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Und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
272 Seiten
Deutsch
BeBra Verlagerschienen am01.08.2016
Tanger ist eine der geheimnisvollsten Städte der Welt. Bewohnt von hungrigen Schmugglern, exzentrischen Literaten und glücklosen Glücksrittern, war die 'weiße Perle Afrikas' lange Zeit verrufen und ist noch heute ein Magnet unzähliger außergewöhnlicher Menschen und ihrer Schicksale. Jalid Sehouli hat sich auf den Weg gemacht in die Heimat seiner Eltern, in der er selbst niemals lebte, und verwebt seine Begegnungen und Erlebnisse zu einem faszinierenden Panorama, das von Sehnsucht, Liebe, Schmerz, Heimat und Verlust erzählt.

Jalid Sehouli, geboren 1968 in Berlin, ist das Kind marokkanischer Eltern. Er studierte Humanmedizin an der Freien Universität und ist heute Ordinarius an der Charité. Sehouli gehört zu den führenden Krebsspezialisten der Welt. 2012 erschien sein literarisches Debut 'Marrakesch'.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextTanger ist eine der geheimnisvollsten Städte der Welt. Bewohnt von hungrigen Schmugglern, exzentrischen Literaten und glücklosen Glücksrittern, war die 'weiße Perle Afrikas' lange Zeit verrufen und ist noch heute ein Magnet unzähliger außergewöhnlicher Menschen und ihrer Schicksale. Jalid Sehouli hat sich auf den Weg gemacht in die Heimat seiner Eltern, in der er selbst niemals lebte, und verwebt seine Begegnungen und Erlebnisse zu einem faszinierenden Panorama, das von Sehnsucht, Liebe, Schmerz, Heimat und Verlust erzählt.

Jalid Sehouli, geboren 1968 in Berlin, ist das Kind marokkanischer Eltern. Er studierte Humanmedizin an der Freien Universität und ist heute Ordinarius an der Charité. Sehouli gehört zu den führenden Krebsspezialisten der Welt. 2012 erschien sein literarisches Debut 'Marrakesch'.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783839321256
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum01.08.2016
Seiten272 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1365 Kbytes
Artikel-Nr.3258850
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

 

 
Geschichten über Flucht, Schmerz,
Sehnsucht und andere Bewegungen
der menschlichen Seele
Und in Tanger kommen die Schiffe an,
und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Menschen machen sich auf den Weg, teils unbewusst, teils bewusst. Eine Flucht, eine Pilgerreise zu den verschiedenen Orten dieser Welt erfordert unzählige Schritte, die wir gehen, aber noch mehr Bewegungen des Herzens und der Seele. Gehen, um bei sich zu sein, ist die Belohnung für die unzähligen und schmerzhaften Schritte. Erst diese einsame Bewegung erlaubt es uns, den Zustand des Stillstands, des bei uns Seins zu erreichen. Der Körper bewegt sich, der Geist und die Seele können endlich zur Ruhe kommen.

Die blinde Flucht nach irgendwo endet zwangsweise in der Flucht ins innere Exil.

Der amerikanische Schriftsteller Truman Capote empfahl, dass man drei Dinge tun sollte, bevor man nach Tanger fährt: »â¦ sich gegen Typhus impfen lassen, seine Ersparnisse von der Bank abheben und sich von seinen Freunden verabschieden«, denn man wisse nie, ob man zurückkommt, da Tanger die Menschen festhält.

Tanger, die »Terra incognita«.

Manche meinen, dass Tanger ein Ort ohne Erwartungen ist.

Was kann ein Mensch von einer Stadt erwarten?

Was erwarte ich von Tanger?

Vielleicht hilft mir Tanger, meine Freude, meine Melancholie, die Kraft meiner Seele besser zu verstehen, um sie noch intensiver erleben zu können. Tanger hilft mir vielleicht auch, scheinbar vergessene Träume und Fantasien wiederzuentdecken. Dabei ist Tanger wohl mein Ziel, das Symbol meiner ganz persönlichen Entdeckungsreise.

Tanger, ich habe nie in dir gelebt, maße mir nicht an, über dich zu urteilen, aber ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit dir. Tanger, ich komme zu dir, um zu mir zu kommen. Ich mache mich auf den Weg zu dir. Ich hoffe, du lässt mich dich erfahren und meine Gefühle und Sehnsüchte verstehen.
Und in Tanger kommen die Schiffe an,
und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Ich mache einen Spaziergang in der großen Stadt Berlin, meiner Geburts- und Lebensstadt, erklimme den Teufelsberg, er ist auf Schutt errichtet worden.

Unter meinen Füßen, tief im aufgeschütteten Boden, sind die Grundsteine der Wehrtechnischen Fakultät begraben, geplant von den Nationalsozialisten als Teil der »Welthauptstadt Germania«. Nun liegt der Rohbau mit den Trümmern zerbombter Häuser verborgen unter diesem anmutig erscheinenden Hügel, umgeben von unzähligen kräftigen Laubbäumen. Nur wenig erinnert an die Geschichte - hier und dort im schwarzen Erdboden ein kleines Stück einer Kachel oder eines Ziegelsteins, mehr nicht. Ich schaue über die Stadt, über meine Stadt, bin Teil von ihr, bewundere die Drachenflieger am Horizont, der Sonnenuntergang beginnt.

Später liege ich auf meinem Sofa in meinem von Weiß dominierten Zimmer, schaue auf das Bild an der Wand, ein Blick auf den Djemaa el Fna, den Platz der Erhängten in Marrakesch, und beschließe, dass ich mich auf die Suche nach den Menschen dort und ihren Geschichten machen werde. Und verspüre eine so noch nie erlebte Aufbruchsstimmung in meinem Herzen.
Und in Tanger kommen die Schiffe an,
und von Tanger fahren die Boote nach irgendwo.

Viele Menschen aus Europa und Amerika, die auf der Flucht waren oder sich noch auf der Flucht befinden, leben in Tanger. Viele glaubten, in Tanger könne man alles kaufen, selbst das Glück. Aber wie ausgesetzte Hunde, die sich mitsamt ihrer Leine losgerissen haben, tragen viele dieser Menschen noch immer eine Leine, die Leine ihrer verdrängten Vergangenheit. Da sie ihre Vergangenheit nicht verdrängen können und so am Leben in der Gegenwart gehindert sind, kommen sie nie in Tanger an, auch wenn sie doch scheinbar in Tanger leben.

Der Chemnitzer Schriftsteller Hadayatullah Hübsch beschrieb Tanger als ein »Hospital für Wahnsinnige, die eingesperrt waren, weil sie zu wenig von der Welt wissen wollten und zu viel von sich selbst«.

Flucht scheint das zentrale Thema Tangers zu sein - Flucht in alle Himmelsrichtungen.

Menschen der neuen Welt drängen nach Tanger, Menschen der alten Welt nach Europa und irgendwo. Unzählige Menschen riskieren ihr Leben, um der wuchtigen Hafenstadt in Afrika zu entfliehen, müssen den Hunger gegen die Trägheit tauschen. Frauen und Männer aus dem Kongo, Kamerun, Liberia, aus den vielen so armen Regionen des so reichen Kontinents, voller Kraft und unglaublicher Geschichten, hoffen auf einen bloßen Zwischenstopp in Tanger, aber nur wenige erreichen den anderen Kontinent, nur wenige werden an dem ersehnten Ziel wirklich glücklich sein. Tanger ist der Wartesaal Europas.

In der neuen Medina Tangers laufen unzählige Menschen in alle Richtungen. Sie scheinen die Straßen hinauf und hinunter zu laufen und biegen dann plötzlich in eine der Seitengassen ein. Auf der großen Terrasse, dem Place de Faro, machen viele Halt. Heute kennt man diesen Ort nur noch als den Sour Al Maagazine, den Platz der Faulpelze, die Terrasse des Paresseux. Dieser Platz ist einer der Lieblingsorte der Einheimischen, auch für mich.

Ich laufe hinunter zum Strand und gehe die herrliche Palmenallee direkt an der Playa de Tanger entlang, mache eine kleine Pause, setze mich auf eine der wackeligen Bänke am Hafen und lausche zwei jungen Männern mit kurzen, krausen Haaren. Sie scheinen mich nicht zu bemerken oder sie ignorieren mich einfach nur. Ich stelle wohl für sie keine Gefahr dar. Für Gefahr haben sie ein besonderes Gespür. Sie sprechen ein weiches Französisch, der eine wahrscheinlich keine zwanzig Jahre alt, der andere vielleicht Anfang dreißig. Sie sind schlank, etwas zu schlank, tragen nicht viel Kleidung, die Sohlen ihrer Schuhe sind hauchdünn. Beim Jüngeren sehe ich an einer Stelle die dunkle Fußsohle durchblitzen. Sie reden über Europa, meinen aber nur Spanien, Frankreich und Deutschland. Sie reden über Autos, Verwandte, Kühlschränke und Restaurants.

Sie wollen nach Spanien, in die Nähe des Wohlstands, um etwas von ihrer Armut ablegen zu können. Sie stammen aus der Hauptstadt Malis, Bamako, und kamen über das östliche Oujda an der nur zehn Kilometer entfernten Grenze zwischen Algerien und Marokko. Sie hadern mit ihrer Situation in Marokko. Marokko scheint sie nicht zu wollen, und die Länder Europas wohl erst recht nicht. »Ein Mann muss in seinem Leben ein Haus bauen, sagt ein afrikanisches Sprichwort«, bemerkt der Jüngere. Der Ältere erzählt ihm, dass er schon seit seiner Kindheit nach Europa will. Die Menschen, die früh in ihrem Leben ihr Ziel erreichen, seien die wahrhaftig Glücklichen.

Er hat kurze Zeit auf einer Blumenplantage gearbeitet, die Geranienstecklinge nach Deutschland schickte. Er würde so gerne wissen, wie es dort aussieht, wo die Geranien blühen. Er weiß vom Hörensagen, dass es in Europa Farben gibt, die ein Afrikaner noch nie gesehen hat, und dass in Europa sogar Hunde zum Arzt gehen und Ausweise haben. Sie selbst besitzen nicht ein einziges offizielles Dokument. »Wir müssen illegal, sans papiers, die vielen Grenzen passieren, ohne Dokumente und ohne Banknoten«, so der Jüngere. »Wenn es den europäischen Hunden so gut geht, dann kannst du dir ja vorstellen, wie gut es den Menschen in Europa geht«, sagt er. »Aber es gibt auch unzählige Regeln für alle Dinge. Es ist wohl strengstens verboten, mit den Händen zu essen, man muss alles mit Besteck aus teurem Metall zu sich nehmen«, so der Ältere.

»Ich habe Hunger, Afrika hat immer Hunger«, erwidert der Ältere. »Ja«, antwortet der Jüngere mit den Locken, »selbst das Meer scheint nicht satt zu werden. So viele unserer Schwestern und Brüder werden von diesem Meer verschluckt und ihrer Träume beraubt.«

Ihre Blicke erfassen die Tristesse um sie herum. Als sie Gibraltar am Horizont erreichen, verstummen sie.

Auch die spanischen und portugiesischen Kanonen und auch die Augen vieler Marokkaner sind auf das Meer gerichtet, schauen nach Gibraltar. Schon von Weiten erkennt man die Wellen, die das Schaumweiß aus dem Meer an den Strand schwemmen, als ob das Meer mit seiner Gischt eine Beichte ablegen möchte, um das berauschende Blau zu beschützen. Wenn du dir nur einmal Zeit nimmst, die Wellen in den Meeren von Tanger zu lesen, werden sie dich nicht mehr loslassen. Nimm einen Stein in die Hand, lass das Wasser über deine Beine fließen und du wirst spüren, welche Kraft in Tanger und in deinem Herzen ruht.

Die jungen Männer schauen weiter über das Meer, versuchen wohl zu erkennen, was sich hinter dem Wasser verbirgt, was die Zukunft ihnen bieten kann. Nur die Fremden in Tanger schauen auf das Meer - Afrikaner schauen immer über das Meer hinweg.

Sie vertreiben sich ihre Zeit mit dem Zählen der Wellen, der Wellen mit den weißen, unruhigen Rändern, die ihrer Stadt und den Beobachtenden entgegen schwimmen. In Tanger kann man immer Wellen zählen. Nur wenige Marokkaner lassen sich von ihnen beeindrucken, sich davon abhalten, hinter das Meer zu schauen.

»Das Meer ist keine Landschaft, es ist das Erlebnis der Ewigkeit«, heißt es bei Thomas Mann.
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