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Das Lied der Tausend Stiere

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
300 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am16.11.20151. Auflage
Die türkischen Nomaden vom Stamm der Karaçullu ziehen seit Jahrhunderten aus den Bergen hinunter in die Ebene, um sich ein Winterquartier zu suchen. Aber wo sie einst mit Hunderten von Zelten, glänzend und bewundert in ihrem Reichtum, die Ebene überschwemmten, erstrecken sich jetzt Reisfelder und Baumwollplantagen bis an den Horizont. Wo sie einst ihre Herden weideten, bebauen jetzt sesshafte Bauern den Boden, dröhnen Lastwagen auf asphaltierten Straßen. Mit Steinhagel und Flintensalven werden sie empfangen. Großgrundbesitzer, korrupte Dorfpolizisten, doppelzüngige Agas pressen ihnen täglich neue Tribute ab, bis sie schließlich nichts mehr zu verkaufen haben als ihre kostbaren Teppiche, den jahrhundertealten Schmuck ihrer Frauen und schließlich ihren letzten Besitz - ihre Herden.

Ya?ar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextDie türkischen Nomaden vom Stamm der Karaçullu ziehen seit Jahrhunderten aus den Bergen hinunter in die Ebene, um sich ein Winterquartier zu suchen. Aber wo sie einst mit Hunderten von Zelten, glänzend und bewundert in ihrem Reichtum, die Ebene überschwemmten, erstrecken sich jetzt Reisfelder und Baumwollplantagen bis an den Horizont. Wo sie einst ihre Herden weideten, bebauen jetzt sesshafte Bauern den Boden, dröhnen Lastwagen auf asphaltierten Straßen. Mit Steinhagel und Flintensalven werden sie empfangen. Großgrundbesitzer, korrupte Dorfpolizisten, doppelzüngige Agas pressen ihnen täglich neue Tribute ab, bis sie schließlich nichts mehr zu verkaufen haben als ihre kostbaren Teppiche, den jahrhundertealten Schmuck ihrer Frauen und schließlich ihren letzten Besitz - ihre Herden.

Ya?ar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293307834
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2015
Erscheinungsdatum16.11.2015
Auflage1. Auflage
Seiten300 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3644 Kbytes
Artikel-Nr.3421129
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe



1


Hinter dem Berg Aladag liegt ein lang gezogenes, dicht bewaldetes Tal. Darin sprudeln Hunderte von kalten, klaren Quellen. Auf ihrem Grund liegen Kieselsteine, und sie sind ringsherum umwachsen von Poleiminze und Heide. Statt Wasser fließt Helligkeit aus den Quellen, aus den Rinnen dringt Licht. Schon seit alter Zeit liegt hier, hinter dem Berg Aladag, die Sommerweide der Türkmenen, der Nomaden vom Stamm der Aydinli. Seit ihnen die Çukurova als Winterquartier dient, ist das Tal des Berges Aladag ihre Sommerweide. Würde man die Nomaden aus ihrem Winterquartier oder ihrer Sommerweide vertreiben, so würden sie sterben. Der Nomade vom Aladag-Berg ist zäh wie das Gras, das auf einer Felsspitze wächst, seine Wurzeln in den harten Granit treibt und sich an ihm festklammert.

Meister Haydar der Eisenschmied hielt im Laufen inne. Er führte die rechte Hand an seinen langen, kupferroten Bart und packte ihn dicht unter dem Kinn. Die linke Hand folgte unwillkürlich. Meister Haydar machte noch einige Schritte, zögerte, dann stand er ganz still. Er blieb eine Weile unbeweglich. Er hob den Kopf und reckte den Hals, als sei ihm ein Geruch in die Nase gestiegen, schaute umher und versank wieder in Gedanken. Erst als seine Hände wie zwei riesige Schmiedehämmer herabfielen, bewegte er sich weiter. Er ging wieder schneller. Er trug eine nussbraune, weitgeschnittene Pluderhose aus grobem Wollstoff. Seine silberbestickte Weste war aus einem alten Filzüberwurf oder einer bordenbesetzten Jacke mit Schlitzärmeln umgeschneidert. Auf dem Kopf trug er eine goldene Kappe, die er eigenhändig aus Ziegenhaar gewoben hatte. Sie ließ ihn noch mächtiger erscheinen. Die buschigen Augenbrauen standen in Büscheln hervor, sie passten zu der breiten Stirn, der hohen goldenen Kappe und dem wallenden Kupferbart.

Eine Weile lief er sehr schnell, schwer atmend. Dann wurden seine Schritte wieder langsamer und kamen allmählich zum Stillstand. Er fasste sich wieder an den Bart. Ein quälender Gedanke drückte ihn nieder. Auf die purpurne Erde fiel sein Schatten. Auch er schien von einem quälenden Gedanken gebeugt. Aus einer hölzernen Rinne in der Nähe rauschte das Wasser auf die Felsen hinab und zerstäubte, noch bevor es den Boden erreichte. Seine Gedanken folgten dem fließenden, rauschenden Wasser, und vor seinen Augen zogen Welten vorüber.

»O großer Allah, o mächtiger Allah â¦ Gewähre mir ein Winterquartier in der Çukurova! Gewähre mir eine Sommerweide auf dem Aladag-Berg! Früher hast du es immer getan. Was ist geschehen? Warum verweigerst du uns jetzt, was du uns immer gewährt hast? Höre, Hizir, auf deinem grauen Pferd, in deiner grünen Hose, ich flehe dich an, hilf uns. Heute Nacht werfe ich mich vor dir auf die Knie und flehe um deine Hilfe. Könnte ich nur in deine schillernden Augen sehen!«

Er war müde geworden. Er kletterte auf einen Felsen und lehnte sich an eine Föhre, die aus einer Felsspalte emporwuchs. Sie war so alt wie Haydar der Schmied. Der Stamm war geborsten und zerklüftet, die Zweige bogen sich und hingen nach unten.

»Ich werde ihn heute Nacht sehen! Es muss sein, es muss unbedingt sein! Ich werde zu ihm gehen und mich vor ihm zu Boden werfen. Es muss sein! Ich werde ihm das Schwert überreichen, das ich für die Sultane geschmiedet habe. Es muss sein!«

Er umklammerte wieder seinen Bart. In der Mittagssonne glänzten der Kupferbart und die buschigen Augenbrauen unter der goldenen Kappe. Seine moosgrünen Augen sprühten und erloschen und sprühten dann wieder.

»Höre«, sagte er, »o allmächtiger Allah, mein schöner, mein tapferer Allah, mein Freund, mein Löwe. Hast nicht du die Erde und den Himmel, die Geister und Kobolde, dich und mich erschaffen? So ist es, Bruder â¦ Ich habe ihm schon gesagt, diesem verfluchten Stamm, dass ich in dieser Hidirellez-Nacht zu dir sprechen werde; es muss sein. Nein, ich habe ihnen nicht genau das gesagt, aber ich gab ihnen etwas Hoffnung. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als dich um ein Winterquartier in der Çukurova und eine Sommerweide am Aladag-Berg anzuflehen für diese Feiglinge, diese Verfluchten, Elenden. Als ob ich nichts Besseres zu tun hätte, als dein Herzchen, feiner als die Rose, zärtlicher als das Licht des Tages, zu kränken â¦«

Er richtete sein Gesicht zum Himmel empor und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen, in die Tiefe, dorthin, wo eine weiße Wolke vorüberzog.

»Nun, sprich!« sagte er in energischem Ton. »Wirst du mir geben, was ich mir wünsche?« Dann, fast in einem Atemzug: »Nein, nein, natürlich wirst du es nicht tun, mein Löwe. Ich kenne dich. Du hast uns verlassen. Du hast den Himmel und die Sterne, die Wälder und die Ströme verlassen. Du kommst heutzutage nie mehr aus deinen Moscheen heraus. Du hast dir riesige, prächtige Städte erbaut. Du hast aus Eisen Vögel geformt, die durch den Himmel fliegen. Du hast Ungeheuer geschaffen, die brüllend die Erde verschlingen. Du hast Häuser übereinander getürmt und sieben Meere erschaffen. Wenn ich dich bitten würde, gib uns ein Winterquartier in der Çukurova und eine Sommerweide auf dem Aladag, dann würdest du nicht auf mich hören â¦ Deshalb werde ich dich heute Nacht nicht mehr um ein Winterquartier anflehen. So wahr ich hier stehe - nichts kann mich dazu bringen, dich darum zu bitten. Lass den Stamm vor die Hunde gehen, es ist deine Schuld. Lass sie zugrunde gehen und umkommen. Es ist deine Schuld â¦«

Die Çukurova erschien vor seinen Augen. Eine Herbstnacht â¦ Über der ganzen Ebene funkeln in der Dunkelheit die Sterne â¦ Große Sterne aus Eisen, die donnernd über die Felder wirbeln, riesige Leuchtkäfer aus Eisen â¦ Gezähmte Flüsse â¦ Die Straßen mit ihren eisernen Pferden schnell wie der Blitz, einem Menschen wird schwindlig davon â¦ Der Staub, die Hitze, der Schweiß, das Fieber, das Elend â¦ Die seltsam ausgedörrten Männer. Die halb nackten, sonnenverbrannten Frauen â¦ Diese Frauen vor allem â¦ halb nackt â¦

Das Weiß seiner moosgrünen Augen schien zu wachsen.

Aus der Tiefe kam das Geräusch von Schritten. Ein Stein rollte in den Abgrund. Weitere Steine im Fallen mit sich reißend, stürzte er mit lautem Poltern in die Tiefe. Der frische, dampfende Duft von zerdrückten Blumen zog ihm in die Nase. Er war verstimmt: beinahe wäre er, auf seinem Felsen sitzend in wohlige Träume versunken, zurückgekehrt in längst vergangene Tage, wäre in die Çukurova gegangen, nach Adana, nach Mersin, und wieder den Mädchen mit ihren langen, sonnengebräunten Beinen begegnet. Beinahe wäre er noch weiter in die vergangenen Tage versunken, als die Gazellen frei durch die Çukurova streiften, so zahlreich wie die Schafe, in ganzen Herden.

Er sah in die Richtung, aus der die Schritte kamen, und ließ seinen Bart los. Es war sein Freund Müslüm, der mit schweren Schritten den Berg heraufstieg. Sein Haar, sein Bart, seine Hände, seine Augenbrauen, sein Schnurrbart, alles an ihm war ganz weiß. Er schwebte herauf wie ein Knäuel von Baumwollflocken.

»Bruder, Bruder! He, Neffe Haydar, ich suche dich schon den ganzen Morgen!«

Er drehte andauernd die Spindel in seiner Hand, während er heraufstieg.

Atemlos ließ er sich neben Meister Haydar nieder. Er zog seine Bauernschuhe aus, die aus einem Stück ungegerbter Ochsenhaut geschnitten, mit Riemen vernäht und um die Schenkel geschnürt waren â¦ Kleine Schnecken saßen darin. Er schüttelte sie heraus und schnürte die Schuhe wieder fest. Er war ein winziger, kugelrunder Mann, dieser Müslüm.

Er sah Meister Haydar fest in die Augen und ließ seinen Blick nicht von ihm. Beider Augen blitzten, ihre Blicke durchbohrten sich.

»Du wirst es dieses Jahr für den Stamm tun, Haydar. Du hast dir schon genug für deinen Enkel gewünscht. Dieses Jahr wirst du, wenn Hizir und Elias sich treffen, uns, den Stamm, nicht vergessen. Wir sind am Ende, Haydar, erschöpft. Wir können nicht mehr â¦ Wenn der große Allah uns jetzt nicht zu Hilfe kommt, sind wir verloren, Haydar!«

Meister Haydar griff an seinen Bart, stützte den Ellbogen auf die Knie und versank in Gedanken. Dann weiteten sich plötzlich seine moosgrünen Augen und blinzelten:

»Was hat das für einen Sinn, Müslüm?« fragte er. »Hat uns Allah nicht verlassen? Ist er nicht aus unseren Bergen geflohen und hinunter in die großen Städte gezogen? Auch wir müssen gehen, Müslüm. Wir müssen hinuntergehen, dahin, wo Allah jetzt ist.«

»O mein guter Neffe«, rief Müslüm, »dein Atem ist mächtig. Wenn du den großen Allah in der Hidirellez-Nacht um etwas bittest, wird er es dir gewähren. Er wird unseren Wunsch erfüllen. Nur musst du dir dieses Jahr für uns etwas wünschen, und nicht für deinen Enkel.«

Sie standen auf und gingen auf den Pfad zu. Meister Haydar schritt voran, und Müslüm folgte. Der Frühling hatte eben erst seine Augen geöffnet. Die Blumen waren noch kaum in Blüte, noch fast Knospen. Vögel und Bienen flogen in der milden Sonne schläfrig hin und her. Die Erde dehnte sich. Felsen, Bäume, Ströme, Insekten, das Rotwild, Füchse, Schakale, Schafe und Lämmer, alles streckte sich schlaftrunken im Morgennebel.

Es war jetzt drei Tage her, seit sich der Stamm in diesem Tal niedergelassen hatte. Ein Stamm von sechzig Zelten. Man nannte ihn den Karaçullu-Stamm. Der Stammesälteste war Meister Haydar der Eisenschmied. Schmied - aber was hatte ihm das bis heute genützt, und was würde es...


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Autor

Yasar Kemal wird der »Sänger und Chronist seines Landes« genannt. Er wurde 1923 in einem Dorf Südanatoliens geboren. Seine Werke erschienen in zahlreichen Sprachen und wurden mit internationalen Preisen ausgezeichnet. 1997 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, 2008 wurde er mit dem Türkischen Staatspreis geehrt. Er starb in Istanbul am 28.2.2015.

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