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Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
220 Seiten
Deutsch
dtv Verlagsgesellschafterschienen am09.03.20181. Auflage
»Ein fabelhafter Abenteuerroman.«  Martina Läubli in >NZZ am SonntagNeue Zürcher ZeitungDie ZeitTages-AnzeigerDas MagazinLouis oder Der Ritt auf der SchildkröteFeuerland< wurde für den Schweizer Buchpreis 2021 nominiert.mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

Klappentext»Ein fabelhafter Abenteuerroman.«  Martina Läubli in >NZZ am SonntagNeue Zürcher ZeitungDie ZeitTages-AnzeigerDas MagazinLouis oder Der Ritt auf der SchildkröteFeuerland< wurde für den Schweizer Buchpreis 2021 nominiert.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783423433402
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum09.03.2018
Auflage1. Auflage
Seiten220 Seiten
SpracheDeutsch
IllustrationenFormat: EPUB
Artikel-Nr.2532176
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
3

ie nannte sich Old Lady Long und hatte Haare wie Stahlwolle. Sie trug ein Rüschenhemd, dessen oberster Knopf mit einer Porzellanbrosche gesichert war.

Über ihr zerrissen Wolkenschlieren an den Bergwänden, und sie machte ein Gesicht, als müsste sie zu Fuß da hoch. Sie mochte diese Berge nicht, aber sie war einen weiten Weg gekommen. Drei Tage vorher war sie in Perth ins Flugzeug gestiegen, einen Tag lang hatte sie in Singapur im Transit wässrigen Kaffee getrunken, und heute Morgen bei der Ankunft in Zürich hatte sie bemerkt, dass sie hinkte. Es war der 30. Juni 1961, um vier Minuten vor zwei Uhr am Nachmittag, sie rieb sich den Oberschenkel und beobachtete einen kleinen Punkt in den Wolken, der zu ihr herabschwebte.

Die Gondel war mit blauen und rosaroten Hortensien bemalt. Die Schiebetür rumpelte zur Seite. Der Gondelführer trug eine Schirmmütze und hatte eine Gesichtsfarbe, die an rohen Lachs erinnerte. Er saß auf einem hohen Hocker und drehte die Lautstärke an einem Radio herunter. Seine Arme waren braun gebrannt, und in alle Richtungen standen gelbe Haare ab, die im Sonnenlicht weiß schimmerten.

Old Lady Long trat ein und wandte dem Mann den Rücken zu.

Die Gondel schlenkerte, dann schrumpften die Häuser und mit ihnen die quadratischen Beete voller Primeln. Aus den Wäldern stieg Dampf empor. Hinter einem weißen Schleier erschien eine Wand aus Fels, und da oben am Ende der Wand lag das Dorf Schöndorn.

Old Lady Long würde hier einem Toten gegenübertreten. Die ersten sieben Jahre ihres Lebens hatte sie den Mann gekannt. Dann war er zu einem regelmäßigen Besucher geworden, der manchmal in ihrem Kopf saß. Sogar in ihren Träumen erschien er. Das sollte nun enden.

Sie trat aus der Seilbahnstation, Raben kreisten am Himmel, es duftete nach frisch gemähtem Heu. Unter einem Kastanienbaum saß ein alter Herr auf einer Bank und nippte an einem Glas Rotwein. Er starrte, Old Lady Long drehte sich weg.

Vor dem Friedhof blieb sie stehen und schaute einem Gärtner zu, der Unkraut aus dem Boden zog und in eine Schubkarre warf. Als sich ihre Blicke trafen, ging sie weiter, vorbei an einer Telefonkabine, vorbei am Dorfbrunnen, bis zu einem kleinen Haus auf der Ostseite des Brunnens.

Es war das Geburtshaus des berühmtesten Schöndorners, dessen vierzigster Todestag kurz bevorstand. Eine bronzene Tafel an der Außenmauer fasste sein Leben zusammen, auf Deutsch, Französisch, Italienisch und Englisch: Geboren am 12. Mai 1849, Entdecker des Stamms der Martu in Australien, Bestsellerautor, Empfang durch die Royal Geographical Society Großbritanniens, Tod in London am 9. Juli 1921.

Er hatte ihr von diesem Haus erzählt. Ein Haus auf einem Felsvorsprung, hatte er gesagt. Sie hatte nicht gewusst, was ein Haus ist, und er hatte gesagt, es sei wie das Nest eines Vogels, bloß viel größer, mit einem Dach aus Steinen obendrauf. Sie hatte gefragt, ob die Menschen dort denn Flügel hätten, und er sagte Nein, normalerweise nicht, er aber schon, er habe sich eines Tages vom Felsvorsprung abgestoßen und sei ins Tal gesegelt.

Auch so besuchte er sie in den Träumen: als Keilschwanzadler, der sich in wachsenden Ringen in den Himmel schraubt und dann zurück zur Erde schießt.

Old Lady Long schirmte die Augen ab und schaute durch die Glastür ins Haus. Hinter dem Eingang stand ein großer silberner Bilderrahmen, und daraus guckte sein Gesicht hervor. Der Rahmen war mit Ornamenten verziert, aber einige waren abgebrochen und mit schwarzem Klebestreifen geflickt worden.

Als sie die Tür aufzog, blickte sie zu Boden und reichte der Frau an der Kasse eine Münze. Dann drehte sie sich dem Bild zu. Sie sah einen weißen Bart, der über eine zugeknöpfte Weste reichte. Auch die Haare waren weiß, nach hinten gekämmt, eine Locke lag auf der linken Schulter. Das Nasenbein war zerfurcht, als sei der Mann in zu viele Raufereien geraten. Über die Stirn zogen sich Täler von Falten, und seine Schläfen erinnerten an zerknülltes Papier. Er hatte den Blick einer traurigen Kuh.

Nichts Grausames war an ihm, nur Alter.

Sie streckte die Hand aus, und da fiel ihr auf, wie groß das Bild war. Ihre Finger auf seiner Nase waren wie die Finger eines Kindes. Sie musste einst nach dieser Nase gegriffen haben, aber sie erinnerte sich nicht. Ein Gefühl sagte ihr, seine Haut sei ebenso kalt gewesen wie das Glas, das sie nun spürte.

Im nächsten Moment war ihr, als sitze sie wieder im Busch und beobachte einen Stock, der seltsame Formen in den Sand zeichnete. Ihre Augen glitten den Stock empor zu einer dürren Hand und einen knochigen Arm hinauf zu einem Bart, und aus dem Bart kamen Wörter: »Das ist ein Fisch, in den man hineinsteigen kann und der einen bis ans Ende der Welt trägt«, und sie hörte ihre Kinderstimme bei diesem absurden Gedanken laut auflachen.

Old Lady Long drehte sich abrupt vom Bild weg und rieb sich die Schläfen. Sie zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihrer Strickjacke und schnäuzte sich die Nase. Sie faltete das Tuch zusammen und schloss es in die Fläche ihrer Hände. Sie befürchtete, sie würde es gleich wieder brauchen.

Jenseits einer rußschwarzen Schwelle funkelten Lampen von der Decke. An die linke Wand war ein Brett geschraubt, und darauf stand nur ein einziges Buch, aber in dutzendfacher Ausführung: The Adventures of Louis de Montesanto - As Told by Himself. Der Deckel des Buches war blau, darauf war ein weißer Mann abgebildet, der einen Pfeilbogen abschoss. Er trug einen Rock aus Bast und Hosenträger, und seine Haare waren auf eine sonderbare Weise hochgesteckt, es sah aus, als würde er einen spitzen Hut tragen. Um den Weißen standen schwarze Männer, die mit Totschlägern auf andere schwarze Männer eindroschen.

Old Lady Long warf einen Blick auf ihre Handtasche, und da fiel ihr auf, dass der Reißverschluss offen war. Man konnte den blassbraunen Umschlag eines Buches sehen, das den Titel Short Man, Tall Tale trug. Es war eine Hinrichtung auf Papier. Der Autor, ein gewisser Clark Dune, hatte alte Zeitungsartikel zusammengefügt und sie nicht hinterfragt. Die Biografie war vor zehn Jahren erschienen, 1951, aber Old Lady Long hatte sie erst kürzlich entdeckt, in dem Schaufenster eines Buchladens in Perth. Sie hätte das Buch jetzt gerne aus der Tasche gezogen und einige Daten verglichen, aber sie befürchtete, jemand könnte den Raum betreten und das Buch erkennen. Sie war sich ziemlich sicher, dass man sie dann aus dem Museum werfen würde. Sie zog den Reißverschluss ihrer Tasche fest zu.

Sie beugte sich über ein Holzkästchen voller vergilbter Autogrammkarten. Sie zog eine Karte heraus, als zupfte sie das Blatt einer weich gekochten Artischocke ab. Auf der Illustration war ein magerer Mann zu sehen, bis zu den Hüften im Wasser, zwischen seinen Beinen der glänzende Panzer einer Schildkröte, und es sah aus, als wolle der Mann auf der Schildkröte reiten.

An einem Kleiderbügel hing ein Mantel, der Staub ansetzte. Er war so schmal geschnitten, als wäre er für ein Kind gemacht. Old Lady Long fiel es leicht, sich den überproportional großen Kopf vorzustellen, der einst aus diesem Mantel geragt hatte. Sie hauchte an die Kupferknöpfe, und graue Wölkchen stiegen auf. Sie musste dem Drang widerstehen, die Knöpfe mit ihrem Taschentuch zu polieren.

Folgendes war ebenfalls ausgestellt:


Eine Seekiste mit den Initialen H.R.


Eine Vitrine, in der ein rostiges Schnappmesser lag, und daneben ein kurzes Stück Hanfseil mit zusammengeknoteten Enden.


Eine hinduistische Gottheit, aus Metall gegossen, etwa so groß wie eine Daumenkuppe. Auf den ersten Blick schien die Gottheit eine ausgesprochen lange Nase zu haben.


Ein Taucherhelm mit gläsernen Klapptüren, die mit Gittern verschweißt waren.



Old Lady Long zog einen kleinen Schreibblock mit karierten Seiten hervor und notierte sich die Objekte in Listenform. Dann bückte sie sich zu einem Paar Schuhe aus Leder. Es waren sehr kleine Schuhe. Sie waren poliert und glänzten, aber sie hatten abgetretene Sohlen und seltsame Spitzen, die geflickt worden waren, mit einem matten Material, vielleicht Fischkleister.

Im Geiste sah sie seine Füße, die aussahen wie die Füße eines Jungen. Sie waren nicht so flach und breit gewesen wie jene der anderen Männer. Sie hörte ihn sagen, dass er diese Füße ein Leben lang in Tierhäute eingepackt habe, und sie hörte sich fragen, wie es sich denn anfühle, einen Waran zu tragen, und ob es nicht sinnvoller wäre, das Tier am Leben zu lassen, da es dann das Laufen für den Menschen übernehmen könne. Er sagte, das sei natürlich vollkommen richtig und so oder ähnlich würde es dort gemacht, wo er herkomme.

So hatte sie sich also das Volk vorgestellt, von dem er abstammte: gespenstische Kreaturen, halb Mensch, halb Tier.

Über den Schuhen hing ein Glaskasten an der Wand. Der Kasten war mit schwarzer Folie ausgelegt und zeigte eine Krawatte. Sie war hellblau, verblichen und zerzaust, aber die sorgfältigen Nähte und die feinen Fäden deuteten auf ein teures Modell hin. In die Seide waren kleine silberne Kängurus gestickt, und obwohl die Kängurus so klein waren, konnte man gut ihre starken Hinterbeine erkennen und den gebogenen Schwanz, der in einer perfekten Welle zur Wirbelsäule und dem Kopf überging. An der Krawatte klemmte eine Spange aus Silber, an deren Ende eine Krone und eine Kugel hingen.

Old Lady Long betrachtete die Krawatte sehr lange.

Als sie ihr Spiegelbild im Glas entdeckte, strich sie sich mit dem Taschentuch über die Stirn.

Sie empfand eine Art von Liebe. Im nächsten Moment musste...
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Autor

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa >Neue Zürcher ZeitungDie ZeitTages-AnzeigerDas MagazinLouis oder Der Ritt auf der SchildkröteFeuerland
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Hugentobler, Michael