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Bittere Orangen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
320 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am04.09.20181. Auflage
Im Sommer 1969 geschehen zwei Dinge im Leben von Frances Jellico, die sie zum ersten Mal Freiheit und Selbstbestimmung empfinden lassen: Ihre dominante Mutter stirbt, und sie erhält den Auftrag, für das Lynton Herrenhaus ein architektonisches Gutachten zu schreiben. Frances löst ihre Londoner Wohnung auf und richtet sich für einige Wochen in Lynton ein. Die einzigen Bewohner des einsamen Hauses sind Cara und Peter, das Hausmeisterpaar, zu dem sie rasch eine enge, komplizierte Beziehung entwickelt. Denn Cara macht sie zu ihrer Vertrauten, während Frances sich zunehmend zu dem undurchschaubaren Peter hingezogen fühlt. Das Ende dieses Sommers besiegelt ein Ereignis, das für Frances den Rest ihres Lebens auf tragische Weise beeinflussen wird.

Claire Fuller lebt mit ihrem Mann in Winchester, England, und hat zwei erwachsene Kinder. Für ihren späten Debütroman 'Our Endless Numbered Days' erhielt sie viel Kritikerlob und wurde mit dem Desmond Elliot Award ausgezeichnet. Nach 'Eine englische Ehe' erscheint mit 'Bittere Orangen' ihr zweiter Roman auf deutsch.
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Produkt

KlappentextIm Sommer 1969 geschehen zwei Dinge im Leben von Frances Jellico, die sie zum ersten Mal Freiheit und Selbstbestimmung empfinden lassen: Ihre dominante Mutter stirbt, und sie erhält den Auftrag, für das Lynton Herrenhaus ein architektonisches Gutachten zu schreiben. Frances löst ihre Londoner Wohnung auf und richtet sich für einige Wochen in Lynton ein. Die einzigen Bewohner des einsamen Hauses sind Cara und Peter, das Hausmeisterpaar, zu dem sie rasch eine enge, komplizierte Beziehung entwickelt. Denn Cara macht sie zu ihrer Vertrauten, während Frances sich zunehmend zu dem undurchschaubaren Peter hingezogen fühlt. Das Ende dieses Sommers besiegelt ein Ereignis, das für Frances den Rest ihres Lebens auf tragische Weise beeinflussen wird.

Claire Fuller lebt mit ihrem Mann in Winchester, England, und hat zwei erwachsene Kinder. Für ihren späten Debütroman 'Our Endless Numbered Days' erhielt sie viel Kritikerlob und wurde mit dem Desmond Elliot Award ausgezeichnet. Nach 'Eine englische Ehe' erscheint mit 'Bittere Orangen' ihr zweiter Roman auf deutsch.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492992510
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum04.09.2018
Auflage1. Auflage
Seiten320 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3922 Kbytes
Artikel-Nr.3411117
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1

Die anderen müssen denken, mit mir geht es nicht mehr lange, denn heute haben sie den Pastor zu mir gelassen. Vielleicht haben sie recht, obwohl der Tag heute sich nicht von dem gestern unterscheidet, und vermutlich wird es morgen dasselbe sein. Der Pastor - nein, nicht Pastor, er hat einen anderen Titel, aber den habe ich vergessen - ist ein paar Jahre älter als ich, sein Haar ist grau, und seine Haut ist rot und schuppig und sieht entzündet aus. Ich habe nicht darum gebeten, dass er kommt; mein Glaube, mein sogenannter, wurde in Lyntons auf die Probe gestellt, die er nicht bestanden hat. Vorher war mein Kirchgang reine Gewohnheit, eine Routinesache, um die herum Mutter und ich die Woche gestalteten. Mit Routine und Gewohnheit kenne ich mich aus. Danach leben und sterben wir.

Der Pastor, oder was immer sein Titel sein mag, sitzt neben meinem Bett mit einem Buch auf dem Schoß; so schnell, wie er die Seiten umblättert, kann er es nicht lesen. Als er sieht, dass ich wach bin, nimmt er meine Hand, und ich stelle überrascht fest, dass es ein Trost ist: eine Hand in meiner. Ich weiß nicht mehr, wann ich das letzte Mal berührt worden bin - ich meine nicht die flüchtige Reinigungsprozedur mit einem warmen Lappen oder einem Kamm in meinem Haar, das zählt nicht. Ich meine, richtig berührt, von jemandem gehalten. Peter, wahrscheinlich. Ja, es muss Peter gewesen sein. Das ist im August zwanzig Jahre her. Zwanzig Jahre. Was kann man hier schon tun außer der Zeit nachspüren und sich erinnern?

»Wie geht es Ihnen, Miss Jellico?«, fragt der Pastor. Ich glaube nicht, dass ich ihm meinen Namen gesagt habe. Ich lasse das Miss auf mich wirken, Miss Jellico, rolle es in meinem Kopf herum wie eine Silberkugel, die beim Tivoli-Spiel von einem Stift zum nächsten kullert, bis sie in der Kuhle in der Mitte verschwindet und das Glöckchen zum Klingen bringt. Ich weiß genau, wer der Mann ist, aber seinen Titel, den kriege ich nicht zu fassen.

»Wohin komme ich, meinen Sie? Danach?« Ich stelle die Frage unvermittelt. Ich bin eine querköpfige Alte. Vielleicht gar nicht so alt.

Er rutscht ein bisschen auf dem Stuhl herum, als juckte es ihn in der Hose. Vielleicht ist die Haut unter seinen Sachen auch schuppig und entzündet. Das will ich mir lieber nicht vorstellen.

»Nun«, fängt er an und beugt sich über sein Buch. »Das kommt ganz darauf an â¦ das kommt drauf an, ob Sie â¦«

»Ob ich was?«

»Ob Sie â¦«

Wo ich hinkomme, hängt davon ab, was ich zu beichten habe - das ist es, was er meint. Himmel oder Hölle. Aber ich glaube nicht, dass er das wirklich glaubt. Nicht mehr. Und davon abgesehen reden wir aneinander vorbei. Ich könnte das Gespräch in die Länge ziehen, ihn an der Nase herumführen, aber ich beschließe, dass ich kein Spiel mit ihm treiben möchte.

»Ich meine«, sagte ich, »wo ich beerdigt werde. Wohin kommen wir, wenn wir diesen Ort endlich verlassen?«

Er sackt enttäuscht in sich zusammen, dann fragt er: »Denken Sie an einen bestimmten Ort? Ich kann dafür sorgen, dass Ihren Wünschen entsprochen wird. Gibt es jemanden, den ich unterrichten sollte? Jemanden, der bei der Trauerfeier dabei sein sollte?«

Ich bin eine Weile still, als würde ich mir das durch den Kopf gehen lassen. »Publikum ist nicht nötig«, sage ich. »Sie, ich und der Totengräber, das sollte reichen.«

Er verzieht das Gesicht - Verlegenheit? Unbehagen? -, denn er weiß, dass ich weiß, dass er kein richtiger Pastor ist. Er hat sich bloß so ausstaffiert, mit seinem Beffchen, damit sie ihn zu mir lassen. Er hatte schon einmal gefragt, ob er mich besuchen dürfe, und ich hatte abgelehnt. Aber jetzt, da sich unser Gespräch ums Beerdigen dreht, denke ich an menschliche Körper: an die Toten, die unter der Erde sind, und die Lebendigen, die auf ihr gehen. Cara und ich, wie wir uns auf dem Anleger am See von Lyntons sonnen. Sie im Bikini - noch nie hatte ich so viel von der Haut eines Menschen auf einmal gesehen - und ich im Wollrock, den ich mir wagemutig über die Knie hochgezogen hatte. Sie streckte ihre Hand aus, bis ihre Finger mein Gesicht berührten, und sagte, ich sei schön. Ich war neununddreißig Jahre alt, als ich da auf dem Anleger saß, und in meinem ganzen Leben hatte noch nie jemand zu mir gesagt, ich sei schön. Später, als Cara die Tischdecke zusammenfaltete und die Zigaretten einsteckte, beugte ich mich über das grüne Wasser des Sees und stellte enttäuscht fest, dass mein Spiegelbild unverändert war. Ich war dieselbe Frau, aber für eine Weile in dem Sommer damals vor zwanzig Jahren glaubte ich ihr.

Mehr Bilder tauchen auf, legen sich übereinander. Ich verzichte auf die Chronologie und überlasse mich den Erinnerungswellen, die einander überlappen und ineinander verfließen. Mein letzter Blick durch den Spion: Ich knie auf den blanken Bohlen meines Badezimmers im Dachgeschoss von Lyntons und presse ein Auge auf die Linse, die in der Lücke steckt, mit einer Hand drücke ich das andere Auge zu. Unter mir liegt jemand im Badewasser, das sich rosa verfärbt, die offenen Augen starren zu lange zu mir hoch, auf dem Fußboden sind Pfützen, und die glänzend nassen Fußspuren, die von der Badewanne fortführen, trocknen bereits. Ich bin ein Voyeur, die Person, die an der Polizeiabsperrung steht und zusieht, wie das Leben eines Menschen auseinanderfällt; ich fahre im Auto langsam am Unfallort vorbei, halte aber nicht an; ich bin der Täter, der zum Tatort zurückkehrt. Ich bin der einzige Trauergast.

Spion. Das Wort für das Ding habe ich erst hier gelernt, in diesem Haus.

Wie lange ist das her?

»Wie lange?« Ich muss die Frage wohl laut gestellt haben, denn eine Antwort kommt von einer der Helferinnen. Nein, nicht Helferin; wie heißen sie? Pflegerinnen? Assistentinnen? Hilfsschwestern? Meine Krankheit frisst mehr als nur mein Fleisch, sie frisst auch meine Erinnerung an die vergangene Woche, an sämtliche Namen und Titel, die ich vor einer Stunde gehört habe. Aber immerhin ist sie so gnädig, mir den Sommer des Jahres 1969 zu lassen.

»Es ist zwanzig vor zwölf«, sagt die Stimme. Ich mag diese Frau, ihre Haut ist braun wie eine Kastanie, die ich Ende September vom Boden aufhebe und Anfang Mai in meiner Jackentasche entdecke. Sie sagt: »Nur noch zwanzig Minuten bis zum Mittagessen, Mrs. Jellico.« Sie spricht meinen Namen Jelli-co aus, als wäre ich mit der Herstellung von Desserts berühmt geworden: Mrs. Wagners Pies, Mr. Kiplings Kuchen, Mrs. Jelli-cos irgendwas. Ich bin gar nicht Mrs. Jellico, ich habe nie geheiratet, ich habe keine Kinder. Nur hier, in diesem Haus, nennen sie mich so. Der Pastor nennt mich Miss, vom ersten Mal an. Der Pastor! Mir fällt auf, dass niemand mehr meine Hand hält, er ist weg. Hat er sich verabschiedet?

»Zwanzig Jahre«, flüstere ich.

Die Erinnerung an den ersten Anblick von Cara rührt sich in mir: ein blasser, langbeiniger Kobold. Ich höre sie draußen auf dem Wendeplatz von Lyntons herumschreien. Ich war dabei, den Badezimmerteppich zu zerschneiden, und ging über den schmalen Flur in eins der leeren Zimmer gegenüber meinem. Unterhalb der Dachfenster und oberhalb der Brüstung verlief die mit Blei ausgelegte Regenrinne, die voll mit welkem Laub, Zweigen und Federn von alten Taubennestern war. Unten vor dem Haus stand Cara in dem trockenen Springbrunnen auf dem Wendeplatz. Ihr lockiges Haar war das Erste, was mir an ihr auffiel, die Masse dichter Locken mit dem Mittelscheitel, die das Gesicht bis auf einen milchweißen Streifen verdeckten. Sie rief etwas auf Italienisch. Ich kannte die Wörter nicht; Italienisch verstehe ich nur als Abwandlung lateinischer Pflanzennamen, und selbst die verblassen jetzt. Kleiner Test: Cedrus â¦ Cedrus â¦ Cedrus libani. Libanon-Zeder.

Cara balancierte mit bloßen Füßen auf den pummeligen Schenkeln Cupidos, während sie mit einer Hand das Gewand der Steinfrau packte, als wollte sie es ihr vom Leib zerren, und in der anderen ein Paar Ballerinas hielt. Ich erschauderte bei dem Gedanken, welchen Schaden sie dem Marmor antat, der ohnehin schon splitterig und brüchig war. Halb hoffte ich, dass der Springbrunnen von Canova oder einem seiner Schüler war, allerdings hatte ich ihn mir noch nicht genau angesehen. Cara trug ein langes, gehäkeltes Kleid und - das glaubte ich auch aus der Ferne sehen zu können - keinen Büstenhalter. Die Sonne war hinter dem Haus beinah untergegangen, und Cara stand im Schatten, aber ihr Kopf, den sie in den Nacken geworfen hatte, um nach oben zu gucken, war im Licht. Ich hatte sie schon erkannt: heißblütig, stachelig, bezaubernd; ein blühender Kaktus.

Ich dachte, sie riefe zu mir ins Dachgeschoss hinauf. Laute Geräusche und heftige Worte hatte ich nie gemocht; mir war immer die Stille einer Bibliothek lieber, außerdem gab es damals niemanden, der mir gegenüber die Stimme erhoben hätte, auch Mutter nicht, aber natürlich ist jetzt alles anders. Bevor ich antworten konnte - obwohl ich nicht weiß, was ich gesagt hätte -, wurde in einem der großen Zimmer im Stockwerk unter mir das Fenster hochgeschoben, und ein Mann streckte Kopf und Schultern heraus.

»Cara«, rief er zu dem Mädchen auf dem Springbrunnen und verriet mir damit ihren Namen. »Mach nicht solchen Unsinn. Warte.« Er klang erschöpft.

Sie schrie abermals etwas, schwenkte die Arme, machte den Mund auf und wieder zu, presste die Finger zusammen, warf sich die Haare über die Schultern zurück, wo sie nicht blieben, dann sprang sie vom Springbrunnen in das hohe Gras hinunter. Sie war immer leichtfüßig, Cara. Sie ging zum Haus und verschwand aus dem Sichtfeld. Der Mann zog sich vom Fenster zurück, und ich hörte...
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Autor

Claire Fuller lebt mit ihrem Mann in Winchester, England, und hat zwei erwachsene Kinder. Für ihren späten Debütroman "Our Endless Numbered Days" erhielt sie viel Kritikerlob und wurde mit dem Desmond Elliot Award ausgezeichnet. Nach "Eine englische Ehe" erscheint mit "Bittere Orangen" ihr zweiter Roman auf deutsch.