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Ferne Quellen

von
AlaiHermann, MarcÜbersetzung
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
160 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am01.08.20161. Auflage
Der scheue Junge verbringt seine Zeit lieber mit dem Pferdehirten auf den weiten Bergwiesen als mit den Menschen unten im Dorf. Oft erzählt ihm dieser von den fernen, heißen Quellen, in denen Männer und Frauen in heiterer Eintracht baden und von ihren Krankheiten genesen. Nichts wünscht sich das Kind seither sehnlicher, als zu diesen Heilquellen zu gelangen und der Enge seines Dorfes zu entfliehen. Als er viele Jahre später als Bezirksfotograf zu den Quellen vordringt, erlebt er eine bittere Enttäuschung: Wo einst das Wasser sprudelte und zum ausgelassenen Bad einlud, findet er eine hässliche, verlassene Betonlandschaft. Eine verfehlte Entwicklungspolitik hat eine Investitionsruine hinterlassen. Ein Traum ist gestorben.

Alai, geboren 1959 in der Nähe von Markang (Nord-Sichuan), begann Anfang der 1980er-Jahre, Gedichte und Erzählungen in der Zeitschrift Tibetische Literatur zu veröffentlichen. Später zog er nach Chengdu, wo er Chefredakteur von Science Fiction World wurde, Chinas größtem Science-Fiction-Magazin. Sein erster Roman Roter Mohn wurde ein sensationeller Erfolg. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Chengdu.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR8,90
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR7,99

Produkt

KlappentextDer scheue Junge verbringt seine Zeit lieber mit dem Pferdehirten auf den weiten Bergwiesen als mit den Menschen unten im Dorf. Oft erzählt ihm dieser von den fernen, heißen Quellen, in denen Männer und Frauen in heiterer Eintracht baden und von ihren Krankheiten genesen. Nichts wünscht sich das Kind seither sehnlicher, als zu diesen Heilquellen zu gelangen und der Enge seines Dorfes zu entfliehen. Als er viele Jahre später als Bezirksfotograf zu den Quellen vordringt, erlebt er eine bittere Enttäuschung: Wo einst das Wasser sprudelte und zum ausgelassenen Bad einlud, findet er eine hässliche, verlassene Betonlandschaft. Eine verfehlte Entwicklungspolitik hat eine Investitionsruine hinterlassen. Ein Traum ist gestorben.

Alai, geboren 1959 in der Nähe von Markang (Nord-Sichuan), begann Anfang der 1980er-Jahre, Gedichte und Erzählungen in der Zeitschrift Tibetische Literatur zu veröffentlichen. Später zog er nach Chengdu, wo er Chefredakteur von Science Fiction World wurde, Chinas größtem Science-Fiction-Magazin. Sein erster Roman Roter Mohn wurde ein sensationeller Erfolg. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Chengdu.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293301771
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum01.08.2016
Auflage1. Auflage
Seiten160 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2481 Kbytes
Artikel-Nr.3421252
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




In der Nähe unseres Dorfes gab es eine Quelle, die war nicht warm, sondern heiß. Im Sommerhalbjahr blieb ihre Hitze unsichtbar. Nur im Winter, wenn man durch den Schnee nahe genug heranstapfte an die Quelle in der Schlucht, die sich nördlich des Dorfes über zehn Kilometer erstreckte, konnte man inmitten des Mischwaldes, zwischen den immergrünen Azaleen und Tannen und den kahlen Kirschbäumen und Birken, einen dünnen Dunstschleier aufsteigen sehen. Kaum aber hatte sich dieser Dunst über den Quelltrichter erhoben, gefror er in Sekundenschnelle; unfähig, weiter aufzusteigen, verwandelte er sich in zarte Eiskristalle und legte sich auf die welke Flora. Die Quelle selbst gefror nie, aber sobald sie ihre Hitze verströmte, war ihre Kraft dahin. Und wenn man die eisige Hand in das Wasser tauchte, spürte man nur einen Hauch von Wärme. Trinken konnte man das Wasser nicht, das sich zwischen den Fingern ein wenig sämig anfühlte, dafür war es zu salzig und sein Geschmack zu schweflig. Das Salz, der Schwefel und womöglich noch manch andere Mineralien tief aus dem Erdinnern lagerten sich im Morast um die Quelle weiträumig als rostfarbene Sedimente ab. Im Winter besuchte niemand außer einigen rastenden Jägern diese Quelle. Tshone war ihr Name.

Im Sommer, wenn die Rinderherden auf die Bergwiesen getrieben wurden, war das anders. Sobald an unserer Grundschule die Sommerferien begannen, folgten wir Kinder den Herden in die Berge und wachten darüber, dass sie sich nicht in den dichten Wäldern rings um die Wiesen verliefen. Die Rinder waren ganz versessen auf Salz und liebten das Quellwasser; kaum hatten sie sich am Gras satt gefressen, liefen sie zur Quelle. Gegen einen maßvollen Genuss hatten die Erwachsenen nichts einzuwenden. Aber sie warnten uns immer wieder: »Wenn die Rinder zu viel trinken, werden ihre Bäuche anschwellen, bis sie hart wie Trommeln sind, dann können sie nichts mehr essen und müssen verhungern.« Also rannten wir den ganzen Sommer über immer wieder zur Quelle, um die Rinder, die vom salzigen Wasser nicht genug bekommen konnten, mit unseren Schreien zu verscheuchen.

Heute können meine Stimmbänder nicht mehr jenen lang gezogenen, einschüchternden Schrei hervorbringen, und nicht das vielfach gewundene Trillern der Hirtenlieder. Ich war ein schweigsames Kind, aber diese Lieder sang ich oft vor mich hin, und beim gedehnten Vibrato, in dem sie verklangen, flatterten meine Stimmbänder tief in der Kehle wie Kolibriflügel, und meine Stimme schwang sich auf über die Bergwiesen hinweg, über die hier und da verstreuten Gebüsche aus kleinblättrigen Azaleen und zwergwüchsigen Zypressen, und auch mein Blick ging ins Grenzenlose, über die weiten Weideflächen und die steil aufragenden Felswände, bis er schließlich am blendenden Glanz der schneebedeckten Gipfel haften blieb.

Ja, ich sehnte mich nach der Ferne.

Eine konkrete Gestalt nahm das Ziel meiner Sehnsucht nicht an, nur zwei grobe Richtungen. Da war einmal der Südosten: In diese Richtung brauste weiß schäumend und immer mächtiger anschwellend der Tsomo-Fluss. Und dann war da noch der Nordwesten: Dort, hinter den zackenförmig aufragenden schneebedeckten Gipfeln, lag das weite Grasland von Songpan.

Im Sommer, wenn die Bäume mächtige Schatten warfen, wenn das Moos von dem Felsen, auf dem ich saß, bis zu den klobigen Leibern der Spießtannen alles überwucherte, wenn irgendwo der Kuckuck seinen lang gedehnten Ruf ausstieß, pflegte ich dort, ganz allein die Füße ins Quellwasser zu tauchen, das sich zu dieser Jahreszeit schon fast kühl anfühlte. Wenn das Wasser aus dem Trichter emporquoll, warf es reihenweise Blasen, die die Luft ringsum noch stärker mit dem seltsam anmutenden Schwefelgeruch schwängerten. Manchmal kam auch ein zutraulicher Hirsch oder ein mächtiger Yak vorbei, um seinen Durst zu stillen. Die Hirsche waren sehr wachsam und spitzten beim kleinsten Geräusch die Ohren. Dagegen würdigten die grobschlächtigen Bullen mich keines Blickes. Wenn sie ihren Durst gelöscht hatten, wälzten sie sich im rostroten Morast und rieben sich am ganzen Körper mit einer bunt gesprenkelten Schlammschicht ein. So grindig, hässlich und hinfällig so ein Yak auch sein mochte - wenn nach ein paar Tagen das Schlammkleid von ihm abfiel, erstrahlte er in neuem Glanz: Auf seiner Haut spross zartes junges Haar, das im Sonnenschein funkelte wie sich kräuselnde Wellen.

»Der Schlamm tötet die Insekten auf der Haut der Rinder und Pferde«, erklärte der Pferdehirt Gongba immer wieder. »Er hat heilende Kräfte.«

Ganz allein hütete Gongba die kleine Pferdeherde des Dorfes. Auch seine Pferde tranken das salzige Quellwasser. Gewöhnlich bekamen wir ihn nur bei dieser Gelegenheit zu Gesicht.

Jedes Mal wenn er von der Heilkraft des Schlamms erzählte, fragten wir Kinder ihn unter schallendem Lachen: »Und warum heilst du dich dann nicht selbst?«

Sein Gesicht war nämlich von großflächigen leichenblassen Hautpartien verunstaltet, von denen Schuppen herabrieselten wie die abgestorbene Rinde einer Birke. In seiner Nähe, so schärften uns die Erwachsenen ein, müssten wir uns stets so stellen, dass der Wind uns nicht die Schuppen ins Gesicht blies. Sonst würden wir dasselbe Schicksal erleiden wie er - eine grauenhafte Vorstellung. Denn dann müsste man sich auf ewig in die Berge zurückziehen und könnte nie wieder in das Dorf zu den Menschen zurückkehren. Und nie wieder würde eine Frau sich einem nähern ... Ich aber konnte mir nichts Schöneres vorstellen als eben dies: ganz allein zu leben, ohne Frau, in den Bergen.

Die politische Arbeitsgruppe, die auf Geheiß von oben im Dorf Quartier bezogen hatte, teilte die Einwohner in verschiedene Klassen ein und schürte damit den gegenseitigen Groll. Wenn eine Frau damals mit einem Mann zusammenlebte, brachte sie ein Kind nach dem andern zur Welt. Und diese Kinder bekamen nie genug zu essen. Auch ich war eines dieser zahllosen hungrigen Kinder. Kein Wunder, dass es mein sehnlichster Wunsch war, allein und ohne Frau in den Bergen zu leben.

Meine Tante mütterlicherseits, die damals schon über sechzig Jahre alt war und an schwerem Asthma litt, hatte eine Nichte namens Kelsang, eine meiner vielen Cousinen.

Niemand im ganzen Dorf konnte so schön singen wie sie. Die Arbeitsgruppe erklärte, sie wolle sie als Sängerin für das Gesangs- und Tanzensemble des Bezirks vorschlagen, doch aus irgendeinem Grund endete sie als Zugführerin der Dorfmiliz. Oft baute sie sich vor dem Haus meiner Tante auf und wetterte mit ihrer schönen Stimme gegen die vermeintliche Volksfeindin. Danach wirkte das Haus meiner Tante, das ohnehin schon alle Lebenskraft verloren hatte, doppelt tot. Solche öffentlichen Anklagen wurden meist erhoben, wenn die Leute von der Kollektivarbeit auf den Feldern heimkehrten und blasser Rauch aus den Kaminen der Steinhäuser aufstieg.

Aus dem Kamin meiner Tante kam an diesem Tag kein warmer Rauch, der die Dämmerung zwischen den Bergen noch verstärkt hätte. Als meine Tante aus ihrem steinernen Haus heraustrat, war ihr Gesicht selbst wie versteinert. Von ihrem Brennholzstapel hatte sie ein bisschen Reisig genommen, das sie nun auf ihrem Rücken zu dem kleinen Platz in der Mitte des Dorfes trug. Der Himmel ging zu diesem Zeitpunkt von Blau in Grau über, nach und nach funkelten die Sterne auf. Und während die Dunkelheit sich über die Berge fern der Menschenwelt herabsenkte, entfachte meine Tante mit ihrem Reisigholz ein großes Feuer. Die Leute versammelten sich auf dem Dorfplatz, wo der lodernde Feuerschein ihre Gesichter mit jenem leuchtenden Rot färbte, dem die damalige Zeit so huldigte. Meine Tante zog sich in einen dunklen Winkel zurück, während das Feuer die Schatten der Menschen, die ihm am nächsten standen, ins Riesenhafte vergrößerte, sodass allen andern das Licht und die Wärme, die ihnen eigentlich zustanden, verwehrt blieben. Unversehens erhoben einige Angehörige der Sippe, die sich vormals durch eine bescheidene, stille Duldsamkeit hervorgetan hatten, ihre Stimme und bauschten die Habgier, mit der meine Tante ihre Familienreichtümer gehortet hatte, zu einem unverzeihlichen Verbrechen auf. Die gelegentlichen Almosen meiner Tante verwandelten sich im Munde ihrer Ankläger zu hinterhältigen Ränkespielen.

Ihre jüngste Machenschaft waren der kleine Beutel Salz und die Handvoll nach dem Kochen getrockneter Teeblätter, die sie dem allein in den Bergen hausenden schuppengesichtigen Gongba geschenkt hatte. Die Übergabe hatten Tschampa und ich übernommen. Doch Tschampa, der Sohn eines Mittelbauern und Vetters von Gongba, hatte der Arbeitsgruppe unser kleines Geheimnis verraten. Der Gruppenleiter, der stets einen Armeemantel umgehängt hatte, klopfte Tschampa so kräftig auf die Schulter, dass dieser zu Boden plumpste. »Du wirst noch mal in der Volksbefreiungsarmee dienen!« Hochrot im Gesicht und sprachlos vor lauter Aufregung rappelte sich der Belobigte eilig wieder auf. Und so kam es, dass meine Cousine an diesem Abend mit ihrer schönen Stimme eine neuerliche Anklage schmetterte und meine Tante wieder auf dem Dorfplatz ein Feuer entfachte, um das sich alle versammelten. Und von Neuem wuchsen die Schatten im Feuerschein ins Riesenhafte, und die Stimmen wurden so eigentümlich laut. Richtig satt essen konnte sich in jenen Jahren niemand - wie konnten die Stimmen der Ankläger dennoch so kräftig sein, fragte ich mich staunend.

Während ich mich noch darüber wunderte, wanderte mein Blick zum Himmel. Ein mächtiger Wind blies...



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Autor

AlaiHermann, MarcÜbersetzung
Alai, geboren 1959 in der Nähe von Markang (Nord-Sichuan), begann Anfang der 1980er-Jahre, Gedichte und Erzählungen in der Zeitschrift Tibetische Literatur zu veröffentlichen. Später zog er nach Chengdu, wo er Chefredakteur von Science Fiction World wurde, Chinas größtem Science-Fiction-Magazin. Sein erster Roman Roter Mohn wurde ein sensationeller Erfolg. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Chengdu.

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