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Liebe, Lügen und Gespenster

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Unionsverlagerschienen am10.08.20161. Auflage
Respektlose Familiengeschichten und experimentell anmutende Skizzen, Science-Fiction-Erzählungen und Satiren wie die Geschichte um einen schmerzenden Zahn, der einen Mann fast in den Selbstmord treibt: Allen gemein ist der schier unerschöpfliche Reichtum an Fantasie. Tabus werden aufgebrochen, große und kleine Lügen entlarvt, die Schriftsteller experimentieren lustvoll mit der Sprache, sie brechen mit herkömmlichen Genres und stellen konventionelle Plots in Frage. Dieser Erzählband bietet einen Querschnitt durch die modernste türkische Prosa. All die Autorinnen und Autoren sind Zeugen und Akteure des kulturellen Wandels, der in der Türkei seit 1980 stattfindet.

Börte Sagaster, geboren 1962, studierte Islamwissenschaft, Turkologie und Germanistik. Nach ihrer Promotion arbeitete sie u. a. am Zentrum Moderner Orient in Berlin, später am Orient-Institut in Istanbul. Derzeit ist sie an der Universität Gießen tätig.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,95
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR19,99

Produkt

KlappentextRespektlose Familiengeschichten und experimentell anmutende Skizzen, Science-Fiction-Erzählungen und Satiren wie die Geschichte um einen schmerzenden Zahn, der einen Mann fast in den Selbstmord treibt: Allen gemein ist der schier unerschöpfliche Reichtum an Fantasie. Tabus werden aufgebrochen, große und kleine Lügen entlarvt, die Schriftsteller experimentieren lustvoll mit der Sprache, sie brechen mit herkömmlichen Genres und stellen konventionelle Plots in Frage. Dieser Erzählband bietet einen Querschnitt durch die modernste türkische Prosa. All die Autorinnen und Autoren sind Zeugen und Akteure des kulturellen Wandels, der in der Türkei seit 1980 stattfindet.

Börte Sagaster, geboren 1962, studierte Islamwissenschaft, Turkologie und Germanistik. Nach ihrer Promotion arbeitete sie u. a. am Zentrum Moderner Orient in Berlin, später am Orient-Institut in Istanbul. Derzeit ist sie an der Universität Gießen tätig.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783293301153
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2016
Erscheinungsdatum10.08.2016
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2577 Kbytes
Artikel-Nr.3421263
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




Tahsin Yücel
Das Geheimnis


Als wir drei Tage nach Dudu Bacıs Tod hinter ihrem Neffen, dem Kichererbsen-Verkäufer Hacosman, also hinter ihrem einzigen Verwandten in der Stadt, über die Schwelle ihres Hauses traten, drückte Memedali meinen Arm und sagte: »Sperr die Augen auf: Du betrittst ein verschlossenes Haus.« Es war zwar ein wenig unpassend, aber ich musste unwillkürlich lächeln: Wir betraten tatsächlich ein verschlossenes Haus. Mit Ausnahme einer glücklichen Minderheit von etwa zwanzig Personen war Dudu Bacıs Tür für jedermann verschlossen geblieben. Wir waren ihre nächsten Nachbarn gewesen, aber selbst wir konnten erst jetzt, drei Tage nach ihrem Tod, in ihr Haus eintreten.

Kaum waren wir durch die Tür, standen wir plötzlich im Dunkeln. Wir tasteten uns einen Korridor entlang, zu eng, als dass zwei Personen nebeneinander hätten laufen können, und noch dazu gewunden, sodass wir uns spiralförmig vorwärts bewegen mussten, als stiegen wir die Wendeltreppe eines Minaretts hinauf. Als ob das noch nicht reichte, tauchten alle paar Schritte drei, vier Fußbreit hohe Hindernisse auf, über die wir stolperten und fielen. Nach Überwindung zahlreicher Hürden stellten wir fest, dass der gewundene Korridor, in dem wir uns befanden, keineswegs der einzige im Haus war: Wir stießen auf eine Reihe niedriger Türen, die alle gleich aussahen, sich aber auf lauter unterschiedliche Gänge hin öffneten. Und hinter diesen Türen fanden wir uns nach ein paar Schritten jeweils dicht vor einer modrig riechenden Lehmmauer wieder. Zu guter Letzt waren wir in der Hocke durch eine schmale Tür in einen Raum gekrochen, in den außer durch ein Fenster von der Größe eines Buchdeckels, das fast auf Zimmerdeckenhöhe lag, keinerlei Licht einfiel: Wir hatten das einzige Zimmer des Hauses erreicht.

Nach den dunklen Gängen, in denen wir uns im kurzlebigen Licht von Streichhölzern vorgetastet hatten, blendete uns nun selbst das bisschen Helligkeit, sodass wir eine Weile brauchten, bis wir es erkannten: das berühmte Bett, den Schauplatz all der Dinge, die wir mit eigenen Augen nie richtig hatten sehen können, deren Ohrenzeugen wir jedoch geworden waren und deren Schilderung wir aus Dudu Bacıs Mund vernommen hatten. Das Bett lag ein, zwei Handbreit unter dem Fenster, also vom Boden aus gesehen auf Mannshöhe. An einer Seite lehnte eine Holzleiter mit drei, vier Sprossen. Nach all den Hindernissen und Fallen auf dem Weg von der Haustür bis hierher war es nicht recht verständlich, warum das Bett gerade an dieser Stelle stand, wenn man sich überlegte, dass jemand, der über die Mauer des dahinter liegenden Hofs gesprungen war, ohne weiteres seinen Kopf durch das von außen durchaus nicht hoch liegende Fenster strecken und so bequem mitverfolgen konnte, was sich im Inneren abspielte. Aber aus unerforschlichen Gründen war Halil Efe, Dudu Bacıs erster Mann, zu der geradezu religiösen Überzeugung gelangt, dass die englischen Ungläubigen sich mit den griechischen Ungläubigen verbündet hatten, um ihn anzugreifen, und deshalb hatte er sich monatelang, wenn nicht jahrelang, ganz alleine damit abgeplagt, dieses erstaunliche Festungswerk zu errichten, und war dabei offensichtlich davon ausgegangen, dass die Angreifer nur durch die Tür kommen konnten. Und bis zu seinem Tod war er dieser Überzeugung treu geblieben. Von morgens bis abends hatte er, ein unbrauchbares Jagdgewehr in der Hand, vor der Tür gesessen und den Feind erwartet. Wenn man ihn fragte: »Halil Efe, kann der Feind denn nur von hier kommen? Könnte er nicht auch von woanders her seinen Angriff starten?«, dann stand er eifrig auf und zog mit dem Gewehrkolben vom einen bis zum anderen Ende der Vorderwand einen Strich und sagte selbstgewiss: »Die Grenze verläuft hier.« So gesehen war es durchaus nachvollziehbar, dass das Bett unter dem kleinen Fenster stand: Diese Position war am weitesten von der Grenze entfernt, und außerdem gab es - für den Fall, dass kein anderer Weg offen blieb - keinen geeigneteren Ausgangspunkt für eine Flucht vor dem Feind.

Wie auch immer - nach Halil Efes Tod war uns dieser Umstand sehr zupass gekommen, um Dudu Bacıs Darstellungen mit den tatsächlichen Geschehnissen vergleichen zu können und uns über die sich daraus ergebenden Widersprüche am Boden zu wälzen vor Lachen. Bis zu dem Tag, an dem sie ihren letzten Ehemann heiratete, hielt Dudu Bacı mit nichts hinterm Berg: Sie erzählte alles. Nur einen kleinen Fehler hatte sie: Manche Ereignisse überging sie bei ihren Berichten, andere hingegen bauschte sie auf. Aber das war nun wirklich völlig unwichtig. Denn was sie erzählte, waren immer Bettgeschichten, und es kostete uns nur drei, höchstens vier Stunden Schlaf, um herauszufinden, wie es sich tatsächlich verhielt. Waren wir erst mal vorsichtig über die Mauer des Hinterhofs geklettert und hatten uns unter das kleine Fenster gekauert, verstanden wir durch die Gespräche wie auch durch die Art, wie sie atmete, genug.

Das war unsere Hauptbeschäftigung in jenen Jahren: An Türen, Kaminen, Fenstern und in Mauerhöhlungen lauschten wir dem Bettgeflüster von Ötegeçes ältlichen Bräuten und ihren ebenso ältlichen Bräutigamen. Aber nach Dudu Bacıs zweiter Hochzeitsnacht verloren wir weitgehend das Interesse an den übrigen Hochzeitspaaren. Als zum Beispiel EmiÅ Bacı mit über siebzig Jahren einen neuen Ehemann ausprobierte, hatte Dudu seit bereits mehr als einer Woche ihren x-ten Ehemann im Haus. Dennoch machte sich keiner von uns auf, um EmiÅ Bacı zu belauschen, wir gingen lieber zu Dudu Bacı. Dieses Verhalten stand im Gegensatz zu unseren bisherigen Gewohnheiten: Wie ich schon sagte, gehörte es zu unseren größten Vergnügungen, den in Ötegeçe recht häufig vorkommenden Hochzeitsnächten ältlicher Bräute mit ältlichen Bräutigamen zu lauschen. EmiÅ Bacıs Fall war interessant, weil sie mindestens fünfzehn Jahre älter war als Dudu Bacı und seit fünf Jahren ohne Ehemann gelebt hatte. Außerdem fand die Hochzeitsnacht statt, nachdem ihr Enkel Hacı, der ihr fünf Jahre lang gedroht hatte: »Wenn du nochmal heiratest, schlag ich dich in Stücke« mal gerade seit einer Woche zum Militärdienst eingerückt war. Trotzdem zogen wir es vor, Dudu Bacı und ihren damaligen Ehemann ein weiteres Mal zu belauschen. Wir wussten nämlich, dass Dudu Bacı, kaum dass die rußende Petroleumlampe ausgeblasen worden war, wie ein junges Ding losschäkern und mit Kinderstimme lauter Worte sagen würde, die einem Kind nicht in den Kopf, geschweige denn über die Lippen kämen und die selbst wir großenteils zum ersten Mal aus ihrem Mund hörten: ein Strom nach Schweiß riechender Worte, die aus einer anderen Zeit und einer anderen Sprache zu stammen schienen. Aber selbst in den Situationen, in denen all diese hemmungslosen Worte ihre stärkste Wirkung ausübten, würde ihr Spielkamerad irgendwann zu schnarchen beginnen. Dudu Bacı würde sich aufrichten und den armen Mann wütend schütteln, sie würde schimpfen und seufzen, sie würde immer wieder stöhnen und schließlich resigniert einschlafen. Aber am nächsten Morgen würde sie schnurstracks zu den jungen Frauen gehen, die sich vor ihren Häusern gegenseitig lausten, würde ihre rechte Hand steil in die Luft halten, ihr Daumen würde sich in der Handfläche über den kleinen Finger legen und die übrigen drei Finger würden nach oben ragen, und Dudu Bacı würde den jungen Frauen hochmütig ins spöttische Gesicht sehen und zu ihnen sagen: »Drei!«, und danach würde sie sich zu ihnen setzen und mit der langen Erzählung aller Details beginnen. Wenn jemand anders dieselben Geschichten erzählt hätte, wäre man dessen schnell überdrüssig geworden, aber niemand war Dudu Bacıs endlose, sich immer ums gleiche Thema drehende Geschichten leid.

Das Erstaunliche an der Sache war, dass Dudu Bacı ihre unterhaltsamen Geschichten plötzlich erzählte, nachdem sie vorher immer geschwiegen hatte. Während der Jahre, die sie an der Seite ihres ersten Mannes, des Kalten Kriegers, verbrachte, gab es in Ötegeçe keine schweigsamere Frau als sie; wie ein Schatten huschte sie hin und her. Nachdem Halil Efe auf seinem Posten, also vor der Tür, mit dem Gewehr in der Hand auf den Feind wartend, unversehens zu Boden gesunken und den Geist aufgegeben hatte, führte Dudu Bacı ganze zwei Jahre lang ihr schweigsames Leben fort, ja sie schien sogar noch schweigsamer zu werden. Darüber hinaus hatte man den Eindruck, dass sie schrumpfte. Zwar hatte sie schon immer trockenem Reisig geglichen, doch nach dem Tod ihres Mannes schrumpfte sie noch mehr und war schließlich nur noch Haut und Knochen. Wie zu Lebzeiten ihres Ehemanns, den außer der Verteidigung seines Heims nichts interessiert hatte, kümmerte sie sich weiterhin um alles und beklagte sich niemals über Müdigkeit oder irgendetwas anderes. Dieser Zustand dauerte an, bis sich die weißen Flügel von Urup Fadime, dem guten Engel der alten Verwitweten von Ötegeçe, auch über sie streckten. Genau genommen war schon seit geraumer Zeit die Rede davon gewesen, Dudu Bacı ein zweites Mal unter die Haube zu bringen, und jeder wusste, wie oft Dudu Bacı Urup Fadime um Hilfe gebeten hatte. Aber jedes Mal hatte Urup Fadime mutlos den Kopf geschüttelt und gesagt: »Es ist ja nicht so, dass ich nicht suche, aber du bist zu dünn, dich will niemand.« Und es stimmte hundertprozentig, was sie sagte: Die sich um betagte Witwen bewarben, waren zumeist Dörfler, die ihre Angelegenheiten geordnet hatten und nun in der letzten Phase ihres Lebens eine Städterin im Arm halten wollten. Aber alle wollten, dass diese Städterin kräftig, rundlich und ansehnlich sein sollte.

Als...


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