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Dürers Mätresse (eBook)

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
ars vivendi Verlagerschienen am02.09.2013
Während die Menschenmassen andächtig dem Prolog des Christkinds lauschen, stürzt ein dicker Mann von der Fleischbrücke und ertrinkt in der Pegnitz. Der erste einer Serie mysteriöser Unfälle, die sich im vorweihnachtlichen Nürnberg ereignen und alle eines gemeinsam haben: Die Opfer haben vor ihrem Tod ein ungewöhnlich ausgeprägtes Interesse an dem großen Sohn der Stadt gezeigt - Albrecht Dürer.

Jan Beinßen, Jahrgang 1965, lebt in Nürnberg. Er hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Bei ars vivendi erschienen bisher Dürers Mätresse (2005), Sieben Zentimeter (2006), Hausers Bruder (2007), Die Meisterdiebe von Nürnberg (2008), Herz aus Stahl (2009), Das Phantom im Opernhaus (2010), Lebkuchen mit Bittermandel (2011) und Die Paten vom Knoblauchsland (2012).
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Produkt

KlappentextWährend die Menschenmassen andächtig dem Prolog des Christkinds lauschen, stürzt ein dicker Mann von der Fleischbrücke und ertrinkt in der Pegnitz. Der erste einer Serie mysteriöser Unfälle, die sich im vorweihnachtlichen Nürnberg ereignen und alle eines gemeinsam haben: Die Opfer haben vor ihrem Tod ein ungewöhnlich ausgeprägtes Interesse an dem großen Sohn der Stadt gezeigt - Albrecht Dürer.

Jan Beinßen, Jahrgang 1965, lebt in Nürnberg. Er hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Bei ars vivendi erschienen bisher Dürers Mätresse (2005), Sieben Zentimeter (2006), Hausers Bruder (2007), Die Meisterdiebe von Nürnberg (2008), Herz aus Stahl (2009), Das Phantom im Opernhaus (2010), Lebkuchen mit Bittermandel (2011) und Die Paten vom Knoblauchsland (2012).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783869133133
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2013
Erscheinungsdatum02.09.2013
Reihen-Nr.1
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1631 Kbytes
Artikel-Nr.3955369
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


 

1

Über dem Platz lag erhabenes Schweigen. Er fühlte die Präsenz von Tausenden, doch die Stille der angespannten Erwartung lähmte die Masse. Er massierte seine Finger gegen das taube Gefühl der Kälte, den Blick richtete er konzentriert durch den Sucher. Alles, was seine geschulten Augen wahrnahmen, war hundertfach vergrößert. Ihm entging nicht die kleinste Bewegung.

Er rückte einen abstoßend runden Männerkopf mit ungepflegtem Vollbart exakt ins Visier. Für Momente überlegte er abzudrücken, schwenkte dann aber weiter. Er sah grotesk vergrößerte Zähne und grau durchsetztes Haar. Erneut überlegte er, aber nein, auch hierfür würde es sich nicht lohnen, den Zeige­finger zu krümmen.

Paul Flemming zog den Zoom weiter auf. Jetzt füllten sie alle das Bild im Sucher seiner Kamera: Dicht gedrängt standen seine Kollegen auf einem knapp bemessenen hölzernen Podest, verpackt in klobige Mäntel und Fellmützen, gezuckert mit feinstem Puderschnee. Paul lächelte. Ausnahmsweise beneidete er die anderen heute nicht. Er rieb sich weiter die klammen Hände und feixte still: Was nutzten ihnen ihre gut bezahlten Zeitungs- und Fernsehjobs, wenn sie sich bei der lausigen Kälte die Beine in den Bauch stehen mussten und dazu verdammt waren, das Motiv alle aus derselben langweiligen Perspektive abzulichten?

Diesmal hatte Paul die besseren Karten gezogen. Das Motiv stand unmittelbar neben ihm - und bedachte ihn mit einem unfreundlichen Blick.

»Was will der denn hier?«

»Der will Fotos machen«, sagte Paul, wobei er bewusst die dritte Person beibehielt.

»Das war nicht ausgemacht«, beharrte das zierliche Mädchen im goldenen Gewand, während es sich die üppig gelockte Perücke zurechtrückte.

»Ich fotografiere im offiziellen Auftrag des Amtes für Hotelwesen und Fremdenverkehr«, sagte Paul ruhig, weil er sich denken konnte, unter was für einer Anspannung das Nürnberger Christkind an diesem Abend stand.

Das Mädchen nickte verhuscht, lehnte sich über die steinerne Brüstung der Frauenkirche und warf einen verstohlenen Blick nach unten. Der Hauptmarkt war gestopft voll. So voll, dass von der Empore aus kein einziger Pflasterstein mehr zu sehen war. Die Menschen, die sich zwischen Glühwein-, Bratwurst- und Zwetschgen-Männlein-Buden quetschten und ihre Hälse in Richtung Kirche verrenkten, standen auf Tuchfühlung nebeneinander.

»Es wird Zeit«, sagte eine unauffällige, grauhaarige Frau, die dem Christkind nicht von der Seite wich. Paul wischte eine Schneeflocke von der Linse seines Objektivs. Er zuckte zurück, als er hinter seinem Rücken ein lautes Rascheln hörte. Zwei Mädchen, kleiner und jünger als das Christkind, zwängten sich an ihm vorbei. Die Rauschgoldengel.

Unten auf dem Hauptmarkt gingen die Lampen aus, und ein Raunen stieg zu ihnen herauf. Starke Scheinwerfer tauchten plötzlich den Balkon der Kirche in grelles Licht. Die Begleiterin des Christkindes deutete auf eine hölzerne Stufe.

»Was?«, fauchte das Christkind und kniff, von den Scheinwerfern geblendet, die Augen zusammen. »Das war nicht ausgemacht!«

Ihr Wortschatz ist begrenzt, dachte Paul.

»Ich steige da nicht drauf. Bei der Probe war die blöde Treppe nicht da. Ich steige da nicht drauf.«

Tust du doch, dachte Paul. Haben vor dir auch alle anderen Christkinder gemacht. Er wusste um den Trick, die Mädchen erst bei der feierlichen Eröffnung des Christkindlesmarktes damit zu konfrontieren, dass sie ohne den Schutz der Brüstung in gut zehn Metern Höhe über dem Platz thronen und ihren Prolog halten würden. Zwei Arbeiter von den Städtischen Bühnen legten dem Christkind einen Gurt um, schlugen hastig das Kleid darüber und traten zurück in den Schatten. Die ständige Begleiterin drängte das Mädchen mit dezentem Druck auf die Treppe. Dann folgten die beiden Rauschgoldengel.

»Mein Gott, mir wird schlecht«, raunte einer der beiden kleinen Engel.

»Reiß dich zusammen, und kotz mir bloß nicht aufs Kleid!«, zischte das Christkind.

Paul fotografierte. Gnädige Fotos. Er drückte erst ab, wenn sich die Gesichter der Himmelsgeschöpfe wieder entkrampft hatten. Paul verstand sich als disziplinierter Arbeiter. Er war Werbefotograf, kein Enthüllungsjournalist.

»Ihr Herrn und Fraun, die ihr einst Kinder wart, ihr Kleinen am Beginn der Lebensfahrt, ein jeder, der sich heute freut und morgen wieder plagt: hört alle zu, was euch das Christkind sagt!« Die Stimme des Mädchens hallte um viele hundert Watt verstärkt über den Hauptmarkt, und Paul war sich sicher, dass in diesem Moment etliche Zuhörer zu Tränen gerührt nach ihren Taschentüchern griffen. Das Ganze war der größte Kitsch der Weihnachtszeit, aber die vielen wonnevoll rosigen Gesichter, der Dunst aus gegrillten Bratwürsten und gebrannten Mandeln, der tiefe Frieden, den der Schnee der Stadt aufdrückte, all das ging auch an Paul nicht spurlos vorbei.

»In jedem Jahr, vier Wochen vor der Zeit, da man den Christbaum schmückt und sich aufs Feiern freut, ersteht auf diesem Platz, der Ahn hat s schon gekannt, was ihr hier seht, Christkindlesmarkt genannt.«

Paul legte einen Tausender-Film ein. Das extrem empfindliche Material in Kombination mit seinem lichtstarken Teleobjektiv würde ihm exzellente Fotos von den Menschenmassen liefern. Das war es ja, was sein Auftraggeber bestellt hatte: Menschen, die Begeisterung ausstrahlen. Menschen, die bezaubert sind von Nürnberg. Wenn Paul solche Fotos beschaffen konnte, dann hier und jetzt mit vier- oder fünftausend Christkindfans zu seinen Füßen. Er legte seine Nikon an und genoss den Adrenalinkick.

»Dies Städtlein in der Stadt, aus Holz und Tuch gemacht, so flüchtig, wie es scheint, in seiner kurzen Pracht, ist doch von Ewigkeit.«

Er wechselte die Patrone zum fünften Mal. Der Fremdenverkehrsamtsleiter dürfte zufrieden sein. Zwei, drei Fotos verschwendete Paul dann doch für seine Kollegen auf dem kleinen Holzpodest, die sich abmühten, das Christkind möglichst ohne störende Schatten ins Visier zu bekommen, aber Probleme mit dem stärker werdenden Schneefall hatten.

»Ihr Herrn und Fraun, die ihr einst Kinder wart, seid es heut wieder, freut euch in ihrer Art. Das Christkind lädt zu seinem Markte ein, und wer da kommt, der soll willkommen sein.«

Pauls Kamera piepste. Der achte Film war durchgezogen.

»Darf ich mal durch?«

Paul schaute verwirrt von seiner Kamera auf. Das Christkind stand ihm gegenüber.

»Darf ich durch?«

»Ja, sicher«, Paul trat zur Seite, »übrigens«, er streckte seine Hand aus, »das hast du wirklich gut gemacht.«

Das Mädchen wiegte misstrauisch den Kopf.

»Ich spreche von dem Prolog. Große Klasse. Sehr souverän vorgetragen«, bekräftigte Paul sein Lob und hielt die Hand ausgestreckt.

Das Christkind zog ein Paar seidene Handschuhe über, bevor es einschlug. Auf Pauls fragenden Blick hin sagte das Mädchen: »Ich muss in meinem Job jeden Tag unendlich vielen Typen die Hand schütteln. Jeder zweite ist erkältet. Was ist, wenn ich mir durch die ewige Händeschüttelei die Grippe hole? Dann ist es vorbei mit der Weihnachtsidylle. Dann fällt das Christkind aus. Und das darf nicht passieren. Also ⦫, sie grinste doppeldeutig, »also mach s nie ohne!«

Paul fragte sich, wie sehr Kind das Christkind noch war, dachte aber vorsichtshalber nicht weiter darüber nach, um sich seine Weihnachtsgefühle nicht zu verderben, und drückte die behandschuhte Hand.

Engel, Bühnenarbeiter und Christkind stiegen die Treppen hinab, und Paul freute sich auf einen Glühwein mit seinen Kollegen, um den ganzen Rummel würdig zu begießen. Als er das Kirchenportal verließ und seine Kamera sicher verstaute, um sie vor dem Schnee zu schützen, ärgerte er sich über die instinktlosen Sanis, die ihr Martinshorn lautstark über den Platz hallen ließen, ohne Rücksicht auf vorweihnachtliche Harmoniebedürftigkeit zu nehmen.

Er tauchte in den langsam dahintreibenden Menschenstrom ein und bemühte sich, auf einen der Ausgänge des Marktes zuzusteuern. Über dem allgemeinen Gemurmel, dem Klirren der Glühweintassen und dem feinen Klang diverser Glockenspiele in den Verkaufsständen tönte noch immer das Martinshorn; es schien sogar, als wäre ein zweites hinzugekommen.

»Feierabend?«, krächzte eine heisere Stimme hinter ihm.

Überrascht wandte sich Flemming um und sah einen alten Bekannten. »Sag bloß, du warst auch im Einsatz?« Er deutete auf die schwere Kameraausrüstung, die in einer ausgeleierten Ledertasche über der Schulter des Grauhaarigen hing.

Dieser grinste ihn vielsagend an, wobei seine Augen durch die dicken Gläser seiner Hornbrille unnatürlich vergrößert wirkten. »Hab zu wenig beiseite gelegt für die Rente. Deshalb schickt mich meine Frau weiter raus - bei Wind und Wetter. Kennt keine Gnade, die Chefin.« Lenny Zimmermann, in die Jahre gekommener Boulevardfotograf alter Schule und leidenschaftlicher Fan teurer Großformatkameras, konterte auf Pauls Erkundigung prompt mit einem Gegenversuch: »Und wie laufen deine Geschäfte? Hab gehört, du suchst Aufträge? Zu viel Konkurrenz auf dem Markt, habe ich Recht?«

»Ich kann nicht klagen«, log Paul, der sich der Unterhaltung im Geschiebe und Gedränge der Menschenmenge so schnell wie möglich entziehen wollte. Zumal er - immer, wenn er Lenny traf - an seine eigene Zukunft denken musste und sich fragte, ob auch er weit über die Pensionsgrenze hinaus mit der Kamera unterm Arm durch die Gegend tingeln musste.

»Junger Kollege«, ließ ihn Lenny nicht ziehen, »wenn es mit der Werbefotografie im...

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Autor

Jan Beinßen, Jahrgang 1965, lebt in Nürnberg. Er hat zahlreiche Kriminalromane veröffentlicht. Bei ars vivendi erschienen bisher Dürers Mätresse (2005), Sieben Zentimeter (2006), Hausers Bruder (2007), Die Meisterdiebe von Nürnberg (2008), Herz aus Stahl (2009), Das Phantom im Opernhaus (2010), Lebkuchen mit Bittermandel (2011) und Die Paten vom Knoblauchsland (2012).