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Dunkler Weg zum Teich

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
376 Seiten
Deutsch
Lenos Verlagerschienen am18.09.2015
Ein Dorf in der französischen Schweiz der frühen sechziger Jahre. In den Felsen und am Teich im Wald spielen Jungs Abenteuer- und Soldatenspiele. Die Kriegserzählungen ihrer Väter und Grossväter beflügeln ihre Phantasie und erfüllen die erinnerungsschweren Orte mit Faszination und Schauer. Ihre Entdeckerlust führt sie auch zu den geheimnisvollen »Tschinggen«, den italienischen Saisonarbeitern in der Barackensiedlung unweit des Dorfes, über die in der Molkerei Schauergeschichten erzählt werden. Doch fast ebenso suspekt ist der Dorfgemeinschaft die junge Myriam, deren Mutter sich in der Stadt prostituiert. Das Waisenhaus platziert das zwölfjährige Mädchen bei den meistbietenden Bauern, wo es schamlos ausgenutzt und sexuell belästigt wird. Als ein mysteriöser Mord das Dorf erschüttert, geraten auch die Jugendlichen in den Sog von Fremdenhass und moralischem Dünkel, dem die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit zum Opfer zu fallen droht. Der Roman verführt in eine poetische Welt voller Spannung und kindlicher Phantasie, er erzählt von der Adoleszenz in einer von Ausgrenzung und Angst geprägten Dorfgemeinschaft und entwirft ein authentisches Bild der ländlichen Schweiz in der Nachkriegszeit. Für seinen Roman wurde Jean-François Haas 2013 mit dem Prix Lettres frontière ausgezeichnet.

Jean-François Haas, geboren 1952, arbeitete als Lehrer. 2007 wandte er sich dem Schreiben zu. Für seinen ersten Roman 'Dans la gueule de la baleine guerre' wurde er mit dem Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. 'Dunkler Weg zum Teich' ist sein dritter Roman. Der Autor lebt im Kanton Freiburg.
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Produkt

KlappentextEin Dorf in der französischen Schweiz der frühen sechziger Jahre. In den Felsen und am Teich im Wald spielen Jungs Abenteuer- und Soldatenspiele. Die Kriegserzählungen ihrer Väter und Grossväter beflügeln ihre Phantasie und erfüllen die erinnerungsschweren Orte mit Faszination und Schauer. Ihre Entdeckerlust führt sie auch zu den geheimnisvollen »Tschinggen«, den italienischen Saisonarbeitern in der Barackensiedlung unweit des Dorfes, über die in der Molkerei Schauergeschichten erzählt werden. Doch fast ebenso suspekt ist der Dorfgemeinschaft die junge Myriam, deren Mutter sich in der Stadt prostituiert. Das Waisenhaus platziert das zwölfjährige Mädchen bei den meistbietenden Bauern, wo es schamlos ausgenutzt und sexuell belästigt wird. Als ein mysteriöser Mord das Dorf erschüttert, geraten auch die Jugendlichen in den Sog von Fremdenhass und moralischem Dünkel, dem die Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit zum Opfer zu fallen droht. Der Roman verführt in eine poetische Welt voller Spannung und kindlicher Phantasie, er erzählt von der Adoleszenz in einer von Ausgrenzung und Angst geprägten Dorfgemeinschaft und entwirft ein authentisches Bild der ländlichen Schweiz in der Nachkriegszeit. Für seinen Roman wurde Jean-François Haas 2013 mit dem Prix Lettres frontière ausgezeichnet.

Jean-François Haas, geboren 1952, arbeitete als Lehrer. 2007 wandte er sich dem Schreiben zu. Für seinen ersten Roman 'Dans la gueule de la baleine guerre' wurde er mit dem Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. 'Dunkler Weg zum Teich' ist sein dritter Roman. Der Autor lebt im Kanton Freiburg.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783857879364
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum18.09.2015
Seiten376 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4306 Kbytes
Artikel-Nr.3219977
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1

Mein Urgrossvater, an jenem 1. Februar 1871 ein blutjunger Schweizer Soldat, eingesetzt bei Les Verrières an der Grenze zu Frankreich, hatte einen sterbenden jungen französischen Soldaten in die Arme genommen (»man kann ihn ja nicht im Schnee krepieren lassen wie ein Tier«), einen von den 87 847 gewissenhaft gezählten Männern, die seit fünf Uhr morgens ihre Waffen, Trommeln, roten Käppis in verschlammten Löchern und Schneewehen am Wegrand niederlegten, zu Füssen von warm angezogenen, gutgenährten Kriegern, die vom Schrecken des Krieges nicht berührt waren, und das sollte nun drei Tage lang so weitergehen für diese Soldaten in Lumpen, eine schlafwandelnde Truppe, sprachlos, benommen, ausgehungert, frierend, erstarrt, hier und da von krapproten Flecken gezeichnet in der fahlen Kälte, eine Truppe, die einmal die Ostarmee gewesen war, hastig zusammengestellt während der völligen Auflösung, um noch einmal zu kämpfen, und die jetzt zerrann in einem langen chaotischen Strom, durcheinandergewürfelt, mutlos, verzweifelt (und manche liessen sich sogar - ich meine sie in mir zu spüren - in den Schnee fallen, um zu sterben), nachdem sie auf Befehl von General Bourbaki vergeblich in einem vollkommen zerrütteten, zerstörten, besiegten Land gekämpft hatten, erfolgreich zwar durch den Sieg bei Villersexel, aber wozu?, einen Sieg für einen einzigen Tag (wie die Remission in einem Körper, in dem der Tod überall voranschreitet), ehe sie geschlagen wurden und schliesslich bei der jungen Schweizerischen Eidgenossenschaft um Asyl bitten mussten, woraufhin diese, indem sie ihre Spitäler, Kirchen und Scheunen für die im Schnee zerfallende, zersprengte, gescheiterte Armee öffnete, ihr Bild von einer humanitären Insel im Herzen Europas feierlich erschuf. Und wenn wir uns im Familienkreis an diese Geschichte erinnerten, sagte meine Mutter zum Abschluss jeweils: »Und er hat ihm die Augen geschlossen«, was mich dann immer wunderte: Hat man wirklich die Augen offen, wenn man tot ist? Es stimmte jedoch, denn als ich einmal gleich nach dem Aufstehen unsere alte Katze tot in ihrem Schlafkarton fand, da waren ihre Augen weit offen, die schwarzen Pupillen, die mich nicht mehr sahen, erweitert, erstarrt in einer unseren armseligen Augen unzugänglichen Ferne (ich mochte noch so weinen â¦), einer unendlichen Abwesenheit, einem Anderswo, in dem ich sie nie mehr antreffen würde.

Bei allen Toten jedoch, die ich gesehen habe (und auch bei meinem grossen Bruder, gestorben mit elf Jahren, als ich gerade neun werden sollte, zweieinhalb Jahre sind wir auseinander), waren die Augen geschlossen, wenn wir zum Beten zu ihnen in die Häuser gingen, wo ihre Familien sie zwei, manchmal auch drei Tage bei sich in der guten Stube beliessen, wie um sie noch eine Weile in ihrem plötzlich völlig durcheinandergebrachten Alltagsleben bei sich zu halten, für die Zeit der fassungslosen Tränen, für die Zeit, in der man mit der Hand über die wächserne, kalte Stirn streicht, die Zeit für einen Kuss auf die Wange oder auf den von nun an geschlossenen Mund, gefangen in der eisigen Stille eines unüberwindlichen Winters, ehe man sie dann der Zeit der anderen übergab, mit dem Schliessen des Sarges, dem Gerüttel des vom weissen Pferd gezogenen Leichenwagens, den Gesängen und dem Weihrauch in der Kirche, dem Kollern der Erde, die von den Schaufeln auf den Holzdeckel fiel und unten im Grab widerhallte. Die armen Toten, die uns so arm hinterliessen, hatten die Augen geschlossen, wenn man sie sah, und ich glaubte, dass so der Tod war: die Augen geschlossen haben und die Nacht sehen, für immer die Nacht, und jetzt, da meine Augen geschlossen waren, versank ich in einer Nacht, in der ich steckenzubleiben, unterzugehen glaubte, dann wieder wie mit Flügeln in die Höhe stieg, während die Nacht sich immer weiter ausbreitete, immer tiefer wurde.

Tot? Aber das Licht berührte mit einem Hauch sanft meine Augen, einem blendend mohnroten Flimmern. Versuchte, mir die Lider ein wenig zu öffnen. Wie es meine Mutter eines Morgens gemacht hatte (das kam mir jetzt wieder in den Sinn): Am Abend davor war ich eingeschlafen mit dem Gefühl, Sand in den Augen zu haben. Und die Nacht und der Schlaf hatten mir, ohne dass ich es merkte, die Lider zugenäht (Augen müssen sich jedoch öffnen, die Flügel bewegen, bis ganz hinauf, bis ganz in die Breite, bis in die fernste Ferne von allem, was Licht und Nacht hergeben): Meine Augen sind geschlossen, ganz fest geschlossen, sie stossen an die Dunkelheit, ihre Flügel hemmt die erstickende Hand der Dunkelheit, es ist jedoch schon Morgen. Ein Morgen in panischer Angst, in einer Falle. »Mama, ich bin blind, ich bin blind«, ausserstande, meine Lider zu öffnen, eins ans andere geklebt mit einer Art eitriger Kruste. Meine Mutter strich mir mit Kamillenabsud über die Augen, und nach und nach lösten sich meine Lider wieder voneinander, hin zu einem trüben Tageslicht, wie durch schmutzige, schmierige Fensterscheiben. Genau das lebte jetzt wieder in mir auf, wie ich ausgestreckt dalag, während das Licht, das über meine Augen wehte, die sich immer noch nicht öffnen konnten, die blinzelten, um sich zu öffnen, aber der Tod in ihnen ist noch schwer, während das Licht sie nach und nach löste. Ein Licht wie ein plätschernder Fluss, gurrend, gluckernd, flüsternd, murmelnd, als erwachten die Vögel inmitten der Kiesel, die er mit seidenem Gelächter vor sich herrollte, als erhöben sie sich flatternd und singend zum Flug, ein Licht, das Hauch und Murmeln des Windes war, und in diesem Hauch und in diesem Murmeln war bereits Milde, Versprechen, Frühling, aber auch noch Kälte.

Meine Augen konnten sich nun wieder öffnen; langsam stand ich auf; eine Kruste aus Erde, Schlamm, Kies und Wurzeln riss, brach auf, fiel von mir ab, und ich sah ihr zu, wie sie sich von mir löste, und mein Körper rührte sich, belebte sich wieder; nur die Explosion der Granate, die mich neben dem in einer Flussbiegung entstandenen Teich verschüttet hatte, klang in der Nacht und Kälte meiner Knochen noch nach. Langsam stand ich auf, packte, umklammerte den Stamm eines jungen, krummen Kirschbaums, seine rissige, wie gegeisselte und zerritzte Rinde schnitt mir in die Handflächen, und ich erhob die Augen, nun ganz befreit, zu den noch schwarzen, nackten Zweigen, an einigen waren schon Blüten aufgegangen, die das tiefe Blau des Himmels mit Sternen übersäten, und der Himmel drehte sich über mir, als ob ich, während ich mich hochzog, nie mehr aufhören sollte, mich hochzuziehen und hochzusteigen, hochzusteigen â¦

Da schoss spritzend eine Salve ganz nah in den Teich und warf mich auf den Bauch; ich wusste nicht, wie mir geschah, und doch sah ich, ganz unwirklich über mich gebeugt und meine Wange streichelnd, ein Büschel welker, fahler, umgeknickter Gräser, aus dem frische grüne Triebe sprossen, und ich sah die sandige schwarze Erde, an die mein Herz schlug. Am liebsten hätte ich mich in sie hineingegraben, in ihr Schutz gesucht. Sollte ich bis zum Teich kriechen? Mich in sein Wasser gleiten lassen, ein grünliches, undurchsichtiges Wasser von trüber Schlammfarbe, in dem hier und da Blasen zerplatzten, ein träumendes, melancholisches, schlafwandlerisches Wasser, eingeschlafen über seinen Albträumen, als wenn lebendige »Sachen«, irgendwelche haarigen Algen, auf einmal unter ihm atmeten, aufgingen wie Münder oder wie Blumen, zuschnappten, ansaugten, schluckten, verdauten? Und meine Augen suchten und entdeckten unter dem Widerschein von Wolken und Himmel gleichsam ein Jüngstes Gericht von Schatten, dunklen Anwesenheiten, die dahintreibend warteten, die gleichzeitig hochstiegen und niedersanken, sich mischten, miteinander verknüpften und kämpften und sich auffrassen. Da hielt mich eine Angst zurück, und ich blieb in meinem Erdversteck neben diesem welken Gras, in dem der Frühling wiedererstand, drückte mich an diese Erde, die sich, was bereits zu spüren war, nun von Tag zu Tag erwärmte - und auf einmal brachen einen Moment lang die Wolken auf, oben und auf der Wasserfläche des Teiches. Schwarz geworden wie eine Blendung unter dem Licht. Mich ihm nähern, es trotzdem wagen. Mich seinen Lichtflügelschlägen nähern, die mir jetzt lachend entgegenkamen, getragen vom Flimmern des Windes. Lichtflügelschläge, denen mein Herz entgegenschlug, Flügelschläge, die Wind und Licht waren, hinuntergestiegen in die Tiefen und die Trübnis des Wassers, in seine Undurchsichtigkeit, seine dunklen Träume wie Leben und Tod â¦ Noch undurchdringlicher als die Nacht â¦ Dieses Lachen von Licht und Wind rannte mir entgegen â¦ Rannte, um im Sand zu sterben â¦ Einmal war ich zum Teich gekommen, zu seinem Licht, das ich nicht verstand, mit meinem toten Bruder in mir, mit den Tränen meines Vaters in mir, mit meinem Bruder in mir, als wenn ich ihn trüge und auf meinen ausgestreckten Armen darböte â¦ Diese Begegnung mit dem sandigen Licht, dem sterbenden Licht, das im Sand verging â¦

Da ergriff ein Schrei das Schilf, die Weiden, die Birken, den Kirschbaum, den Sandsteinfelsen, die Bäume, die ihn bekrönten: die lange schwarze Prozession der bussfertigen Föhren, die den Winter durchschritten hatte, die grauen Lumpen der Buchen, wie mit Edelsteinen geschmückt von den ersten sich gerade öffnenden Blättern, als ob die Sonne in ihnen wüchse, und hier und da die weisse Blütenpracht der Wildkirschen und Schwarzdornsträucher, als hätte es noch einmal, vielleicht ein allerletztes Mal, in der Nacht geschneit; wie ein sich ins Gras duckender Hase wagte ich den Kopf hochzuheben: Wo war der Feind? Eine neue Salve wühlte den Teich auf, spuckte weisse Schaumkrönchen. Und bald darauf tauchte ein unbekannter Junge vor mir auf, wahrscheinlich in meinem Alter, ich wurde...
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Autor

Jean-François Haas, geboren 1952, arbeitete als Lehrer. 2007 wandte er sich dem Schreiben zu. Für seinen ersten Roman "Dans la gueule de la baleine guerre" wurde er mit dem Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. "Dunkler Weg zum Teich" ist sein dritter Roman. Der Autor lebt im Kanton Freiburg.