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Das Findelkind

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
198 Seiten
Deutsch
Aufbau Verlage GmbHerschienen am26.02.20181. Auflage
Zigeuner stehlen ein Auto, in dem ein kleines Kind schläft. Sie nehmen den Jungen auf, taufen ihn Aziz, besorgen ihm einen marokkanischen Pass, bilden ihn zum Spezialisten für den Diebstahl von Autoradios aus. Jahre später wird Aziz verhaftet, unter großem Medienspektakel schiebt man ihn in seine »Heimat« ab - die ihm ebenso fremd ist wie dem »Attaché für Humanitäres«, der ihm bei seinem Neuanfang pressewirksam zur Seite stehen soll. Doch bald wird sich herausstellen, wer hier wem zu einem neuen Leben verhilft ...

Didier van Cauwelaert, 1960 in Nizza geboren, schreibt seit seiner Jugend. Seine Bücher wurden mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, für den Roman 'Das Findelkind' erhielt er den Prix Goncourt. Seine Werke sind in über zwanzig Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen zuletzt sein Roman 'Die Erscheinung' (2007) und 'Die Jesus-Formel. Auf der Suche nach dem heiligen Gen' (2006). Der Autor lebt in Paris.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR10,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,99

Produkt

KlappentextZigeuner stehlen ein Auto, in dem ein kleines Kind schläft. Sie nehmen den Jungen auf, taufen ihn Aziz, besorgen ihm einen marokkanischen Pass, bilden ihn zum Spezialisten für den Diebstahl von Autoradios aus. Jahre später wird Aziz verhaftet, unter großem Medienspektakel schiebt man ihn in seine »Heimat« ab - die ihm ebenso fremd ist wie dem »Attaché für Humanitäres«, der ihm bei seinem Neuanfang pressewirksam zur Seite stehen soll. Doch bald wird sich herausstellen, wer hier wem zu einem neuen Leben verhilft ...

Didier van Cauwelaert, 1960 in Nizza geboren, schreibt seit seiner Jugend. Seine Bücher wurden mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, für den Roman 'Das Findelkind' erhielt er den Prix Goncourt. Seine Werke sind in über zwanzig Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen zuletzt sein Roman 'Die Erscheinung' (2007) und 'Die Jesus-Formel. Auf der Suche nach dem heiligen Gen' (2006). Der Autor lebt in Paris.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783841215567
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum26.02.2018
Auflage1. Auflage
Seiten198 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2702105
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Ich habe meine Laufbahn als Findelkind wider Willen begonnen. Als Zugabe zum gestohlenen Auto, um genau zu sein. Man hatte mich am Fußgängerüberweg geparkt, und wann immer ich in den folgenden Jahren meinen Teller nicht leer aß, sagte Mamita, der Abschleppdienst würde kommen und mich holen. Dann aß ich derart hastig, dass ich mich anschließend übergeben musste, was auch wiederum sein Gutes hatte; es bewahrte mich davor, Gewicht anzusetzen. Ich war und blieb ein für alle Mal der Adoptierte.

Den Tsiganes ist das Kind heilig. Aus Prestigegründen soll es so pummelig wie möglich sein; von null bis vier Jahren ist es ein König - danach kommt es allein zurecht. Ich bin zurechtgekommen, ohne König gewesen zu sein: ich stürzte aus geringerer Höhe ab, ich fiel nicht auf, ich hielt den Mund, ich war der Magerste. Wenn es einem gelingt, nicht beachtet zu werden, schafft man das.

Häufig kam nachts der Kranwagen des Abschleppdiensts und brachte mein nicht vorschriftsmäßig geparktes Auto zum Schrottplatz, und ich wurde unter dem Blech zermahlen. Zum Glück gab es im Wohnwagen von Mamita immer einen plärrenden König; der unterbrach den Traum in dem Augenblick, da ich noch lebte, und ich konnte wieder einschlafen. Ich wusste, dass ich in Sicherheit war, mollig warm zwischen diesen dicken Kindern mit ihren Ketten und Medaillons, die im Dunkeln klimperten. Und umso dankbarer, dass mein Schicksal, wie man mir ständig vorhielt, mit einer einzigen Stimme im Ältestenrat entschieden worden war. Der des alten Wasil, des Rom, der mich hatte mitgehen lassen, ohne mich, der ich in meiner Tragetasche auf der Rückbank inmitten von Weihnachtseinkäufen schlief, zu bemerken. Bei den Manouches, die mich zurückbringen wollten, hatte er sein ganzes Gewicht in die Debatte geworfen. Da sich im Handschuhfach keine Papiere gefunden hatten, glaubte er, ich sei ein Fingerzeig des Himmels. Man hat ihm nicht widersprochen, weil er damals schon sehr alt war, und nach unseren Bräuchen bringt man einem vertrottelten Greis Respekt entgegen.

Das Auto war ein Citroën Ami 6, deshalb hat man mich Ami 6 genannt. Da komme ich also her. Im Laufe der Zeit hat sich mein Name zu Aziz abgeschliffen, der Einfachheit halber. Mamita, die in Rumänien geboren und dort von den Nazis sterilisiert wurde, hielt das Kürzel von Anfang an für eine dumme Idee, weil ich als Kleinkind typisch französisch aussah und ihrer Ansicht nach Namen abfärben. Mir ist das egal. Ich bin gern Araber, weil wir so viele sind und man mich in Ruhe lässt. Seit ich mich mit Autoradios befasse und für den Fall einer Verhaftung falsche Papiere brauchte, besitze ich sogar einen Familiennamen: Kemal. Woher der stammt, weiß ich nicht. Vielleicht war K gerade an der Reihe.

Hin und wieder dachte ich an meine leiblichen Eltern, die, wie wohl angenommen werden darf, Anzeige erstattet und auf eine Lösegeldforderung gewartet und die Hoffnung nicht aufgegeben haben, solange man meine Leiche nicht gefunden hatte. Eines Tages, nahm ich mir vor, würde ich eine kleine Annonce in den Provençal setzen: »Kind, zu Weihnachten aus einem Ami 6 gestohlen, sucht seine Eltern. Zuschriften an Aziz Kemal, blauer Estafette-Kombi gegenüber Volkswagen-Pizza-Stand Chez Moi, Vallon-Fleuri, Marseille-Nord.« Nur dass ich das immer wieder auf später verschob. Wenn man es geschafft hat, in einer Familie mehr oder weniger akzeptiert zu sein, ist man nicht unbedingt scharf darauf, sein Schicksal ein zweites Mal aufs Spiel zu setzen. Lieber verharrte ich im Ungewissen und bewahrte mir den Traum. Ohne zu wissen, woher ich kam, war ich froh, da zu sein.

Oft malte ich mir aus, ich wäre der Sohn eines Stürmers von Olympique Marseille, dem die Reparaturwerkstatt für die Zeit, in der sein Mercedes überholt wurde, einen Ami 6 zur Verfügung gestellt hatte. Ein andermal war ich der Erbe der Kernseifenfabrik. Oder der Jüngste einer zwölfköpfigen Hafenarbeiterfamilie, die sich mit der Arbeitslosenunterstützung ihres Ernährers durchschlagen muss. An Regentagen redete ich mir ein, man habe für mich einfach ein weiteres Kind in die Welt gesetzt.

Und dann, mit achtzehn Jahren, sind sie mit der Wahrheit herausgerückt. Einer anderen Wahrheit - ob grausamer oder erträglicher, kann ich nicht beurteilen. Der alte Wasil hatte meinen Ami 6 gar nicht geklaut: Er hatte ihn mit seinem Pizzastand gerammt, bei dem Versuch, ihn regelwidrig in der Kurve von Frioune zu überholen. Beide Eltern auf der Stelle tot. Er hatte mich aus dem Wrack gezogen, bevor es explodierte, und, na ja, alles Weitere kannte ich bereits. Wasil war nie darüber hinweggekommen; weder hatte er sich jemals wieder ans Steuer gesetzt noch seinen Ofen angeworfen; deshalb hatte ich seinen VW-Kombi immer nur aufgebockt erlebt, von Efeu überwuchert und mit einer Muttergottes im Pizza-Ofen.

Anfangs war ich zutiefst gerührt, dass alle in der Siedlung mir die ganze Zeit über etwas vorgemacht hatten, um mir den Kummer zu ersparen - aber auch ein wenig gekränkt. In meinem schönsten T-Shirt bin ich zu Wasil gegangen und habe ihm in aller Form gedankt, dass er mir das Leben gerettet hat. Worauf er einen völlig verschrumpelten Finger aus seinem Umhang gestreckt und mit Grabesstimme, den Blick ins Leere gerichtet, verkündet hat:

»Gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, durch Ihn ist alles geschaffen.«

Das musste ein Rätsel sein, und ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Aber er war inzwischen derart verkalkt, dass man ihn nur noch zu den Feiertagen hinausbrachte, und vielleicht gab es auch gar keine Antwort.

Natürlich habe ich um meine Eltern getrauert. Auch wenn es schwerfällt, jemanden, den man nicht kennt, zu beweinen. Ich habe mich schließlich damit getröstet, dass ihnen jedenfalls erspart geblieben war, sich meinetwegen Sorgen zu machen. Was mir in den darauffolgenden Monaten komischerweise vor allem gefehlt hat, war die kleine Annonce, die ich in Gedanken so oft vor dem Einschlafen für sie verfasst hatte und die ich jedes Mal weiter ausgeschmückt, verschönert, besser formuliert hatte. Das kleine Inserat, das ich immer im Herzen tragen wollte, um es eines Tages aufzugeben, für den Fall, dass. Ab sofort ergab es keinen Sinn mehr. Ich war, kurz gesagt, Waise.

Aber was soll s, das Leben ging weiter. Ich war also in Marseille, notgedrungen als Marokkaner, mit gebührenpflichtiger Aufenthaltsgenehmigung, zahlbar jeweils bei Verlängerung. Wenn schon falsche Papiere, hätte man mir meiner Meinung nach gleich die französische Staatsbürgerschaft verpassen können, aber, ehrlich gesagt, war mir der Preis dafür zu hoch gewesen. Ich habe nun mal meine Prinzipien. Das Geld, das ich mit meinen Autoradios verdiene, liefere ich in der Siedlung ab. Es ist dazu da, meine Kindheit abzubezahlen, und nicht, um die Fälscher aus dem Panier zu mästen. Außerdem kann man sich nicht einfach eine Rasse erkaufen; das ist wie die Farbe der Augen oder das Wetter, eben alles, womit man es zu tun bekommt, ohne gefragt zu werden. Und wenn die Leute ein falsches Papier brauchen, um festzustellen, dass ich Franzose bin, dann bleibe ich lieber Araber. Ich habe auch meinen Stolz.

Der einzige Ort, an dem es allerdings für mich problematisch wird, ist das Fußballfeld. Unweigerlich überfällt mich dort das Gefühl, in einer Zwickmühle zu stecken. Wenn ich bei den Roms aus Vallon-Fleuri gegen die Beurs1 aus Rocher-Mirabeau spiele, komme ich mir wie ein Verräter vor. Dass ich Verrat begehe und mich gleichzeitig aufdränge: Ich weiß sehr wohl, dass mich die Tsiganes nicht als einen der Ihren betrachten. Ein Gadjo, ein Nichtzigeuner, kann zwar ein guter Mittelstürmer sein, bleibt aber weiterhin ein Gadjo, selbst wenn er ein Tor gegen seine Rasse schießt. Das ist der Grund, weshalb ich schließlich Schiedsrichter geworden bin.

Bei den handgreiflichen Auseinandersetzungen der einzelnen Siedlungen untereinander ist es einfacher: Instinktiv schlage ich mich stets auf die Seite meiner Adoptivfamilie, auch wenn ich denen von Rocher-Mirabeau nur ungern ans Leder gehe. Normalerweise erkennt man den Blutsbruder, wenn sein Blut fließt. Deshalb drücke ich mich meistens vor Schlägereien, auch wenn man mich deshalb für einen Feigling hält. Das kratzt mich aber nicht, solange das Mädchen, das ich liebe, sich nicht vor den anderen für mich schämt - wir ziehen uns bei solchen Gelegenheiten diskret zurück. Und das ist das Beste.

Lila ist neunzehn, wie ich. Wir kennen uns von Kindesbeinen an, nur müssen wir jetzt vorsichtig sein, wegen meiner Herkunft. Ihre Brüder haben ihr einen Manouche wie sie selbst zugedacht, einen waschechten aus Saintes-Marie, Rajko, einen Mercedes-Spezialisten. Wenn Lila und ich uns in der Siedlung begegnen, beschränken wir uns neuerdings auf ein »Guten Tag - Guten Abend«, ohne uns in die Augen zu schauen. Dafür nimmt sie einmal in der Woche die Micheline, den Triebwagen, ich schnappe mir einen Motorroller, und wir treffen uns in der Felsenbucht von Niolon, dem schönsten Fleckchen auf der Welt - bis dato, ich bin ja noch nie aus Bouches-du-Rhône herausgekommen.

Wie ihre Mutter liest Lila aus den Handflächen das Leben von anderen heraus. Alles, was sie mir über mich gesagt hat, ist, dass es mit mir bald aus ist, aber auch, dass mir eine Reise ins Ungewisse bevorsteht. Sie hat schwarzes Haar, feurige Augen, duftet wie die Linden im Juni und trägt knöchellange rote oder blaue Röcke, die hoch aufwirbeln, wenn sie tanzt - aber genug davon, angesichts der weiteren Ereignisse tut die Erinnerung zu sehr weh.

Hunderte Male hat sie mir von dem Land erzählt, aus dem sie...
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Autor

Didier van Cauwelaert, 1960 in Nizza geboren, schreibt seit seiner Jugend. Seine Bücher wurden mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, für den Roman "Das Findelkind" erhielt er den Prix Goncourt. Seine Werke sind in über zwanzig Sprachen übersetzt. Auf Deutsch erschienen zuletzt sein Roman "Die Erscheinung" (2007) und "Die Jesus-Formel. Auf der Suche nach dem heiligen Gen" (2006). Der Autor lebt in Paris.