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Antisemitismus und magisches Denken

E-BookEPUBDRM AdobeE-Book
Deutsch
Tectum Wissenschaftsverlagerschienen am09.08.20131. Auflage
Das Vertrauen auf Magie kann Menschen beflügeln. Doch im Antisemitismus zeigt magisches Denken seine abstoßende, schreckliche Fratze. Johannes F. Kretschmann erforscht, welcher gedankliche Weg von unspezifischem Argwohn bis zur Vernichtungsabsicht führt. An Beispielen wie der Phrase 'Die Juden sind unser Unglück' lässt sich dies sinnfällig belegen. Als Religionswissenschaftler und Linguist bedient der Autor sich dabei unkonventioneller Methoden, wie Exkurse zur Euphemismus-Tretmühle und zum Heavy-Metal-Umlaut verdeutlichen. Literarischen Fiktionen wie den Protokollen der 'Weisen von Zion' setzt er die Erkenntnisse berühmter wie unbekannter Denker entgegen. Besonders jüdische Stimmen vermitteln tiefere Einsichten in die Abgründe deutscher Geistesgeschichte. Auch die Beiträge der Ethnologie und Psychologie zum Magiebegriff würdigt der Autor kritisch und gleicht sie mit sprachphilosophischen und sprachwissenschaftlichen Reflexionen ab. Dabei liegt sein besonderes Augenmerk auf dem Selbstverständnis abendländischer Rationalität und Wissenschaftlichkeit, das auch für die Antisemitismusforschung bedeutsam ist, dort jedoch häufig nicht hinterfragt wird.mehr

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KlappentextDas Vertrauen auf Magie kann Menschen beflügeln. Doch im Antisemitismus zeigt magisches Denken seine abstoßende, schreckliche Fratze. Johannes F. Kretschmann erforscht, welcher gedankliche Weg von unspezifischem Argwohn bis zur Vernichtungsabsicht führt. An Beispielen wie der Phrase 'Die Juden sind unser Unglück' lässt sich dies sinnfällig belegen. Als Religionswissenschaftler und Linguist bedient der Autor sich dabei unkonventioneller Methoden, wie Exkurse zur Euphemismus-Tretmühle und zum Heavy-Metal-Umlaut verdeutlichen. Literarischen Fiktionen wie den Protokollen der 'Weisen von Zion' setzt er die Erkenntnisse berühmter wie unbekannter Denker entgegen. Besonders jüdische Stimmen vermitteln tiefere Einsichten in die Abgründe deutscher Geistesgeschichte. Auch die Beiträge der Ethnologie und Psychologie zum Magiebegriff würdigt der Autor kritisch und gleicht sie mit sprachphilosophischen und sprachwissenschaftlichen Reflexionen ab. Dabei liegt sein besonderes Augenmerk auf dem Selbstverständnis abendländischer Rationalität und Wissenschaftlichkeit, das auch für die Antisemitismusforschung bedeutsam ist, dort jedoch häufig nicht hinterfragt wird.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783828856370
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisDRM Adobe
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum09.08.2013
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.2885665
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

I. Reifer Zauber

Denken heißt ... : Segel setzen. Wie sie gesetzt werden, das ist wichtig. Worte sind ... nur die Segel. Wie sie gesetzt werden, das macht sie zum Begriff.
Walter BENJAMIN (1974: 674)

ΠάvÏα pεĩ. Im Sprachwandel fließen Wesen und Sein zusammen. In denselben Strom der Sprache steigen wir und steigen wir nicht. Sprechen wir dasselbe Wort, sind wir nie dieselben, und scheint uns sein Klang als derselbe, so können wir nicht vorhersagen, wie es in unseren Gedanken zu einer anderen Zeit an einer anderen Stelle klingen wird. Der Fluß der Sprache steht nicht still, und auch wenn sich Stromschnellen, Strudel und Untiefen nicht im selben Maße der Geschwindigkeit bewegen, so hören sie doch nie auf, zur Gänze Teil desselben Flusses zu sein. (vgl. auch HERAKLIT 2000)

Das Prinzip Magie beruht auf magischem Denken (vgl. F. A. BROCKHAUS 2004: 404), die Frage seiner Faßbarkeit kreist immer um die Formel des geistigen Wesens von Sprache überhaupt und gerät damit in den Radius der Bestimmung, wie sehr Sprache mit Menschsein verwoben ist (WONNEBERGER 2001: 101).15 Ein wissenschaftlicher Zugang zu diesem Phänomen erschließt sich nicht über analytische Beweise, sondern nur über die eigene Spracherfahrung, die Dinge nachvollziehen oder nicht nachvollziehen kann (vgl. MENNINGHAUS 1980: 186), wobei die Forderung, daß sich die Art der Annäherung jeder Geheimnistuerei enthalten (LEHNERT 1972: 7) möge, dadurch sowohl an Anspruch als auch an Dringlichkeit gewinnt. In der titelgebenden Rede vom magischen Denken soll vorab klargestellt sein, daß Magie nur insofern eine materielle Seite aufweist, da das Denken selbst als physiologischer Vorgang, der einen organischen Abdruck auf Aminosäurestrukturen im Gehirn hinterläßt, verstanden werden kann (vgl. auch VAIHINGER 1918: 1ff). Der amerikanische Science-Fiction-Autor Frank HERBERT liefert in seinem epischen, zum Teil durchaus auch epochalen »Dune«-Zyklus eine interessante ex negativo-Elementarlehre der Magie. So verkündet als Motto eines Kapitels Das Atreides-Manifest´ aus dem Bene Gesserit-Archiv´:

Dies ist das ehrfurchtgebietende Universum der Magie: Es gibt keine Atome, überall sind nur Wellen und Bewegung. Hier sagt man sich von allen Verständigungsbarrieren los. Man verständigt sich nicht mehr. Man kann dieses Universum weder sehen noch hören, noch auf irgendeine Weise mit herkömmlichen Sinnen erfassen. Es ist die äußerste Leere, in der es keine vorher angeordneten Schirme gibt, auf die man irgendwelche Formen projizieren könnte. Hier wird man nur eines gewahr - des Schirms der Magier: Imagination! Hier erfährt man, was es ist, menschlich zu sein. Du bist der Schöpfer der Ordnung, herrlicher Formen und Systeme, der Organisator des Chaos. (HERBERT 1993: 374)

Das Reich der Magie ist das Reich der Gedanken und damit, in gewissem Sinne nachgeordnet, der Sprache und der Bewegung (vgl. HAUSCHILD 1987: 70). Walter BENJAMIN, den Hannah ARENDT als den seltsamsten Marxisten bezeichnet (BRUMLIK 2003: 382) haben soll, gibt in seiner verästelten Sprachtheorie Hinweise, wie der Terminus Magie auch in seiner alltäglichen und okkulten Praxis als Statthalter und Entdecker einer gewöhnlichen, aber trotz ihrer Vertrautheit nicht als solcher gewußten Seite der Sprache´ (MENNINGHAUS 1980: 19) zu durchschauen ist:

Jede ernsthafte Ergründung der okkulten, sürrealistischen, phantasmagorischen Gaben und Phänomene hat eine dialektische Verschränkung zur Voraussetzung, die ein romantischer Kopf sich niemals aneignen wird. Es bringt uns nämlich nicht weiter, die rätselhafte Seite am Rätselhaften pathetisch oder fanatisch zu unterstreichen; vielmehr durchdringen wir das Geheimnis nur in dem Grade, als wir es im Alltäglichen wiederfinden, kraft einer dialektischen Optik, die das Alltägliche als undurchdringlich, das Undurchdringliche als alltäglich erkennt. Die [...] passionierteste Untersuchung des Haschischrausches wird einen über das Denken (das ein eminentes Narkotikum ist) nicht halb soviel lehren, wie die profane Erleuchtung des Denkens über den Haschischrausch. (BENJAMIN 1977: 307f)

Um den Preis der Allgemeinverständlichkeit dringen BENJAMINS im besten Sinne esoterische Spekulationen von den äußersten, exoterischsten bis zu den innersten Schichten der Sprache und ihrer magischen Seite vor. Nicht die vermeintliche Exklusivität seiner vielfältigen Sprachphilosopheme(n) haben eine (sprach)wissenschaftliche Rezeption erschwert, sondern ihre schwierige Fixierbarkeit, andererseits aber auch die Vernachlässigung jener Formel, für die die Linguistik zuständig wäre: Stil. (vgl. MENNINGHAUS 1980: 8ff)

Der Ton macht die Musik. Während es einfacher fällt, in Kunstwerken dem nichtsignifikative(n) Sprachmoment eine dominante Rolle zuzuweisen, wird ihm im gewöhnlichen Sprechen in der Regel ein untergeordneter, subalterner Rang in der Hierarchie sprachlicher Funktionen beigemessen. Doch im ironischen Ton z. B. kommt gerade das zum Ausdruck, was nicht nur in keinem der transportierten Inhalte enthalten, sondern ihnen geradezu entgegengesetzt ist . Die Frage nach einer spezifischen Form sprachlicher Unmittelbarkeit´ führt zu einer quasi archäologischen Ergründung magischer Spracherfahrung , die die instrumentelle Auffassung der Sprache als eines Mittels zum Transport von Inhalten relativiert oder gar negiert (cit. op. 13ff): Nicht, was an einem geistigen Wesen mitteilbar ist, erscheint am klarsten in seiner Sprache, ... sondern dieses Mitteilbare ist unmittelbar die Sprache selbst . Sprache ist im reinsten Sinne das Medium´ der Mitteilung.16 Das Mediale, das ist die Unmittelbarkeit aller geistigen Mitteilung, ist das Grundproblem der Sprachtheorie, und wenn man diese Unmittelbarkeit magisch nennen will, so ist das Urproblem der Sprache ihre Magie. Jeder Sprache wohnt ihre inkommensurable einziggeartete Unendlichkeit inne. Ihr sprachliches Wesen, nicht ihre verbalen Inhalte bezeichnen ihre Grenze. (BENJAMIN 1977: 142f) Der Stil ist in seiner Differenz zur Fracht (MENNINGHAUS 1980: 17), den verbalen Inhalten, weder ein subtrahierbarer Formalismus noch ein bloßer Filter der Darstellung (cit. op. 13), sondern markiert innerlich eine unvertilgbare Signatur eines bestimmten Weltzustandes, einer bestimmten Weltanschauung (BENJAMIN 1974: 924). Erst seit der Etablierung der Konnotationsforschung bemüht sich die neuere Linguistik, wenn auch weniger fundamental und tiefgründig als der deutsch-jüdische Philosoph, das Phänomen eines individuell-kontextuellen, mit einer abstrakten lexikalischen Semantik nicht faßbaren Tons von Worten zu ihrem sprachwissenschaftlichen Recht kommen zu lassen (MENNINGHAUS 1980: 229). Zum strukturalistischen Postulat der Arbitrarität von Zeichen verhält sich BENJAMINS Sprachtheorie nicht ablehnend, sondern indifferent, magisch ist in ihrem Sinne nicht die interne Semantik der isolierten Worte , sondern der Mitteilungsmodus des Formprinzips, das durch sie hindurchweht (cit. op. 27). In besonderer dialektischer Kunstfertigkeit erscheint die Art, wie BENJAMIN den religionsphilosophischen Begriff der Offenbarung aktualisiert und reinterpretiert, ohne dabei einer Retheologisierung der Sprachphilosophie Vorschub zu leisten. Offenbarung als das Sich-Zeigen von etwas Unaussprechlichem ist in seiner Bestimmung von Sprache nicht exklusives Zeugnis des Göttlichen, sondern eine Ausdrucksqualität allen Sprechens (cit. op. 22). Die Autorität heiliger Texte gründet demnach auf einer im Prinzip profanen, allerdings außergewöhnlich gesteigerten magischen Wirkung ihrer Sprache (vgl. ebd.) und übersteigt insofern nicht die Sphäre der Immanenz, da das höchste geistige Wesen, wie es in der Religion erscheint, rein auf dem Menschen und der Sprache in ihm beruht (BENJAMIN 1977: 147). Unter negativen Vorzeichen wird in WITTGENSTEINS sprachanalytischer Kritik dieser Ausgangspunkt der Sprachmystik als Theologie der Grammatik gedeutet, die den philosophischen Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache unterläuft (ders. 1971: 183 u. 79).

Schon Romantiker, die den Magiebegriff inflationär bis hin zur Einbüßung seiner Unterscheidungskraft einsetzten, beschränkten die magischen Charaktere von Sprache nicht auf Poesie und gingen umgekehrt davon aus, daß Sprache nicht rundweg depoetisiert, also implizit ihrer Magie gänzlich beraubt werden könne (vgl. cit. op. 28f). Gleichwohl scheint in der Lyrikinterpretation die magische Funktion der Sprache (LEHNERT 1972: 134), für die Symbolfähigkeit (MIETH 2001: 137) nur ein anderer Ausdruck ist, am ehesten angenommen und berücksichtigt worden zu sein. Die Sprache der Lyrik...
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