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223 oder Das Faustpfand

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
250 Seiten
Deutsch
Residenz Verlagerschienen am06.06.2012
Ein kleiner Gendarm vor einem Berg von Toten: ein Stoff, aus dem keine Krimis sind. Ende April 1945 stranden hunderte jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn auf dem Todesmarsch Richtung Mauthausen in Persenbeug an der Donau. Die Front im Osten wie im Westen ist nahe wie das Ende des Krieges. In Wien ist bereits die Zweite Republik ausgerufen, Adolf Hitler ist tot, da überfällt ein Rollkommando der SS das Auffanglager und richtet in einer Nacht- und Nebelaktion ein Blutbad an - 223 Menschen sterben. Kaum jemand will etwas gesehen oder gehört haben, trotzdem beginnt Revierinspektor Franz Winkler, stellvertretender Kommandant auf verlorenem Posten in der Provinz, zu ermitteln. Er riskiert seinen Kopf, um seine Haut zu retten. Wird ihm das auch mit den neun Überlebenden des Massakers gelingen? Manfred Wieninger dokumentiert in der Balance zwischen Bericht und Fiktion einen einzigartigen Fall österreichischer Kriminalgeschichte. Er macht aus Geschichte eine Geschichte, in der die Opfer Namen haben.

Manfred Wieninger geboren 1963 in St. Pölten, lebt ebendort. Studium der Germanistik und Pädagogik. Essays und Reisereportagen für Literatur und Kritik, Wiener Zeitung, Datum u.v.a., aber auch in Buchform, zuletzt: 'Das Dunkle und das Kalte. Reportagen aus den Tiefen Niederösterreichs' (2011). Seine Kriminalromane um den Ermittler Marek Miert erschienen bei Rowohlt und Haymon, zuletzt: 'Prinzessin Rauschkind' (2010).
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Produkt

KlappentextEin kleiner Gendarm vor einem Berg von Toten: ein Stoff, aus dem keine Krimis sind. Ende April 1945 stranden hunderte jüdische Zwangsarbeiter aus Ungarn auf dem Todesmarsch Richtung Mauthausen in Persenbeug an der Donau. Die Front im Osten wie im Westen ist nahe wie das Ende des Krieges. In Wien ist bereits die Zweite Republik ausgerufen, Adolf Hitler ist tot, da überfällt ein Rollkommando der SS das Auffanglager und richtet in einer Nacht- und Nebelaktion ein Blutbad an - 223 Menschen sterben. Kaum jemand will etwas gesehen oder gehört haben, trotzdem beginnt Revierinspektor Franz Winkler, stellvertretender Kommandant auf verlorenem Posten in der Provinz, zu ermitteln. Er riskiert seinen Kopf, um seine Haut zu retten. Wird ihm das auch mit den neun Überlebenden des Massakers gelingen? Manfred Wieninger dokumentiert in der Balance zwischen Bericht und Fiktion einen einzigartigen Fall österreichischer Kriminalgeschichte. Er macht aus Geschichte eine Geschichte, in der die Opfer Namen haben.

Manfred Wieninger geboren 1963 in St. Pölten, lebt ebendort. Studium der Germanistik und Pädagogik. Essays und Reisereportagen für Literatur und Kritik, Wiener Zeitung, Datum u.v.a., aber auch in Buchform, zuletzt: 'Das Dunkle und das Kalte. Reportagen aus den Tiefen Niederösterreichs' (2011). Seine Kriminalromane um den Ermittler Marek Miert erschienen bei Rowohlt und Haymon, zuletzt: 'Prinzessin Rauschkind' (2010).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783701742882
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2012
Erscheinungsdatum06.06.2012
Seiten250 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1966 Kbytes
Artikel-Nr.2750873
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Kaum 2 Zeilen zu den Personalien der schwer Verwundeten hat Revierinspektor Winkler auf der Basis seiner Notizen bis jetzt in die Schreibmaschine getippt: Regina Varga, geb. Pick, Hausfrau, 20. 8. 1891 in Zsolnok, Ung. geb. und dort wohnhaft gewesen, ung. Staatsbürgerin, deportiert.

2 seiner Untergebenen haben Regina Varga samt ihrem Hocker in das Zimmer des stellvertretenden Postenkommandanten tragen müssen. Die marode Frau hatte es nicht mehr geschafft, allein aufzustehen und die paar Schritte in Winklers Büro zu gehen.

Zuvor hat Korporal Landler einen Teller mit 2 Stück eines harten, flachen Nusskuchens mit einer Eiklar-Glasur gebracht, den er irgendwo im Ort aufgetrieben hatte. Regina Varga war nicht fähig, auch nur einen einzigen Bissen zu machen, obwohl Landler alles versuchte. Stattdessen hat Winkler ein Stück, das deutlich kleinere, verzehrt, ohne sich danach besser zu fühlen.

Wenn die mir nur jetzt nicht wegstirbt, hat der Vernehmende gedacht, nachdem er begonnen hatte, die Augenzeugin nach ihren Personalien zu fragen. Regina Varga hat nur mühsam geantwortet, sehr langsam, stockend, keuchend und immer wieder nach Luft ringend. Nun verzichtet der Revierinspektor darauf, sie noch einmal nach dem Tathergang zu befragen, da sie ihm den ja schon im Lager geschildert hat. Konzentriert tippt er das Folgende in die Maschine: Am 2. 5. 1945 kamen 4 SS Soldaten in die Baracke und forderten die Männer auf, herunterzukommen. Nachträglich kamen sie nochmals und forderten auch die Frauen und Kinder auf, herunterzukommen. Sie sagten, sie schreiben nur die Namen auf und werden morgen den 3. 5. 1945 zur Arbeit eingesetzt.

Prüfend liest der Revierinspektor das bisher Getippte auf dem eingespannten Blatt und ist alles andere als glücklich mit den verwendeten Formulierungen, mit dem Stil insgesamt. Eigentlich, denkt Winkler, haut an der Sachverhaltsdarstellung bisher nur die Rechtschreibung halbwegs hin. Er ist unzufrieden mit sich selbst, aber er weiß auch, dass er in dieser Lage nichts Besseres leisten kann und leisten wird. Und ein Goethe ist er sowieso nie gewesen in seinen dienstlichen Berichten. Das war und ist auch nicht nötig, tröstet er sich in Gedanken.

Nervös tippt er weiter: Von den Baracken wurden wir gemeinsam weggeführt und waren dann 8 - 10 SS Männer als Begleitung. 2 Personenauto fuhren hinten nach. Außerhalb unserer Unterkunft wurden wir mit Maschinenpistolen, Pistolen und Gewehren erschossen. Ich stellte mich tot, fiel unter den Haufen und kam so mit dem Leben davon. Ich habe auch gesehen, wie 4 SS Männer die Toten mit Benzin überschütteten und dann anzündeten.

Nun ist nur mehr die formelle Schlussformel zu ergänzen: Vorstehendes wurde mir vorgelesen und habe es für richtig befunden. Links darunter schreibt der Revierinspektor: Geschlossen: und wieder darunter: Meister d. Gd., wobei er 2 Zeilen für die eigene Unterschrift freilässt. Winkler ist zwar keineswegs Meister der Gendarmerie, sondern nur Revierinspektor, aber unter so einem Protokoll, denkt er, sollte der Dienstgrad stehen, der einem Postenkommandanten zusteht.

Unten rechts auf das Blatt tippt der Gendarm noch ein paar Buchstaben: V.g.u.u.:, was so viel bedeutet wie »Vorgelesen und unterschrieben«, dann zieht er das Blatt samt Durchschlag vorsichtig aus der Maschine. Laut, konzentriert und langsam beginnt er vorzulesen - bis zum letzten Doppelpunkt. Regina Varga nickt, und der Revierinspektor beeilt sich, ihr Füllfeder und Protokoll hinzuhalten.

Das Leichtere ist geschafft, denkt er.

Der Landrat des Landkreises Melk, Oberregierungsrat Dr. Leopold Convall, ist nicht nur ein hoher Beamter des Gaues Niederdonau, sondern auch so etwas wie ein politischer Überlebenskünstler. Der aus Wien gebürtige Verwaltungsjurist wurde kurz vor dem so genannten Anschluss Österreichs an Hitlerdeutschland zum Melker Bezirkshauptmann ernannt, nachdem er zuvor bei der Bezirkshauptmannschaft Wiener Neustadt tätig gewesen war. Nach dem Finis Austriae bemühte sich Convall erfolgreich, sich mit den neuen Herren zu arrangieren. Er stellte einen Antrag auf Aufnahme in die NSDAP, wurde auch rasch Parteigenosse und behielt so erstaunlicherweise seine hohe Position als Bezirkshauptmann, wenn auch die Amtsbezeichnung nach reichsdeutschem Muster in Landrat geändert wurde. Den Posten hatte er vor allem der Fürsprache des Melker NSDAP-Kreisleiters Heinrich Reindl zu verdanken, der sich bei seinen Wiener Neustädter Parteigenossen eingehend erkundigt hatte, wie sich Convall in der Zeit des Ständestaates als dortiger Bezirkshauptmann gegenüber der verbotenen Nazipartei verhalten hatte, die er ja von Amts wegen eigentlich zu bekämpfen gehabt hätte. Offenbar war die Antwort günstig für den Karrierejuristen ausgefallen.

Bei den Nazis stand Dr. Convall bald in dem Ruf, ein tüchtiger Spitzenbeamter zu sein, der den Primat der nationalsozialistischen Politik und Weltanschauung widerspruchslos anerkannte und sie in der Verwaltung reibungslos umsetzte. Insbesondere beim Gauleiter von Niederdonau, dem früheren St. Pöltner Lungenfacharzt Dr. Hugo Jury, war er gut angeschrieben. Neben dem Landkreis Melk wurden ihm als Landrat daher bald auch die Landkreise St. Pölten und Lilienfeld übertragen. 1942 dürfte er sogar für den Posten eines Regierungspräsidenten im Gespräch gewesen sein.

Als Revierinspektor Franz Winkler dem 53-jährigen Landrat Dr. Convall, seinem mittelbaren Vorgesetzten, an diesem Vormittag des 3. Mai 1945 telefonisch Meldung erstattet und ihn vom Massaker in Hofamt Priel in Kenntnis setzt, ist der völlig überrascht und wirklich entsetzt. Letzteres nicht aus Mitleid, denn ein solches eher volkstümliches Gefühl steht einem Spitzenbeamten nicht an, sondern weil er ehrlichen Herzens fürchtet, für ein derart monströses Verbrechen in seinem Landkreis von den Russen, deren Einmarsch nur mehr eine Frage von Tagen ist, mitverantwortlich gemacht zu werden. Dr. Convall hat keine Lust, für Verbrechen, die er nicht begangen, nicht einmal angeordnet hat, am Galgen zu landen. Immerhin hat er in seinem Landkreis schon das KZ Melk am Hals und die Ermordung der Insassen der psychiatrischen Heil- und Pflegeanstalt Ybbs an der Donau im Vernichtungslager Schloss Hartheim. Der Landrat ist jetzt, in den letzten Kriegswochen, jedenfalls fest dazu entschlossen, auch ein paar Gutpunkte zu sammeln, um das Ende des Krieges möglichst lange zu überleben. Teil dieser neuen Strategie im Amt dürfte bereits die Errichtung des so genannten Judenauffanglagers Persenbeug am 25. April 1945 gewesen sein, die der Landrat über den ihm unterstellten Gendarmeriekreis Melk befohlen oder zumindest nicht verhindert hatte.

Fasziniert hört der Landrat nun zu, wie der Gendarm aus Persenbeug, den er noch nie gesehen oder gesprochen hat, von den 6 Überlebenden des Massakers berichtet. Was er denn mit diesen Leuten machen solle, fragt Revierinspektor Winkler, wo doch eine Rückkehr der Täter, des SS-Rollkommandos, nach Persenbeug zu befürchten sei, wenn bekannt wird, dass es Überlebende gibt, was sich wohl nicht vermeiden lässt. Wenn dem Mordtrupp irgendetwas gegen den Strich gehe, dann seien das ja sicherlich unmittelbare Tatzeugen, führt der Revierinspektor weiter aus. Bewusst verschweigt Winkler seinem hohen Vorgesetzten, dass es mit der Tatzeugenschaft der 6 armen Leutchen nicht weit her ist. Eigentlich ist nur Regina Varga eine echte Augenzeugin des Massenmordes, und gerade ihr Zustand ist bestenfalls als kritisch zu bezeichnen.

Der Landrat hat plötzlich eine Idee und ist ganz beschwingt in Anbetracht dieser wohl einmaligen Gelegenheit, noch in letzter Minute den Hals aus der Schlinge ziehen zu können.

»Warten Sie mal, Winkler, ich hab' da so eine Idee«, spricht Oberregierungsrat Convall leichthin in die Muschel des schwarzen Bakelit-Telefons.

Submissest hält der Revierinspektor den Atem an und wartet.

»Wie Sie vielleicht wissen, bin ich auch der Präsident des Deutschen Roten Kreuzes hier im Landkreis. Ich schicke Ihnen einen DRK-Wagen nach Persenbeug, um die Überlebenden nach Melk zu bringen.«

»Nach Melk?«, fragt Winkler, und es klingt, als fordere er Auskunft, ja geradezu Rechenschaft darüber, was genau der Landrat mit den Überlebenden anzustellen gedenke.

»Wenn Sie es schon so genau wissen wollen, dann muss ich Ihnen zunächst das ehrenwörtliche Versprechen abnehmen, darüber Stillschweigen, strengstes Stillschweigen zu bewahren!«, meint Dr. Convall etwas genervt.

»Jawohl, Herr Landrat«, antwortet der Revierinspektor.

»Ich lasse Ihre Juden in der Infektionsabteilung des Melker Krankenhauses verstecken. Auf den dortigen Primar Dr. Sedlacek kann ich mich verlassen. Außerdem könnte ich eventuell noch einen oder zwei beim Bürgermeister Steinecker in Ybbs unterbringen.«

»Das genügt mir selbstverständlich, Herr Landrat«, antwortet Winkler und fügt nach einer kurzen Pause hinzu: »Darf ich noch um dienstliche Anweisung ersuchen, was ich machen soll, wenn das SS-Rollkommando noch einmal bei uns auftaucht,...
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Manfred Wieningergeboren 1963 in St. Pölten, lebt ebendort. Studium der Germanistik und Pädagogik. Essays und Reisereportagen für Literatur und Kritik, Wiener Zeitung, Datum u.v.a., aber auch in Buchform, zuletzt: "Das Dunkle und das Kalte. Reportagen aus den Tiefen Niederösterreichs" (2011). Seine Kriminalromane um den Ermittler Marek Miert erschienen bei Rowohlt und Haymon, zuletzt: "Prinzessin Rauschkind" (2010).