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Schweigekind

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
210 Seiten
Deutsch
Transit Buchverlagerschienen am28.02.2018Originalausgabe
Der Psychotherapeut Hans Sahlfeldt beschuldigt sich selbst, in geistig verwirrtem Zustand einen Mann getötet und verbrannt zu haben. Noch während der Nachforschungen begibt er sich zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik. Die therapeutischen Gespräche dort führen zurück in die Vergangenheit. Eines Abends war eine mysteriöse Frau in Sahlfeldts Praxis aufgetaucht und hatte ihn um Hilfe gebeten: Ihre Tochter Hanna schweige seit dem achten Geburtstag. In den Wochen nach dem ersten Treffen entsteht eine vorsichtige, für ihn vielleicht letzte Liebe. Er ahnt, dass das Schweigen der Tochter mit der Lebensgeschichte der Mutter zusammenhängt, doch die gibt ihr Geheimnis nicht preis. Eines Tages ist sie verschwunden. Sie hinterlässt Sahlfeldt Briefe, die sie an ihn geschrieben, aber nie abgeschickt hatte - und aus ihnen erfährt er die wahre Geschichte des Schweigekinds, die auch in seine eigene Kindheit und hinter die Fassaden der kleinstädtischen Idylle führt.

Gert Heidenreich, 1944 in Eberswalde geboren, wuchs in Darmstadt auf. Studium der Literaturwissenschaft in München, dort 1969 Mitbegründer des Theaters in der Kreide TiK. Reisebilder und Reportagen für Rundfunkanstalten, Merian, art, Die Zeit. Seit 1972 auch Sprecher für Medien und Hörbücher. Romane, Erzählungen, Bühnenstücke, Essays. Zahlreiche Literaturpreise. Auszeichnungen für Drehbücher, u a. Deutscher ­Filmpreis in Gold 2014 und Menschenrechtspreis von Amnesty International 2017. Jüngste Veröffentlichungen: 'Die andere Heimat, Erzählung', 2013; 'Der Fall, Roman', 2014; 'Nächte mit Leonard. Erinnerungen an Leonard Cohen', 2015; 'Das Lied von Kulager, Nachdichtung', 2016; 'Die Wiederkehr der Nashörner, Essay', 2016
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR20,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextDer Psychotherapeut Hans Sahlfeldt beschuldigt sich selbst, in geistig verwirrtem Zustand einen Mann getötet und verbrannt zu haben. Noch während der Nachforschungen begibt er sich zur Behandlung in eine psychiatrische Klinik. Die therapeutischen Gespräche dort führen zurück in die Vergangenheit. Eines Abends war eine mysteriöse Frau in Sahlfeldts Praxis aufgetaucht und hatte ihn um Hilfe gebeten: Ihre Tochter Hanna schweige seit dem achten Geburtstag. In den Wochen nach dem ersten Treffen entsteht eine vorsichtige, für ihn vielleicht letzte Liebe. Er ahnt, dass das Schweigen der Tochter mit der Lebensgeschichte der Mutter zusammenhängt, doch die gibt ihr Geheimnis nicht preis. Eines Tages ist sie verschwunden. Sie hinterlässt Sahlfeldt Briefe, die sie an ihn geschrieben, aber nie abgeschickt hatte - und aus ihnen erfährt er die wahre Geschichte des Schweigekinds, die auch in seine eigene Kindheit und hinter die Fassaden der kleinstädtischen Idylle führt.

Gert Heidenreich, 1944 in Eberswalde geboren, wuchs in Darmstadt auf. Studium der Literaturwissenschaft in München, dort 1969 Mitbegründer des Theaters in der Kreide TiK. Reisebilder und Reportagen für Rundfunkanstalten, Merian, art, Die Zeit. Seit 1972 auch Sprecher für Medien und Hörbücher. Romane, Erzählungen, Bühnenstücke, Essays. Zahlreiche Literaturpreise. Auszeichnungen für Drehbücher, u a. Deutscher ­Filmpreis in Gold 2014 und Menschenrechtspreis von Amnesty International 2017. Jüngste Veröffentlichungen: 'Die andere Heimat, Erzählung', 2013; 'Der Fall, Roman', 2014; 'Nächte mit Leonard. Erinnerungen an Leonard Cohen', 2015; 'Das Lied von Kulager, Nachdichtung', 2016; 'Die Wiederkehr der Nashörner, Essay', 2016
Details
Weitere ISBN/GTIN9783887473525
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum28.02.2018
AuflageOriginalausgabe
Seiten210 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse844 Kbytes
Artikel-Nr.3374495
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1

NACH WOCHEN TROCKENER KÄLTE begann an jenem Dezembernachmittag Schnee zu fallen. In den freien Morgenhimmel waren von den Bergen her einzelne Wolken eingezogen, hatten sich über dem See gesammelt und zu einer grauen Schicht verbunden.

Während die ersten Flocken durch die Luft irrten, lief Hans Sahlfeldt zum Ende des Uferstegs, der auf die Eisfläche ragte. Sein kleiner, altersmagerer Begleiter versuchte zu folgen, kam aber auf den glatten Holzplanken kaum voran und rief seinem Patienten zu:

»Das Eis trägt nicht!«

»Wer will aufs Eis?«, wandte sich Sahlfeldt zurück. »Ich sehe den Schnee auf dem See, mein Gott, ist das schön, kommen Sie, Tiefenbach, morgen trägt der See ein Fell, und wir dürfen es jetzt schon wachsen sehen!«

Der Arzt holte ihn ein, stellte sich neben ihn an die Kante des Badestegs, ergriff seinen Arm, beide schwiegen. Das Schneegestöber nahm zu, und die blauschwarze Bergkette hinter dem jenseitigen Ufer wurde zu einem einförmigen Schatten, der schließlich verschwand.

Hans Sahlfeldt nahm seinen Hut ab, legte den Kopf in den Nacken und schien zu genießen, dass auf seinen geschlossenen Augen die Flocken schmolzen.

»Die schönen Tage von Aranjuez sind nun vorbei⦫, sagte er leise und leckte das Schmelzwasser von seinen Lippen. »Sehen Sie, Tiefenbach, da ist es wieder, ich habe einen Satz im Kopf und weiß nicht woher und weiß nicht, warum und wohin, obwohl es schneit.«

Tiefenbach nahm ihm den Hut aus der Hand und setzte ihn sich selbst auf. »Ich werde mich erkälten Ihretwegen!«

Sahlfeldt lachte. »Sie können von Glück sagen! Unsereiner weiß überhaupt nicht, was Schnee ist! Sie hingegen! Die Flocken schweben auf Ihren nackten Schädel nieder, und jede schenkt Ihnen eine Gewissheit über die Menschenseele!«

»Bitte kommen Sie, Hans. Mir ist kalt, unser Therapieraum ist wunderbar warm, wir unterhalten uns dort über die Gewissheiten des Schnees und meinetwegen auch über meine Glatze.«

Sein Patient blieb ungerührt stehen, breitete die Arme aus und sagte: »Es geschieht. Und so früh.«

Tiefenbach trat einen Schritt zurück. Er deutete auf das Nottelefon der Klinik, das in einem kleinen Holzkasten neben dem Steg an einem Pfahl installiert war. »Ich kann Sie auch von der Aufsicht holen lassen!«

»Ja! Holen Sie, holen Sie ruhig!«, rief Sahlfeldt, »eine Bankrotterklärung für den Seelenarzt, das wissen Sie, holen Sie! Der Schnee fällt dennoch, dennoch, dennoch! Schauen Sie, wie er auf dem Eis liegt, wir wollen Spuren hinterlassen!«

Er stieg die Eisentreppe hinab, und Bruno Tiefenbach, mit seinen fünfundsiebzig Jahren weniger trittsicher als sein acht Jahre jüngerer Patient, sah sich genötigt zu folgen und hielt sich an Sahlfeldts Mantel fest. Nebeneinander stapften sie auf den See hinaus.

Der Schnee fiel jetzt dicht, leichter Wind erhob sich, die Welt schien sich aufzulösen.

Ein Knall zerschoss die Stille.

Wachsam und wie gegen einen Feind verbündet, blieben die beiden Männer stehen. Weitere Schläge peitschten durch die Eisdecke und verliefen sich. Dann erklang unter ihnen ein dunkler Ton, als klagte ein Tier am Grund. Der Ton schwoll an und löste sich in Donner auf, der über den See rollte und am unsichtbaren Ufer gegenüber erstarb.

»Hören Sie«, flüsterte Sahlfeldt und umklammerte Tiefenbachs Arm, »hören Sie. Das Eis singt für uns. Man muss einen Bericht schreiben, einen präzisen Bericht!«

»Ja, genau das wollen wir jetzt tun. Kommen Sie.«

Folgsam wandte Sahlfeldt sich um, die beiden Männer arbeiteten sich, der große Patient Hand in Hand mit seinem vor Kälte zitternden Arzt, zur Treppe am Steg vor und liefen durch das Schneetreiben zurück zum Sanatorium.

Der Fußboden des Therapieraums aus hellgrau lackierten Holzbohlen war beheizt, weshalb Tiefenbach seine Stunden hier in Stoffschuhen abhielt und auch seine Patienten bat, ihre Schuhe vor der Tür zu lassen und die in ihren Krankenzimmern bereitliegenden Pantoffeln zu tragen.

Er hatte für Sahlfeldt und sich selbst Tee zubereitet, man saß einander in dunkelgrünen Ledersesseln mit hoher Rückenlehne und Ohrenbacken gegenüber, getrennt von einem kleinen weißen Korbtisch. Darauf standen die Tassen, zu denen die Männer gleichzeitig griffen, daraus tranken, sie wieder abstellten. Sahlfeldt räusperte sich und schwieg. Sein Therapeut fixierte ihn und lehnte sich im Sessel zurück. Zum ersten Mal in seiner Zeit als Analytiker hatte er einen Patienten, der selbst Therapeut war - wenn auch von anderer Richtung und Schule: Als Paar- und Familientherapeut hielt Hans Sahlfeldt die Behandlungsweise nach Sigmund Freud für überholt und hatte seit Jahren mit der Methode gearbeitet, die auf die Amerikanerin Virginia Satir zurückging. Von ihr wiederum war Tiefenbach nicht überzeugt.

Der Raum wurde von Lichtleisten erhellt, die unterhalb der Decke die Wände umliefen. Auf halber Höhe wechselte hinter dem Patientensessel eine Digitaluhr, die in die Mauer eingelassen war, geräuschlos ihre Ziffern. Vor den drei Fenstertüren, aus denen man auf den Hortensiengarten und die Liegewiese des Sanatoriums blickte, fiel in der frühen Dämmerung fortdauernd Schnee und schien mit seiner rieselnden Lautlosigkeit die Stille im Zimmer noch zu vertiefen.

»Ich muss nicht erzählen«, sagte Sahlfeldt plötzlich. Tiefenbach nickte. »Ihr Analytiker«, fuhr Sahlfeldt nach einer Pause fort, »wollt ja immer was von der Kindheit hören und von Mutterliebe, aber ich habe keine Lust, von meiner Kindheit zu sprechen, überhaupt keine Lust, ganz und gar keine, und von der Liebe meiner Mutter schon erst recht nicht.«

»Natürlich nicht.« Tiefenbach schien amüsiert. »Aber wir wollen auch nicht schon wieder unsere Arbeitsweisen diskutieren, nicht wahr? Ich haben Ihnen damals, als Sie bei mir die Lehranalyse machten -«

»Abgebrochen!«, fuhr Sahlfeldt auf. »Aus gutem Grund abgebrochen!«

»Das kann man so sehen oder anders. Vielleicht wären Sie kein schlechter Analytiker geworden. Wie immer wir das betrachten, so ist doch festzuhalten, dass wir in der unvorhergesehenen Situation hier und jetzt keine Kollegen sind, sondern Sie sind der Patient und ich bin Ihr Arzt, der feststellen darf, dass Sie längst begonnen haben, über Ihre Kindheit zu sprechen.«

»Habe ich nicht.«

»Die schönen Tage in Aranjuez sind nun zu Ende«, griff Tiefenbach auf, was Sahlfeldt keine Stunde zuvor im Schnee gesagt hatte, und wartete. Als die Reaktion ausblieb, half er nach: »Hat der junge Don Carlos nicht einen gewaltigen Konflikt mit seinem Vater, der ihm die Verlobte weggeheiratet hat, weswegen Carlos jetzt folglich die Stiefmutter liebt? Also, warum fiel Ihnen der erste Satz aus Schillers Drama ein?«

Sahlfeldt presste die Lippen aufeinander und schlug zornig mit den Handflächen auf die Sessellehnen.

»Es gibt auch andere Sätze!«

»Gewiss. Ich höre jeden gern von Ihnen.«

Wieder trat Stille ein, Tiefenbach schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück. Der Spaziergang im Schnee hatte ihn erschöpft. Sahlfeldt entschied sich, ihn am Schlaf zu hindern.

»Wohin geht das Glück, wenn es verschwindet?«

Der Analytiker öffnete ein Auge. »Wie?«

Laut wiederholte Sahlfeldt: »Wohin - geht - das - Glück, - wenn - es - ver - schwindet?«

Tiefenbach war sofort hellwach. »Eine sehr gute Frage. Was antworten Sie?«

Sein Patient stöhnte, schlug die Hände vors Gesicht und überließ sich seiner Erinnerung. Nach Minuten öffnete er die Augen und fuhr sich mit beiden Händen über die Wangen.

»Ich danke Ihnen«, sagte Tiefenbach leise und beugte sich zu seiner Teetasse vor. »Lassen Sie uns über diese Frau reden, deren Schuld Sie auf sich nehmen.«

Sahlfeldt atmete tief und beruhigte sich. »Wenn Sie das so sehen, hat es keinen Sinn. Ich verlange Gitter vor meinem Fenster und Zäune um das ganze Areal. Dieses Sanatorium ist ein Skandal. Einen wie mich derart ungesichert herumlaufen zu lassen! Sie werden sich verantworten müssen!«

Der Therapeut nickte und stellte seine Tasse zurück.

»Wird gemacht. Das ist ein erheblicher Aufwand für einen Unschuldigen, denn die Untersuchungen werden ergeben, dass Sie den alten Mann keineswegs getötet haben.«

»Verbrannt!«, rief Sahlfeldt, »verbrannt! Ich habe beabsichtigt, ihn als tote, tote, tote Asche zu...
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Autor

Gert Heidenreich, 1944 in Eberswalde geboren, wuchs in Darmstadt auf. Studium der Literaturwissenschaft in München, dort 1969 Mitbegründer des Theaters in der Kreide TiK. Reisebilder und Reportagen für Rundfunkanstalten, Merian, art, Die Zeit. Seit 1972 auch Sprecher für Medien und Hörbücher. Romane, Erzählungen, Bühnenstücke, Essays. Zahlreiche Literaturpreise. Auszeichnungen für Drehbücher, u a. Deutscher ­Filmpreis in Gold 2014 und Menschenrechtspreis von Amnesty International 2017. Jüngste Veröffentlichungen: "Die andere Heimat, Erzählung", 2013; "Der Fall, Roman", 2014; "Nächte mit Leonard. Erinnerungen an Leonard Cohen", 2015; "Das Lied von Kulager, Nachdichtung", 2016; "Die Wiederkehr der Nashörner, Essay", 2016