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Ein mögliches Leben

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
352 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am23.02.2018Auflage
Ein junger Mann begleitet seinen Großvater auf eine Reise in die deutsche Vergangenheit, durch die sich für ihre Familie alles ändert Ein Wunsch, den Martin seinem Großvater Franz nicht abschlagen kann: eine letzte große Reise unternehmen, nach Amerika, an die Orte, die Franz seit seiner Gefangenschaft 1944 nicht mehr gesehen hat. Martin lässt sich auf dieses Abenteuer ein, obwohl er den Großvater eigentlich nur aus den bitteren Geschichten seiner Mutter kennt. Unter der sengenden texanischen Sonne, zwischen den Ruinen der Barackenlager, durch die Begegnung mit den Zeugen der Vergangenheit, werden in dem alten Mann die Kriegsjahre und die Zeit danach wieder lebendig. Und endlich findet er Worte für das, was sein Leben damals für immer verändert hatte. Mit jeder Erinnerung, mit jedem Gespräch kommt Martin seinem Großvater näher, und langsam beginnt er die Brüche zu begreifen, die sich durch seine Familie ziehen. Er erkennt, wie sehr die Vergangenheit auch sein Leben geprägt hat und sieht seine eigene familiäre Situation in einem neuen Licht. Ein vielschichtiger Roman über die tiefen Spuren, die der Krieg bis heute in vielen Familien hinterlassen hat.

Hannes Köhler, geboren 1982 in Hamburg, lebt als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Studium der Neueren deutschen Literatur und Neueren/Neuesten Geschichte in Toulouse und Berlin. 2011 erschien der Debütroman In Spuren (mairisch). Hannes Köhler war u.a. Teilnehmer der Prosawerkstatt im LCB, Stadtschreiber in Kitzbühel, Stipendiat der Stiftung Preußische Seehandlung und des Goldschmidt-Programms für deutsch-französische Literaturübersetzung. Für Ein mögliches Leben unternahm er eine zweimonatige Recherchereise in die USA und führte zahlreiche Zeitzeugengespräche.
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Produkt

KlappentextEin junger Mann begleitet seinen Großvater auf eine Reise in die deutsche Vergangenheit, durch die sich für ihre Familie alles ändert Ein Wunsch, den Martin seinem Großvater Franz nicht abschlagen kann: eine letzte große Reise unternehmen, nach Amerika, an die Orte, die Franz seit seiner Gefangenschaft 1944 nicht mehr gesehen hat. Martin lässt sich auf dieses Abenteuer ein, obwohl er den Großvater eigentlich nur aus den bitteren Geschichten seiner Mutter kennt. Unter der sengenden texanischen Sonne, zwischen den Ruinen der Barackenlager, durch die Begegnung mit den Zeugen der Vergangenheit, werden in dem alten Mann die Kriegsjahre und die Zeit danach wieder lebendig. Und endlich findet er Worte für das, was sein Leben damals für immer verändert hatte. Mit jeder Erinnerung, mit jedem Gespräch kommt Martin seinem Großvater näher, und langsam beginnt er die Brüche zu begreifen, die sich durch seine Familie ziehen. Er erkennt, wie sehr die Vergangenheit auch sein Leben geprägt hat und sieht seine eigene familiäre Situation in einem neuen Licht. Ein vielschichtiger Roman über die tiefen Spuren, die der Krieg bis heute in vielen Familien hinterlassen hat.

Hannes Köhler, geboren 1982 in Hamburg, lebt als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Studium der Neueren deutschen Literatur und Neueren/Neuesten Geschichte in Toulouse und Berlin. 2011 erschien der Debütroman In Spuren (mairisch). Hannes Köhler war u.a. Teilnehmer der Prosawerkstatt im LCB, Stadtschreiber in Kitzbühel, Stipendiat der Stiftung Preußische Seehandlung und des Goldschmidt-Programms für deutsch-französische Literaturübersetzung. Für Ein mögliches Leben unternahm er eine zweimonatige Recherchereise in die USA und führte zahlreiche Zeitzeugengespräche.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843717083
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum23.02.2018
AuflageAuflage
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2155 Kbytes
Artikel-Nr.2530937
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


I.

Als Martin erwachte, roch es nach Kaffee. Ein Kind weinte. Die Turbinen brummten gleichmäßig, eine leichte Vibration ging durch den Flieger und setzte sich durch die Lehne bis in seinen Arm fort. Seine Sitznachbarin hatte sich eine Decke der Fluggesellschaft bis zum Kinn gezogen und schlief, durch das Fenster hinter ihr sah er faserige Wolken, vom Licht der aufgehenden Sonne in Rot getaucht, darunter das Blau des Meeres, in der Ferne eine grüne Landfläche.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Der Alte stand im Gang und lächelte ihn an. Von unten sah Martin Härchen aus seiner Nase ragen.

»Geht es dir gut?«, fragte der Alte.

Martin nickte.

»Man muss laufen«, sagte sein Großvater, »ich habe das gelesen, man soll laufen wegen der Thrombose.«

Wieder nickte Martin.

»Ich habe diese Strümpfe an«, flüsterte der Alte, »da kommt man sich vor wie eine Dame für gewisse Stunden.«

Martin musste lachen.

»Du solltest auch aufstehen.«

»Werde ich, Opa. Ich muss erst mal wach werden.«

»Dann mach das mal«, sagte der Alte, »und komm mich besuchen. Ich werde noch ganz bräsig da oben.«

Als er weiterging, berührte er kurz mit der flachen Hand den Kopf seines Enkels. Martin saß regungslos in seinem Sitz, er sah den Fingern nach, die sich von seinem Kopf entfernten, sah den goldenen Ring, die Leerstelle kurz darüber, nach dem Gelenk nur dieser weiße Knubbel Narbengewebe, vor dem er sich als Kind so gefürchtet hatte. Diese Angst, ihm könnten Teile seines eigenen Körpers abfallen, wenn er den halben Finger an der rechten Hand seines Großvaters berührte.

»Und ich leg meine Hand auf die Hauswand ... und: Pamm, da hatten die Amis mir den Finger abgeschossen.«

Und zum Beweis hatte er immer die Hand emporgereckt, mit dem Stummel gewackelt und gelacht. Und der kleine Martin hatte ängstlich den Finger betrachtet, von dem er glaubte, er habe ein Eigenleben. Dass er den Ring nicht einfach am anderen Finger trug oder an der linken Hand. Wie eine Auszeichnung den Ehering ausgerechnet an diesem Stumpen zu tragen.

»Ach, der Finger«, hatte seine Mutter gesagt. »Da hab ich so viele Varianten gehört: ein Feuergefecht in Frankreich, ein Arbeitsunfall im Lager.«

»Und was glaubst du?«, hatte er gefragt.

»Dem glaube ich schon lange nichts mehr«, hatte sie geantwortet.

Martin schaute auf den Bildschirm in der Rückenlehne vor sich, betrachtete den kleinen weißen Flieger, der eine Linie hinter sich herzog, das Blau des Atlantiks schon fast überquert hatte und jetzt über dem großen Fischmaul des Sankt-Lorenz-Stroms schwebte. Martin sah die Geschwindigkeitsanzeige und rechnete nach: zweihundert Meter, jede Sekunde. Zweihundert Meter weiter weg, zweihundert Meter mehr nur er und der Alte, nur er und dieser Kontinent, nur er und die Geschichten von verlorenen Fingern und dem verlorenen Krieg.

Am Flughafen war seine Mutter völlig aufgedreht gewesen, sie war pausenlos hin und her gelaufen, hatte sich ständig geräuspert, gehustet, sie hatte ihn beiseitegenommen und ihm gesagt, er solle gut achtgeben auf seinen Großvater, auf seinen Schlaf, seine Medikamente, seine Ernährung. Und Martin hatte zum Alten geschaut, der ein wenig abseits bei ihren Koffern stand, sehr ruhig. Der Blick ein wenig trübe, wolkig, hatte Martin gedacht. Sein Großvater trug einen Anzug, hatte sich schick gemacht für die Reise, er sah elegant aus und gerade, sehr gerade. Martin dagegen fand sich krumm, verwachsen, ungepflegt in seiner Jeans und dem weiten, ungebügelten Hemd. Klein war das Wort, er hatte sich klein gefühlt, obwohl er den Alten beinahe um einen Kopf überragte.

»Dass er nicht übermütig wird«, hatte Barbara gesagt, und Martin hatte seine Mutter angelächelt und den Kopf geschüttelt. Wie mit Kindern sprach sie mit ihnen. Mit Martin immer noch und mit dem Alten jetzt erst. Das war es, was einen erwartete, dachte er, nur dass sie sich nicht traute, es ihrem Vater direkt zu sagen. Er versuchte, sich Judith vorzustellen, als erwachsene Frau, in vierzig oder fünfzig Jahren, die ihm Vorschriften machte, die versuchte, ihm eine Reise mit seinem Enkel zu verbieten. Er schaffte den Sprung nicht, schaffte es in den Kindergarten, in die Grundschule, konnte sich seine Tochter als kleines Mädchen vorstellen, aber weiter reichte seine Phantasie nicht, nicht zu einer Frau, nicht zu einer Mutter.

Er beugte sich vor, tippte auf dem Bildschirm herum, gelangte in ein Menü, suchte nach einem Film, las einige Beschreibungen, ließ es bleiben. Er lehnte sich zurück, schloss die Augen, spürte den Luftstrom der Düse auf seiner Stirn. Nur du und dein uralter Großvater, dachte er, was für eine Dummheit. Ein gigantischer Doppelstockbus in der Atmosphäre, Tausende Kilometer, die schon hinter dir und noch vor dir liegen. Er glaubte, sich von oben auf den Scheitel schauen zu können, der am Hinterkopf ein wenig weiter wurde. Schau an, dachte er, auch das noch. Was willst du denn, flüsterte er sich selbst ins Ohr, du hast es doch so gewollt.

Mit Regen hatte es begonnen, mit Regen, der gegen die Schräge des Dachfensters getrommelt hatte. Oder, dachte er, nicht begonnen, nicht begonnen an diesem Tag, aber sich entschieden. Es hatte sich mit dem Regen entschieden, mit diesem Morgen, an dem er aus dem Bett hinaus ins Grau des Himmels geschaut hatte, in dieses Hauptstadtgrau, in dem kein Frühling wartete, kein Garnichts. Er hatte das Kissen an die Wand geschoben und sich aufgesetzt, hatte ein leichtes Pochen verspürt, einen Druck im Magen. Nichts, was wirklich den Namen Kater verdient hätte, eher ein unangenehmes Gefühl. Damit hatte es zu tun gehabt. Und mit dem Brief, der am Vortag gekommen war, mit der Kündigung, eine Kündigung ohne Überraschung. Er kannte das sommerliche Spiel: Der Brief im Mai, irgendein Standardschrieb, den die Schulleiter wahrscheinlich vorgefertigt in ihren Schubladen hatten und an Leute wie ihn verschickten:

Bedauern wir sehr, keine Verlängerung des, wünschen Ihnen für Ihre weitere. Dann Neuanstellung Ende August, an derselben Schule, wenn möglich, an einer anderen, wenn ein weiterer Vertrag die Entfristung bedeutet hätte. Freuen wir uns sehr, Ihnen, hoffen, dass Sie, tolles Team, an unserer bunten und kreativen. Er hatte gewusst, dass dieser Brief kommen würde, dass sie ihn wieder haben wollten im August, nur eben nicht genug haben wollten, um ihm die Ferien zu bezahlen.

Also würde er trotz dieses Briefes vor der Klasse stehen, der 7a, würde unterrichten: Past tenses and their use. Würde auf die nächste Klassenarbeit vorbereiten, Kinder anlächeln, kurz vor der Pubertät oder schon mitten darin, zwergenhafte Jungen und Mädchen, deren Oberteile sich zu wölben begannen. Eine anstrengende Klasse, zu viele dumme Kinder, zu viele vorlaute, zu wenige Hoffnungsschimmer, zu schlechte Aussprache, zu wenig Interesse. Und immer Grammatik. Wieder und wieder. Wie hätte er ihnen verübeln können, dass sie gelangweilt waren. Und trotzdem: Ärger, dass sich niemand für ihn einsetzte, dass man seine Stunden nahm, sein Engagement, English Film Club, unbezahlte Extrastunden, die, wenn er ehrlich war, das Schönste an der ganzen Sache waren, dass man all das nahm, aber niemand sagte: Der ist gut, dem geben wir jetzt einen richtigen Vertrag, einen echten.

Er hatte zum Schreibtisch geschaut, die Rotweinflasche neben dem Laptop fast leer, das Blinken an der Vorderseite des Rechners verriet ihm, dass er das Gerät nicht ausgeschaltet hatte, einfach mit dem Stuhl herübergerollt und ins Bett gekrochen war. Ein stetiges Pochen hinter der Stirn, vielleicht doch ein Kater, aber ein kleiner nur.

Einen kurzen Moment versuchte Martin, sich einzureden, dass es dieser Kater gewesen war, dass alles daran gelegen hatte. Aber vor allem, dachte er, war es die Erinnerung an den Tag zuvor gewesen, an den Samstag mit Judith, an das Spielen, das Herumrobben auf dem Boden, das Grimassenschneiden. Wie sie sich festhielt, auf ihren wackeligen, speckigen Beinen, wie sie schaute und wie er alles wiederholen musste, immer und immer wieder, Hände vorm Gesicht, Hände weg, Hände vorm Gesicht, Hände weg. Ihr Laufen ein stetiges Vorwärtsfallen, ein Stürzen, das irgendwann auf dem Boden enden musste. Und als es dann passierte: Quaken und Flennen, als ginge die Welt unter. Und er hatte lachen müssen, die Kleine im Arm gehalten und lachen müssen über die Tränen seiner Tochter. Was zum Teufel ist mit dir los, hatte er gedacht, aber dann hatte sie aufgehört zu weinen und mitgelacht, hatte ihn angestrahlt und gegluckst und gekichert. Ein paar Augenblicke lang war sein Kopf leer gewesen, nur Lachen, sonst nichts.

Ein paar Stunden später hatte er vor Lauras Tür gestanden, die Kleine auf dem Arm, ihre Tasche neben sich auf dem Fußboden. Er war zu spät gewesen und hatte erwartet, dass Laura einen Kommentar machen würde, aber sie hatte ihn nur hereingewunken, hatte ihm die schlafende Judith nicht abgenommen, sondern war vorangegangen und hatte ihm zugeschaut, wie er seine Tochter in ihr Bett legte. Eine Weile hatten sie beide schweigend im Zimmer gestanden und ihr beim Schlafen zugeschaut.

Danach hatten sie im Flur gestanden und geredet, er wusste nicht mehr, über was, er hatte über ihre Schulter hinweg die offene Tür des Wohnzimmers gesehen, ein Weinglas auf dem Tisch beim Sofa, er hatte nicht erkennen können, ob es das einzige Glas auf dem Tisch war. Er hatte sich gefragt, wann er das letzte Mal dort gesessen hatte. Vielleicht bei Judiths erstem Geburtstag, inmitten kreischender Kinder und anderer Eltern. Du hast nie wirklich dort gesessen, sagte er sich, warst immer nur zu...


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Autor

Hannes Köhler, geboren 1982 in Hamburg, lebt als freier Autor und Übersetzer in Berlin. Studium der Neueren deutschen Literatur und Neueren/Neuesten Geschichte in Toulouse und Berlin. 2011 erschien der Debütroman In Spuren (mairisch). Hannes Köhler war u.a. Teilnehmer der Prosawerkstatt im LCB, Stadtschreiber in Kitzbühel, Stipendiat der Stiftung Preußische Seehandlung und des Goldschmidt-Programms für deutsch-französische Literaturübersetzung. Für Ein mögliches Leben unternahm er eine zweimonatige Recherchereise in die USA und führte zahlreiche Zeitzeugengespräche.