noch heftiger. Ich lief weiter bis ans obere Ende der Straße und stand unversehens im Eingang von Cortés Antiquariat. Endlich im Trockenen schüttelte ich mich wie ein nasser Hund und drückte die Tür auf.

Im Laden schlug mir ein infernalischer Lärm entgegen. Unter lautem Lachen flatterten zwei Japanerinnen, ein uraltes Weiblein und eine junge Frau, zwischen den Stapeln alter Bücher und Zeitschriften umher. Überschwänglich hüpften sie von einem Bein aufs andere, tanzten und juchzten, bis ihnen vor Lachen fast die Luft ausging, dann fielen sie einander in die Arme, und das Ganze fing von vorne an. Sie konnten sich gar nicht mehr beruhigen. Der Antiquar hatte mein Eintreten nicht bemerkt. Strahlend beglückwünschte er die beiden Japanerinnen, die mit ihren hochroten Köpfen aussahen, als stünden sie kurz vor einem Herzanfall.

Da mir niemand Beachtung schenkte, verzog ich mich diskret in die Ecke mit den alten Postkarten und verschanzte mich hinter den Kästen, die der Buchhändler nach Themen und Ortschaften geordnet hatte. Achtlos ließ ich die Fotos und Ansichtskarten durch die Finger gleiten, weil ich meinen Blick nicht von den Japanerinnen abwenden konnte. Gerührt und mit Freudentränen in den Augen fielen die beiden Frauen einander abermals in die Arme. Nach einer ganzen Weile drückte ihnen der Antiquar unter tiefen Verbeugungen, die der Übergabe einen feierlichen Anstrich verleihen sollten, einen Umschlag in die Hand. Die Frauen bezahlten, und bevor sie in den Regen hinaustraten, drückten sie zu meiner wachsenden Verblüffung auch ihn an die Brust. Noch nie hatte ich eine Japanerin einen Fremden mit einer solchen Selbstverständlichkeit umarmen sehen. Cortés begleitete die beiden zur Tür und winkte ihnen nach, bis sie auf ihrem Weg die Straße hinab, unter zwei roten Regenschirmen, verschwunden waren.

Schmunzelnd trat Cortés zurück in den Laden. Mit einem ungläubigen Kopfschütteln setzte er sich und machte sich daran, die aussortierten Postkarten einzusammeln, die auf der Verkaufstheke liegen geblieben waren. Plötzlich schrak er zusammen. Er hatte mich hinter den Schachteln mit den alten Ansichtskarten entdeckt. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre von seinem Hocker gefallen.

»Donnerwetter, Lluc, bist du schon lange da? Ich habe dich nicht hereinkommen sehen.«

»Lange genug, um die Sache mit den Japanerinnen mitzubekommen. Was hatte das denn zu bedeuten?«

Die beiden japanischen Touristinnen, Großmutter und Enkelin, waren in den Laden gekommen, um sich alte Postkarten anzuschauen, ein Ritual, dem sie offenbar schon seit Jahren frönten: Wo auch immer sie auf ihren Reisen hinkamen, verbrachten sie viele Stunden damit, nach alten Postkarten aus Japan zu suchen, stets voller Hoffnung, eine ganz bestimmte Ansicht ihrer Heimatstadt Nagasaki vor der Zerstörung durch eine der beiden amerikanischen Atombomben am Ende des Zweiten Weltkrieges zu finden. Erfolglos hatten sie Antiquariate in der halben Welt durchstöbert, bis sie an diesem Nachmittag, in einer Ecke des Globus, in der sie es am wenigsten erwarteten, die ersehnte Karte aufgespürt hatten. Sie hatten ihr Glück kaum fassen können!

Aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz war den beiden Japanerinnen ein Satz mit fünf unbeschriebenen, neuwertigen Schwarz-Weiß-Postkarten in die Hände gefallen, die alle dasselbe Motiv zeigten. Auf den Karten waren eine breite Straße in Nagasaki und die Fassaden zweier Wohnhäuser zu sehen, wie sie in den zwanziger Jahren ausgesehen hatten, lange vor dem Krieg. In der unteren Ecke des Bildes konnte man rechts neben dem ersten Gebäude deutlich eine Toreinfahrt für die Warenanlieferungen sowie eine ausladende Markise aus Segeltuch erkennen, die vor einem großen Lebensmittelladen Obst- und Gemüsekisten vor Sonne und Regen schützte. Das Geschäft hatte der Familie der beiden Frauen gehört, die soeben das Antiquariat verlassen hatten. Vor dem Laden standen zwei Gestalten Hand in Hand und posierten für die Kamera: eine Frau mittleren Alters und ein kleines Mädchen, die Tochter, aus der inzwischen ebenjene japanische Großmutter geworden war, die an diesem Nachmittag in Cortés Antiquariat in Gironas Altstadt ihrer Freude so überschwänglich Ausdruck verliehen hatte. Die Markise und der Laden, die auf den Postkarten abgebildet waren, erstreckten sich weit über das erste Wohnhaus hinaus bis ins Erdgeschoss des Nachbargebäudes. Die Detonation der Atombombe am 9. August 1945 hatte beide Häuser in Schutt und Asche gelegt und jede Spur des ungewöhnlichen Grundrisses ausgelöscht. Beim Wiederaufbau der Stadt hatten dann einflussreiche Nachbarn der Familie den Besitz streitig gemacht. Ohne Pläne und Fotos der ursprünglichen Gebäude hatten sie nie einen Beweis für ihren Anspruch erbringen können und ihre Rechte daran verloren. Die Ansichtskarten, die die beiden Frauen an diesem Tag in Girona entdeckt hatten, weckten in ihnen neue Hoffnung. Fünfundvierzig Jahre nach der furchtbaren Explosion hielt die Familie der Ladenbesitzer nun erstmals ein Beweisstück in Händen, um ihr Besitzrecht an dem Grundstück geltend zu machen.

Wie die fünf Postkarten der japanischen Stadt letztlich in Katalonien gelandet waren, blieb ein Rätsel. Und ein ebensolches Mysterium war, wieso es die beiden Frauen ausgerechnet in das Antiquariat von Cortés verschlagen hatte, dem der scheinbar uninteressante Satz Karten ein paar Monate zuvor bei der Auflösung der prächtigen Altbauwohnung einer französischen Familie im Eixample-Viertel von Barcelona in die Hände gefallen war.

Der Bericht des Antiquars ging mir unter die Haut. Mit neu erwachter Aufmerksamkeit machte ich mich abermals daran, die Kästen mit den alten Postkarten zu durchforsten. Für meine Sammlung legte ich zwei Aufnahmen aus den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts zur Seite, die Dörfer an der Küste zeigten, beide mit einer blühenden Agave im Vordergrund und einem ausgedehnten Steinbrechteppich ringsum. Eine Serie von Schwarz-Weiß-Fotografien zeigte Frauen, die vor einer der Fabriken in der Gegend des Baix Empordà oder Selva Wein- und Sektkorken sortierten. Dann fiel mir eine Postkarte ins Auge, auf der in der Ferne mein Dorf zu Füßen der Guilleries zu sehen war, mit den schneebedeckten Gipfeln der Pyrenäen im Hintergrund. Als Letztes öffnete ich eine Schachtel, die randvoll war mit Postkarten von Landstraßen. Ich blätterte durch Bilder von Berg- und Küstenstrecken, von Straßen, die sich wie Flüsse durch die Täler schlängelten, und anderen, die auf geradem Wege die weiten Ebenen des Landes durchmaßen, von asphaltierten Fernstraßen und Schotterpisten aus Kieseln oder vulkanischem Gestein, von Straßen, die sich schnurgerade durch Maisfelder zogen oder als verschlungene Waldpfade zu den Pässen des Hochgebirges emporklommen.

Und dann erblickte ich plötzlich die Landstraße mit den Bäumen. Das Schwarz-Weiß-Foto war gestochen scharf, und es bestand kein Zweifel: Diese Landstraße war unverwechselbar. Im Vordergrund lag die pfeilgerade Platanenallee, die zwischen den Baumschonungen hindurchführte. Dahinter kamen die Abzweigung zum Dorf, der Kanal, die Stelle mit dem Badesee und schließlich die ersten Kurven, die zwischen Eichen und Steineichen in die Berge hinaufführten. Ich stieß einen Freudenschrei aus, und Cortés zuckte zusammen.

»Was ist?«

»Diese Buchhandlung wurde von einem Engel berührt«, erklärte ich andächtig.

Ich bezahlte die Postkarten und trat hinaus auf die Straße. Nun, da ich das Antiquariat verließ, beherrschte mich nur ein einziger Gedanke: Ich musste den kostbaren Fund Senyora Stendhal zeigen. Bevor ich mich auf den Heimweg machte, würde ich also in der Wohnung an der Plaça de Sant Agustí vorbeischauen.

Der Wolkenbruch wollte kein Ende nehmen. Ich steckte den Umschlag mit den Postkarten in die Innentasche meines Mantels und eilte, ungeachtet des Unwetters, die Straße hinab. Unterwegs war keine Menschenseele zu sehen. Die Touristen waren wie vom Erdboden verschluckt, und die an Überschwemmungen gewöhnten Einheimischen standen zu Hause hinter den Fenstern und beäugten sorgenvoll den Regen. An der Treppe bei der Alten Post wurde der Sturzbach, der die Carrer de la Força hinabrauschte, zum Wasserfall, und ich spürte erneut, wie die Nässe in meine Schuhe drang. Unbeirrt hastete ich weiter. Auf der Sant-Agustí-Brücke attackierte mich der vom Wind gepeitschte Regen von der Seite. Der Wasserstand des Onyar streifte schon die verglasten Veranden der Häuser. Als ich endlich die Arkaden der Plaça de Sant Agustí erreicht hatte und ins Trockene trat, sah ich, wie hinter dem letzten Bogen in einer Touristengruppe, die soeben in einen Reisebus stieg, zwei rote Regenschirme zusammengefaltet wurden.

Das Restaurant Stendhal lag im Halbdunkel, und ein Kellner, der hinter der Theke Gläser abtrocknete, teilte mir mit, Senyora Stendhal sei zur Plaça de Sant Pere gegangen, um Maria einen Besuch...
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Rafel Nadal kann besser schreiben als Tennis spielen. Der Journalist und Schriftsteller wurde 1954 in Girona geboren. Er schreibt für die Tageszeitung La Vanguardia sowie für mehrere Radio- und Fernsehsender. Sein bislang erfolgreichster Roman Das Vermächtnis der Familie Palmisano stand zwanzig Wochen in Folge auf der spanischen Bestsellerliste und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Die letzten Tage meiner Kindheit