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Die heile Hölle

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
258 Seiten
Deutsch
Lenos Verlagerschienen am26.10.2016
In seinem Roman beschreibt Gerold Späth eine Familienhölle. Vier in sich geschlossene Kapitel schildern jeweils einen Tag aus dem Leben eines Mitglieds derselben Familie, der anders verläuft als alle übrigen Tage. Der Vater begeht einen sexuell motivierten Affektmord, die Mutter besinnt sich ihrer lange unterdrückten lesbischen Neigung, die Schwiegertochter gibt sich einem Callboy hin, der Sohn begeht Selbstmord. Mit der ihm eigenen sprachlichen Präzision deckt Späth den Abgrund unter der Oberfläche eines scheinbar geordneten bürgerlichen Lebens auf, die verborgenen Ängste, die uneingestandenen Wünsche und Begierden. Indem er die Einheit von Ort, Zeit und Person zu wahren versteht, vermag er am Modell dieser Familie die bis ins Tragische gesteigerte Entfremdung in den zwischenmenschlichen Beziehungen sichtbar zu machen.

Gerold Späth wurde 1939 als Spross einer Orgelbauerdynastie in Rapperswil am oberen Zürichsee geboren. Ausbildung zum Kaufmann, weit gereist. Der mehrfach ausgezeichnete Autor (1979 Alfred-Döblin-Preis, 1992 Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, 2010 Gottfried-Keller-Preis u.v.a.m.) debütierte mit dem inzwischen legendären Roman 'Unschlecht' (1970). Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke. Er lebt in Italien, Irland und Rapperswil.
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Produkt

KlappentextIn seinem Roman beschreibt Gerold Späth eine Familienhölle. Vier in sich geschlossene Kapitel schildern jeweils einen Tag aus dem Leben eines Mitglieds derselben Familie, der anders verläuft als alle übrigen Tage. Der Vater begeht einen sexuell motivierten Affektmord, die Mutter besinnt sich ihrer lange unterdrückten lesbischen Neigung, die Schwiegertochter gibt sich einem Callboy hin, der Sohn begeht Selbstmord. Mit der ihm eigenen sprachlichen Präzision deckt Späth den Abgrund unter der Oberfläche eines scheinbar geordneten bürgerlichen Lebens auf, die verborgenen Ängste, die uneingestandenen Wünsche und Begierden. Indem er die Einheit von Ort, Zeit und Person zu wahren versteht, vermag er am Modell dieser Familie die bis ins Tragische gesteigerte Entfremdung in den zwischenmenschlichen Beziehungen sichtbar zu machen.

Gerold Späth wurde 1939 als Spross einer Orgelbauerdynastie in Rapperswil am oberen Zürichsee geboren. Ausbildung zum Kaufmann, weit gereist. Der mehrfach ausgezeichnete Autor (1979 Alfred-Döblin-Preis, 1992 Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, 2010 Gottfried-Keller-Preis u.v.a.m.) debütierte mit dem inzwischen legendären Roman 'Unschlecht' (1970). Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke. Er lebt in Italien, Irland und Rapperswil.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783857879500
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum26.10.2016
Seiten258 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2220 Kbytes
Artikel-Nr.3278232
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

DER VATER

Ich habe im wirklichen Leben Leute gekannt,

denen so ungefähr alles zum Menschen fehlte,

sie waren ohne Mitleid, ohne Erbarmen, voller

Feigheit und Selbstsucht,

sie waren unmenschlich - dennoch waren es

Menschen.

 

William Faulkner

Im Bett in seinem von vier Generationen um- und umgebauten Haus im Grünen erwachte der Vater nach einer Weile wohligen Halbschlafs vor Sonnenaufgang und blieb reglos liegen.

Draussen lärmten die Vögel: fast unwirklich laut das starktönige Gepfeife einiger Amseln in der Nähe vor dem steten Hintergrund fernerer Vogelstimmen.

In einem Buch über die Südsee und ihre Insulaner, wahrscheinlich vom Stamm der Maori, hatte der Vater gelesen, dort sei es Brauch, dass Erwachende mit geschlossenen Augen in der Hängematte oder am Boden auf den Bastteppichen stillhielten, dann langsam Finger und Arme bewegten und ihre nackte Haut streichelten, auch behutsam hier und dort kniffen und zupften, alles zu dem Zweck, die bei Nacht im Schlaf aus dem Leib gefahrene, frei umherstreifende Seele sanft zurückzuholen; wer zu hastig aufstand, riskierte, sie auszusperren und seelenlos durch den blühenden Tag zu staken.

Dies wollte der Vater vermeiden. Und wiewohl er - entgegen dem polynesischen Brauch - die Augen beim Erwachen sogleich auftat und an die fahle Decke hinaufblinzelte, nahm er sich viel Zeit fürs Streicheln und Zupfen; denn er wollte seine Seele ganz und heil einschlüpfen lassen, war sie doch, dachte er, eine grosse und noble und also ruhig und gemessen in ihren Bewegungen - allerdings keinesfalls zu verwechseln mit der landläufigen müden Seele; ganz unähnlich aber sei sie dem, was zum Beispiel Sportler, besonders Kurzstreckenflitzer, insgeheim unter Seele, einer lauffreudig wettkampflustigen natürlich, verstehen mögen, wenn sie ihre Nervosität am Startplatz nicht wahrhaben wollen. Nicht einmal weit draussen verwandt mit solch zappeligem Ding sei seine ruhige Seele, dachte der Vater.

An seinem Bauch, seinen Hüften, einigen Härchen an seiner Brust, an Oberschenkeln und Unterarmen zupfend, zweimal gähnend, gliederstreckend, fand er in den weit hinten leicht rötlich verfärbten Morgen, und als er, noch eine gute Viertelstunde vor der Sonne, aufstand, tat er es im Vollbesitz seines zurückgekehrten Innenlebens und ebenso betulich, wie er seine Seele herbeigestreichelt hatte, und so sanft, wie sie wieder in ihn eingezogen war nach dieser Nacht tiefen Schlafs.

Die Nächte des Vaters waren immer Tiefschlafnächte. Selten erinnerte er sich am Morgen, etwa beim ruhigen Gang durch die morgengraue Halbhelligkeit des Schlafzimmers in den gedämpft neonlichten Toilettenraum oder später unter der Brause, an irgendwelche Träume, weder an böse, die ihn geplagt, noch an andere, die ihm den Schlaf versüsst hätten.

Beim Duschen pflegte er die Temperatur jenes Wassers, das ihn von oben besprinkelte, auf die Wärmegrade jenes Wässerchens abzustimmen, das er bei dieser Gelegenheit allmorgendlich abliess; er achtete in seinem Leben auf den Einklang oft unbedeutend erscheinender Dinge: Er war ein harmonischer Mensch. Und wenn ihm sein Morgenwässerchen bronzegolden geriet, ehe es, sich mit dem Brausewasser mischend, dünngelblich abfloss, war er jedesmal erfreut und brachte dann jeweils nach einem engkehligen Räuspern die ersten Laute des Tages hervor -«Hmmhmm. Goldig, goldig.»

Diese Feststellung schien ihm passender als die alte Behauptung von der Morgenstunde mit dem Gold im Munde.

Es kam selten vor, dass der Vater die Hähne ohne Bedauern wieder zudrehte. Er genoss die Schwemme von oben, obwohl er dabei nie zu summen begann noch ins Trällern kam oder sich gar dazu hinreissen liess, die Badezimmerakustik mit lauten Gesängen zu erschrecken.

Bronzebrunzwarm brauste das Wasser in die goldige Frühe dieses Tages, belebend über Vaters hin und wieder luftschnappendes Gesicht: Ein stilles, behagliches Auskosten.

Aber dann liess er doch abtropfen. Er freute sich schon aufs nächste: Der Augenblick der Begrüssung stand an. Noch bevor er sich aber Haar und Haut mit flauschigen Tüchern trocken ribbelte, um hierauf mit Rasierschaum und Klinge über Kinn und Wangen zu gehen und sich dann einen dicken Bademantel umzutun, gönnte er auch seiner Zahnprothese morgendliche Erfrischung, nämlich ein sauerstoffperlendes Wasserglasbad. Hernach fand er, fast ohne hinzublicken, im linken Winkel der Etagere die Tube mit der Haftcreme; er achtete auf Ordnung, nie hätte er jene Tube rechterhand hingelegt, und so legte er sie auch an diesem Morgen wieder in denselben linken Winkel zurück.

Alsbald gestriegelt und geschniegelt - und auch die elfenbeinweissen Zähne bereits dort, wo sie tagsüber hingehörten - wandte er sich dem grossen Spiegel zu.

Er tat seinen zweiten Morgenräusperer, ehe er den kristallblanken Spiegelbildvater aus angemessener Distanz anstrahlte -«Hahaaa!»- und eine kleine Verbeugung machte. Kein Morgen, an dem er dann nicht den Bademantel für eine freundliche Weile auseinandergeklaftert hätte. Er zog Bauch- und Beinmuskeln an, überzeugte sich, dass noch alles - wenn auch spiegelverkehrt - da oder dort, jedenfalls vorhanden, und sah, dass es also gut war.

So begrüsste er sich jeden Morgen; so stellte er immer wieder froh fest, wie frisch, wie straff sich ihm seine Leibhaftigkeit über Jahrzehnte von Sonnenaufgang zu Sonnenaufgang erhalten hatte bis auf diesen Tag. Dem Spiegelbild, dazu konnte er sich täglich leicht überreden, sah man wirklich nicht an, dass der Vater ein Grossvater hätte sein können, war doch sein dreiunddreissigjähriger Sohn seit vier Jahren verheiratet.

Zufrieden gürtete er den Bademantel und zog Wollsocken an, lange braune, und langte sein Stöcklein des Tages, eines aus Buchsbaum mit leicht gebogenem Elfenbeinknauf, aus dem dreihundertsechsundsechzigfach besteckten Stockrechen; dabei las er die in ein Messingschildchen gravierte Tageszahl, sagte «Aha! Der hundertvierundfünfzigste heute!» und hob mit der Linken seine Schirmmütze vom Haken draussen im Korridor.

Mützen hatte der Vater drei Stück: Eine wasserdichte für Regenwetter, eine leichtere für Schönwetter, eine fürs Autofahren.

Die wasserdichte hatte Entlüftungsösen und war dunkelblau, die fürs Autofahren braun kariert und die andere rohleinenfarben. Mützen zog er den Hüten vor, Mützen fand er praktischer; deshalb blieb sein einziger Hut, ein Panama, selbst an Heisswettertagen meist am Huthaken neben dem Stockrechen hängen.

In Socken und Bademantel, mit Stöcklein und Schönwettermütze durchquerte er sein geräumiges Schlafzimmer und trat, in die nun hinter dem Horizont heraufschiessende Sonne zwinkernd, auf die ebenerdige Veranda hinaus. Die Luft war frisch, fast kühl; lautes Vogelgepfeife, aber sonst noch kein geschäftiges Geräusch. Wach geworden waren erst der Vater und die Vögel im grossen Park rings ums Haus; er atmete tief, er war zufrieden.

Einen Meter rechts von der Verandatür standen seine am Abend zuvor bereitgestellten blauen Gummistiefel; sohlentief versenkte er seine braunen Socken, zuerst rechts, dann links, fasste hernach die Sonne wieder ins Schlitzauge, atmete wiederum tief ein und aus, dreimal diesmal, während er die Sonnenbrille dort fand, wo sie sein musste: in der aufgenähten Brusttasche.

Auf der Veranda hielt er inne und schaute: Im aufhellenden Morgengrau grauweisslich ein dichter Tauschleier über dem von schmalen Mähmaschinenbahnen geriffelten Rasengrün. Schliesslich tat er den ersten Schritt dieses hundertvierundfünfzigsten Tages jenes Jahres und legte dann, wie an jedem schönen Sommermorgen, seine Sonnenaufgangspur ohne Hast in den strichweis schon aufgleissenden Tau, quer über den weiten Rasen vom Haus auf den Teich zu. «Schön», sagte er vor sich hin, und die Vögel in Bäumen und Büschen verzwitscherten die Morgenstille.

Eins nach dem ändern, dachte er.

Irgendwo hatte der Vater gelesen - wahrscheinlich in einer Zeitung, nicht in einem Buch -, dass die Singvögel irgendwann im Sommer mit Pfeifen aufhörten, fast alle an demselben Tag. Er wusste aber das Datum nicht mehr. Vielleicht im Juli, dachte er und sagte wieder: «Schön.»

Er sagte es noch fünfmal, bis er zu den Eiben kam und zu den dunklen, von drei Buchen und sieben Fichten überragten Buchsbaumbüschen und Zephirsträuchern, die den Teich dicht umstanden; ein schmaler, unebener Streifen festgetretener, schütter kiesiger und fleckweise unkrautbewachsener Erde säumte den Teich.

Über Tag und Nacht, von Morgen zu Morgenfrühe, das wusste der Vater, pflegten die Spinnen ihre Fäden zu spannen; deshalb fuchtelte und stocherte er mit dem Stock des hundertvierundfünfzigsten Tages heftig in der Luft herum, als er vom nassen Rasen auf den Pfad durch die Sträucher wechselte. Mit klebrigem Spinnweb im frisch rasierten Gesicht mochte er sich nicht übers stille Wasser zu seinem zweiten Spiegelbild des Morgens hinabbeugen. Überhaupt: Spinnen, Spinnweb ⦠Fische, das war s! Saubere Tiere, die Fischchen!

Der Teich war kreisrund, von Ufer zu Ufer über die Mitte gepeilt waren es an die zwanzig Meter; am Rand stand das Wasser einen knappen Meter tief, weiter draussen sank der Betongrund ins Dunkle ab bis zur Mitte hinaus; dort ragte ein ausgewaschener, vermooster Kalkstein über einen Meter hoch steil heraus, und oben auf dem Stein stand Vaters marmorweisse Diana, mitten im Jagdlauf gebannt auf einem Bein. Bogen und Pfeil aus allmonatlich blitzblank gescheuertem Messing; nur an versteckten Stellen grünspanbefleckt. Am...
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Gerold Späth wurde 1939 als Spross einer Orgelbauerdynastie in Rapperswil am oberen Zürichsee geboren. Ausbildung zum Kaufmann, weit gereist. Der mehrfach ausgezeichnete Autor (1979 Alfred-Döblin-Preis, 1992 Preis der Schweizerischen Schillerstiftung, 2010 Gottfried-Keller-Preis u.v.a.m.) debütierte mit dem inzwischen legendären Roman "Unschlecht" (1970). Sein Werk umfasst Romane, Erzählungen, Hörspiele und Theaterstücke. Er lebt in Italien, Irland und Rapperswil.