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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
183 Seiten
Deutsch
Verlag Neue Kritikerschienen am26.10.20161. Auflage
Die Diagnose vom Aufstieg der ?illiberalen Demokratie? war Symptom einer allgemeinen philosophischen und politischen Katerstimmung nach 1989: In den berauschenden Tagen, als der Staatssozialismus implodierte und die Welt geradezu demokratietrunken wirkte, hatte es den Anschein, als würden sich Mehrheitsprinzip, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Grundrechte stets harmonisch zusammenfügen. Schon bald jedoch brachten Wahlen Mehrheiten hervor, die alle ihnen zur Verfügung stehende Macht nutzten, um Minderheiten zu unterdrücken und Grundrechte zu verletzen.mehr
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BuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
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Produkt

KlappentextDie Diagnose vom Aufstieg der ?illiberalen Demokratie? war Symptom einer allgemeinen philosophischen und politischen Katerstimmung nach 1989: In den berauschenden Tagen, als der Staatssozialismus implodierte und die Welt geradezu demokratietrunken wirkte, hatte es den Anschein, als würden sich Mehrheitsprinzip, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Grundrechte stets harmonisch zusammenfügen. Schon bald jedoch brachten Wahlen Mehrheiten hervor, die alle ihnen zur Verfügung stehende Macht nutzten, um Minderheiten zu unterdrücken und Grundrechte zu verletzen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783801505790
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum26.10.2016
Auflage1. Auflage
Seiten183 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4734 Kbytes
Artikel-Nr.3278360
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Inhaltsverzeichnis
Jan-Werner Müller
»Illiberale Demokratie«?

Gábor Halmai
Der Niedergang der liberalen Demokratie mitten in Europa

Balázs Trencsényi
Geschichtspolitik und Regimebildung in Ungarn

István Rév
Freiheitsplatz, Budapest

Klaus Bachmann
Auf dem Weg in ein hybrides System
Die Ursachen der Machtübernahme durch die Partei Recht und Gerechtigkeit in Polen 2015

Soli Özel
Der Spieler in Ankara

Grenzformalismen - Spielfeld, Österreich, Dezember 2015
Photoessay von Sabine Bitter und Helmut Weber

Vladimir Gel'man
Politik der Angst
Neue Formen politischer Repression in Russland

Maria Tomak
Schauprozesse als Teil der hybriden Kriegsführung Russlands

Maria Popova
Die Entwicklung der ukrainischen Justiz seit dem Euromaidan

Paul Ricoeur
Der Fremde

Oleg Sentsov
Schule
mehr
Leseprobe

Jan-Werner Müller

ILLIBERALE DEMOKRATIE?

 

 

 

 

Externe Beobachter, nicht zuletzt die EU-Kommission, schlagen Alarm ob einer autoritären Wende in Polen. Seit ihrem Wahlsieg im Oktober 2015 hat JarosÅaw Kaczynskis Partei »Recht und Gerechtigkeit« (Prawo i Sprawiedliwosc, PiS) in erstaunlichem Tempo das Verfassungsgericht entmachtet; sie ist zudem gegen andere unabhängige Institutionen wie das Beamtentum vorgegangen, und sie hat ganz unverblümt versucht, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk unter staatliche Kontrolle zu bringen. Die polnische Regierung, die einen klaren demokratischen Auftrag für sich beansprucht, steht offenbar kurz davor, das zu verwirklichen, was Kritiker als »illiberale Demokratie« bezeichnen, ähnlich dem, was Viktor Orbán und seine Partei, der Fidesz, so scheint es, in den letzten sechs Jahren in Ungarn geschafft haben. Doch diese Bezeichnung ist höchst irreführend und untergräbt in Wirklichkeit alle Versuche, Parteien wie die PiS oder den Fidesz im Zaum zu halten. Wer von »illiberaler Demokratie« spricht, belässt Regierungen wie denen von Kaczynski und Orbán die Möglichkeit zu behaupten, ihre Länder seien nach wie vor Demokratien, nur eben keine liberalen. Beobachter von außen sollten sich unmissverständlich darüber im Klaren sein, dass hier die Demokratie als solche Schaden nimmt.

Populär wurde der Begriff »illiberale Demokratie« in westlichen Politikkreisen Mitte der 1990er Jahre. Er sollte Regime beschreiben, die zwar Wahlen abhalten, in denen sich die Wahlsieger aber nicht an das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit halten. In einem einflussreichen Artikel behauptete der amerikanische Journalist Fareed Zakaria, dass Regierungen mit genuinem Rückhalt in der Bevölkerung regelmäßig gegen die Prinzipien dessen verstießen, was er als »Verfassungsliberalismus« bezeichnet und wozu er politische Rechte, bürgerliche Freiheiten und Eigentumsrechte zählt. Die Diagnose vom Aufstieg der »illiberalen Demokratie« war Symptom einer allgemeinen philosophischen und politischen Katerstimmung nach 1989: In den berauschenden Tagen, als der Staatssozialismus implodierte und die Welt geradezu demokratietrunken wirkte, hatte es den Anschein, als würden sich Mehrheitsprinzip, Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Grundrechte stets harmonisch zusammenfügen. Schon bald jedoch brachten Wahlen Mehrheiten hervor, die alle ihnen zur Verfügung stehende Macht nutzten, um Minderheiten zu unterdrücken und Grundrechte zu verletzen. Daraus ergab sich zwangsläufig die Notwendigkeit, den Liberalismus zu stärken, um die Gefahren für die Demokratie in Ländern einzudämmen, in denen die politischen Kandidaten eine »Winner-takes-all-Mentalität« an den Tag legen.

Diese begriffliche Trennung zwischen Liberalismus und Demokratie war nicht wirklich neu. Sowohl linke als auch rechte Kritiker der »bürgerlichen Demokratie« bedienten sich ihrer schon lange. Ganz allgemein kann man sagen: Marxisten behaupteten, im Kapitalismus offeriere der Liberalismus lediglich »formale Freiheiten« und eine Art vorgetäuschter politischer Emanzipation, während er letztlich doch nur das schütze, was man oft als »Privatautonomie« der Bürger bezeichnete (das heißt, er sicherte ihren Status als Marktteilnehmer und übertrug dem Staat die Aufgabe, Verträge durchzusetzen). Auf der Rechten vertrat Carl Schmitt in den 1920er Jahren die Ansicht, der Liberalismus habe sich als Form politischen Denkens überholt: Im 19. Jahrhundert habe er dafür gesorgt, dass Eliten im Parlament vernünftig über Politik diskutierten, doch im Zeitalter der Massendemokratie seien Parlamente nichts weiter als Fassade für Mauscheleien zwischen den Vertretern von Partikularinteressen. Im Gegensatz dazu werde der echte Volkswille durch einen Führer wie Mussolini repräsentiert. Akklamation seitens eines homogenen Volkes wurde zum Erkennungsmerkmal wahrer Demokratie, die Schmitt als »Identität von Herrscher und Beherrschten, Regierenden und Regierten, Befehlenden und Gehorchenden« definierte1. Nicht-gewählte Institutionen wie Verfassungsgerichte waren aus dieser Sicht als Hüter des Liberalismus zu verstehen - und als grundsätzlich undemokratisch.

Schmitt nahm zudem eine verhängnisvolle begriffliche Trennung vor zwischen der »Substanz« des Volkes auf der einen Seite und den empirischen Ergebnissen von Wahlen oder Meinungsumfragen auf der anderen. Es lohnt sich, Schmitt an dieser Stelle ausführlich zu zitieren, denn sein Denken erklärt viele aktuelle Wendungen hin zum Autoritarismus unter dem Deckmantel einer demokratisch klingenden Sprache:

Die einstimmige Meinung von 100 Millionen Privatmenschen ist weder Wille des Volkes, noch öffentliche Meinung. Der Wille des Volkes kann durch Zuruf, durch acclamatio, durch selbstverständliches unwidersprochenes Dasein ebensogut und noch besser demokratisch geäußert werden als durch den statistischen Apparat, den man seit einem halben Jahrhundert mit einer so minutiösen Sorgfalt ausgebildet hat. Je stärker die Kraft des demokratischen Gefühls, um so sicherer die Erkenntnis, daß Demokratie etwas anderes ist als ein Registriersystem geheimer Abstimmungen. Vor einer, nicht nur im technischen, sondern auch im vitalen Sinne unmittelbaren Demokratie erscheint das aus liberalen Gedankengängen entstandene Parlament als eine künstliche Maschinerie, während diktatorische und cäsaristische Methoden nicht nur von der acclamatio des Volkes getragen, sondern auch unmittelbare Äußerungen demokratischer Kraft und Substanz sein können.2

In jüngerer Zeit haben Kritiker einer angeblichen Hegemonie des Liberalismus nach 1989 - deren prominenteste Stimme vielleicht die von Chantal Mouffe ist - behauptet, das »rationalistische« liberale Denken leugne die Legitimität von Konflikt und Dissens, die der Demokratie immanent seien. Gleichzeitig hätten sozialdemokratische Parteien es aufgegeben, eine echte Alternative zum Neoliberalismus anzubieten; ihre Konvergenz auf einen »dritten Weg« habe bei den Wählern das Gefühl verstärkt, es gebe nur noch »Wahlen ohne Wahlmöglichkeit« (oder, wie Mouffe es in einem Interview formulierte, lediglich die Wahl zwischen Coke und Pepsi). Glaubt man ihr, so haben diese Konvergenz der politischen Parteien und der Druck, zu einem Konsens zu gelangen - der sich angeblich in den Demokratietheorien von John Rawls und Jürgen Habermas findet -, starke antiliberale Gegenbewegungen hervorgebracht, insbesondere in Gestalt eines rechten Populismus.

Jenseits dieser Debatten im Bereich der politischen Theorie steht »Liberalismus« zumindest in Europa inzwischen für einen zügellosen Kapitalismus und für die Vorstellung, es gehe vor allem darum, die Freiheit persönlicher Lebensstile zu maximieren. Nach der Finanzkrise nutzte eine neue Welle selbsterklärter Antiliberaler die Mehrdeutigkeiten im Zusammenhang mit dem »L-Wort«, um für eine andere Form von Demokratie zu plädieren: Der ehemalige türkische Ministerpräsident und seit 2014 Staatspräsident Recep Tayyip ErdoÄan präsentiert sich als »konservativer Demokrat«, der sich auf traditionelle islamische Moral beruft; der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán verkündete 2014 in einer von vielen zu Recht als skandalös empfundenen Rede, einen »illiberalen Staat« schaffen zu wollen. Und jüngst, während der Flüchtlingskrise, verkündete er, die Zeit des »liberalen Gequatsches« - Orbáns eigener Ausdruck - in Europa sei vorbei und der Kontinent werde auf seine, Orbáns, »christliche und nationale« Vorstellung von Politik einschwenken. Illiberalismus soll hier offenkundig für zweierlei stehen: für Widerstand gegen einen hemmungslosen Kapitalismus, wo immer nur die Starken gewinnen, und gegen eine Ausweitung von Rechten für Minderheiten wie etwa Homosexuelle. Es geht - angeblich - um Einschränkungen von Markt und durch Moral.

Nun ist »illiberale Demokratie« nicht zwangsläufig ein Widerspruch in sich. Im 19. und 20. Jahrhundert hätten sich viele europäische Christdemokraten als »illiberal« bezeichnet; womöglich wären sie sogar beleidigt gewesen, wenn man ihren strammen Antiliberalismus in Frage gestellt hätte. Das heißt freilich nicht, dass sie nicht begriffen hätten, wie wichtig Minderheitenrechte für eine funktionierende Demokratie sind (schließlich könnten Minderheiten bei der nächsten Wahl die Mehrheit stellen), oder dass sie nicht-gewählte Institutionen wie Gerichte für undemokratisch gehalten hätten. Der Grund war schlicht, dass sie »Liberalismus« mit Individualismus, Materialismus und, sehr oft, Atheismus in Verbindung brachten - man denke nur an den Franzosen Jacques Maritain, einen führenden katholischen Philosophen des 20. Jahrhunderts und einen der Mitverfasser der UN-Menschenrechtserklärung: Er behauptete, die Demokratie lasse sich aus spezifisch katholischen Gründen gutheißen, während der Liberalismus abzulehnen sei. Für Denker wie ihn bedeutete »antiliberal« zu sein keinen mangelnden Respekt vor grundlegenden politischen Rechten, sondern signalisierte Kritik am Kapitalismus - auch wenn Christdemokraten die Legitimität von Privateigentum als solchem nicht in Frage stellten - sowie die Betonung eines traditionellen, patriarchalen Familienbilds.

Es kann, wie im Falle von Maritain, durchaus nicht-liberale philosophische Begründungen der Demokratie geben. Und es kann traditionelle Gesellschaften geben, in denen das Recht auf Abtreibung und das Recht auf Eheschließung stark eingeschränkt sind. Gleich, wie man dazu steht, wäre es...
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