Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Geisterbahn

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
650 Seiten
Deutsch
Jung und Jung Verlagerschienen am06.09.20181. Auflage
Fast ein Jahrhundert umspannt der Bogen dieses Romans, mit dem Ursula Krechel fortsetzt, was sie, vielfach ausgezeichnet und gefeiert, mit 'Shanghai fern von wo' und 'Landgericht' begonnen hat. 'Geisterbahn' erzählt die Geschichte einer deutschen Familie, der Dorns. Als Sinti sind sie infolge der mörderischen Politik des NS-Regimes organisierter Willkür ausgesetzt: Sterilisation, Verschleppung, Zwangsarbeit. Am Ende des Krieges, das weitgehend bruchlos in den Anfang der Bundesrepublik übergeht, haben sie den Großteil ihrer Familie, ihre Existenzgrundlage, jedes Vertrauen in Nachbarn und Institutionen verloren. Anna, das jüngste der Kinder, sitzt mit den Kindern anderer Eltern in einer Klasse. Wer wie überlebt hat, aus Zufall oder durch Geschick, danach fragt keiner. Sie teilen vieles, nur nicht die Geister der Vergangenheit.Mit großer Kunstfertigkeit und sprachlicher Eleganz erzählt Ursula Krechel davon, wie sich Geschichte in den Brüchen und Verheerungen spiegelt, die den Lebensgeschichten einzelner eingeschrieben sind. Auf einzigartige Weise schafft sie eine atmosphärische Dichte, in der vermeintlich Vergangenes auf bewegende und bedrängende Weise gegenwärtig wird.

geboren 1947 in Trier, seit 1974 zahlreiche Veröffentlichungen, Theaterstücke, Gedichte, Hörspiele, Romane, Essays. Für ihre Romane »Shanghai fern von wo« (2008), »Landgericht« (2012) und »Geisterbahn« (2018) wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Deutschen Buchpreis und dem Jean-Paul-Preis. Ursula Krechel lebt in Berlin.
mehr
Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR32,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR17,99

Produkt

KlappentextFast ein Jahrhundert umspannt der Bogen dieses Romans, mit dem Ursula Krechel fortsetzt, was sie, vielfach ausgezeichnet und gefeiert, mit 'Shanghai fern von wo' und 'Landgericht' begonnen hat. 'Geisterbahn' erzählt die Geschichte einer deutschen Familie, der Dorns. Als Sinti sind sie infolge der mörderischen Politik des NS-Regimes organisierter Willkür ausgesetzt: Sterilisation, Verschleppung, Zwangsarbeit. Am Ende des Krieges, das weitgehend bruchlos in den Anfang der Bundesrepublik übergeht, haben sie den Großteil ihrer Familie, ihre Existenzgrundlage, jedes Vertrauen in Nachbarn und Institutionen verloren. Anna, das jüngste der Kinder, sitzt mit den Kindern anderer Eltern in einer Klasse. Wer wie überlebt hat, aus Zufall oder durch Geschick, danach fragt keiner. Sie teilen vieles, nur nicht die Geister der Vergangenheit.Mit großer Kunstfertigkeit und sprachlicher Eleganz erzählt Ursula Krechel davon, wie sich Geschichte in den Brüchen und Verheerungen spiegelt, die den Lebensgeschichten einzelner eingeschrieben sind. Auf einzigartige Weise schafft sie eine atmosphärische Dichte, in der vermeintlich Vergangenes auf bewegende und bedrängende Weise gegenwärtig wird.

geboren 1947 in Trier, seit 1974 zahlreiche Veröffentlichungen, Theaterstücke, Gedichte, Hörspiele, Romane, Essays. Für ihre Romane »Shanghai fern von wo« (2008), »Landgericht« (2012) und »Geisterbahn« (2018) wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis, dem Deutschen Buchpreis und dem Jean-Paul-Preis. Ursula Krechel lebt in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783990271636
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatE101
Erscheinungsjahr2018
Erscheinungsdatum06.09.2018
Auflage1. Auflage
Seiten650 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1233 Kbytes
Artikel-Nr.3965029
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Ich konnte nicht umhin, mir vorzustellen, MEINVATER oder einer wie MEINVATER (oder war MEINVATER überall dort, wo ich hindachte, hinlangte?), ich konnte mir vorstellen, MEINVATER säße da in der Baracke am Eingang des Lagers Marzahn, kontrollierte, zählte, hielte die Hunde fest, ließe die Hunde los. Es war graues Wetter in Marzahn, und plötzlich fielen Tropfen, fielen so leis, bis es sich einregnete, ein weicher, fast undurchlässiger Vorhang. Jetzt kam niemand mehr zum Eingang des Lagers. Wer konnte, verkroch sich in den Wagen, deren Dächer undicht waren, deshalb waren sie ja ausrangiert worden. Ich konnte nicht umhin, mir MEINENVATER in seiner Uniform vorzustellen, wie er dieses oder jenes Lager bewachte und wie er, wenn es nichts zu bewachen gab, mit seinen Kollegen in der Bude Karten spielte, Dienst schob war der Fachausdruck, den ich von ihm lernte. Von ihm lernte ich auch das Kartenspielen, vielleicht auch die Dickfelligkeit, das Wasserabweisende einer Existenz. In einer Baracke zu sitzen, mit den Hunden, mit den Kollegen, das war eine Vorform, etwas wie ein Trichter. In der engen Form wurde zusammengepreßt, was in ein anderes Gefäß münden sollte.

Auf dem Rastplatz in Marzahn - es war eine Ungeheuerlichkeit, daß er Rastplatz genannt wurde -, auf dem Rastplatz, der schon ein Ghetto war, lebte auch ein Äffchen. Eine Familie hatte es mitgebracht. Es war gut vorstellbar, daß es früher, in besseren Zeiten, eine feuerrote Uniform mit goldenen Litzen getragen, sich beim Applaus mit dem Zirkusdirektor verbeugt hatte, dann auf seine Schulter geklettert war und ihm den Zylinder vom Kopf genommen hatte zur Freude der Kinder. Nun saß es nackt und naß unter dem Wagen der Familie, ein gramvoller, kleiner Geselle, nagte an einem unreifen Apfel, den die Kinder aufgeklaubt hatten. Seine Augen waren glanzlos, es fehlte ihm auch an Betätigung für seine Lebhaftigkeit. Das Äffchen, das wohl eine Meerkatze war, zog sich hinter ein Wagenrad zurück, wenn MEINVATER oder einer wie er sich dem Wagen näherte. Dort kauerte es klaglos und fast unsichtbar, äugte zwischen den Speichen hindurch und begann mit seiner hellen Stimme zu keifen. Sie zitterte; doch das hörte nur jemand, der die Tiere verstand, also ein Sinto. Wenn MEINVATER oder einer wie er oder einer, der gröber und fuchterregender war, sich entfernte, kroch das Äffchen wieder hervor, schimpfte weiter in kurzen, schnappenden Tönen, ergriff die Hand des Mannes, den man sich auch mit einer Phantasie-Uniform, ordensgeschmückt, in der Manege vorstellen konnte, ein geborener Direktor, ein würdevoller Mann. Du hast solche Angst gehabt, gell? Und ich auch, sagte er. Er streichelte das Tierchen, bis es sich beruhigt hatte.

Lucie und ihre Schwester Babette hatten auch Angst, Angst um ihre Männer, Angst vor der Verantwortung. Das Schaustellergeschäft kam nicht ohne Alfons und Laurenz aus. Alfons hatte so viele Termine im Kopf, sie mußten jetzt abgesagt werden, sein Büchlein mit den Notizen war nur eine Gedächtnisstütze. Wo waren die Männer? Was und wer hatte sie aufgehalten? Sie wußten keinen Rat. Wenn die Kinder beim nächsten Bauern Milch holten, fragte der anzüglich: Wo ist denn euer Vadder? Und die Kinder wußten nichts zu sagen. Was sie wußten: Man mußte sich schämen, wenn man nicht wußte, wo der Vater war. Es war unvorstellbar, wo er blieb. Die Kinder kamen mit der vollen Milchkanne, nichts war verschlabbert. Lucie kochte die Milch ab, damit sie nicht gleich sauer wurde. Und um die Anspannung zu vergessen, erzählte sie den Kindern die Geschichte vom Milchtopf, in der sich eine Magd auf dem Weg zum Markt ausmalt, was sie sich für den Wert eines Topfes Milch kaufen könnte. Bis sie vor lauter Tagträumereien stolpert und die ganze kostbare Milch verschüttet. Die Rechnung war nicht aufgegangen, sie hatte sich verspekuliert, das war die Milchmädchenrechnung. Lucies Erzählung war eine Warnung an die Kinder und gleichzeitig ein Schuß vor den Bug, der sie selbst traf. Was wäre, wenn Alfons und Laurenz nicht mehr zurückkämen, wenn sie aufgehalten worden wären im Nirgendwo? Eine andere Redewendung fiel ihr ein: Dann hätte sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Aber wer war der Wirt? Und wie hoch war die Rechnung? Und wer sollte, mußte sie bezahlen? Es wurde ihr heiß am Herd, und sie schlief schlecht in der Nacht, Alfons fehlte, fehlte.

Babette kommt und heult, sie bringt ihre Kinder mit, die sich an ihren Rock klammern, Michael und Konrad starren sie an, so fremd kommt ihnen die Tante vor, sie wittern die Angst der Mutter und der Tante. Die Angst ist eine Glocke über dem Raum. Lucie und ihre Schwester Babette nehmen allen Mut zusammen und gehen ins Polizeipräsidium und fragen nach ihren Männern. Sie haben es sich gründlich überlegt. Noch nie war eine von ihnen im Polizeipräsidium gewesen, aber die Polizei war schon häufig bei ihnen, um zu schnüffeln, Fragen zu stellen, auf die sie keine Antworten wußten. Lucie hat ihre Haare zu einer Flechtkrone aufgesteckt, sie wirkt größer mit dieser Frisur, würdevoller. Und Babette, die ihr sehr ähnlich sieht - nur hat sie hellere Augen und ist ein wenig breiter -, hat eine Korallenkette angelegt, die ihre Halsgrube verdeckt. Der Polizist (MEINVATER, wer sonst?) hört sich an, was sie zu sagen haben. So, die Männer sind nach Berlin gefahren? So, zu einer Schaustellermesse? So, eine Postkarte ist gekommen? Sie sind aufgehalten? Das kommt schon mal vor, wenn Männer in eine Großstadt fahren, sagt er und grient sie an. Lucie ist wütend und muß sich zusammennehmen, um nicht zu schreien. Dann platzt es aus ihr heraus: Solche sind unsere Männer nicht. Dann ist ja gut, sagt der Polizist, warum machen Sie sich Sorgen? Wir möchten zwei Vermißtenanzeigen aufgeben. Jetzt beugt sich Lucie über den Schreibtisch, und es klingt, als hätte sie kein bißchen Angst: Wir wollen unsere Männer wiederhaben. Da fällt aus ihrem Haar eine Haarnadel, fällt auf das Anzeigenformular. MEINVATER starrt die Haarnadel an, ihre Krümmung, ihre Wellenlinie, ihren milden, dunklen Glanz, dann die beiden Frauen. Er hebt den Kopf, seine Lider zusammengekniffen, eine steile Falte auf der Stirn, jetzt blickt er geradewegs in Lucies dunkle Kirschenaugen. Er spannt das Formular in die Schreibmaschine. Gut, wie heißen die Männer? Eine Vermißtenmeldung wird aufgenommen, in einen Ablagekorb gelegt, da bleibt sie liegen. Und was tun mit der Haarnadel auf dem Schreibtisch des Polizisten? Die Haarkrone bleibt auch fest ohne diese Haarnadel. Lucie läßt sie einfach liegen, soll der Polizist damit machen, was er will. Er schnippt sie vom Schreibtisch. Die Haarnadel, die stehengebliebene Zeit, der Mann (vielleicht MEINVATER), die beiden Frauen. Grußlos verlassen Lucie und Babette das Polizeipräsidium, stehen schweigend, einträchtig, in sich gekehrt vor dem Gebäude, stehen in der gleißenden Morgenhelligkeit und holen tief Luft. Die Luft schmeckt nach Staub. Sie stehen auf dem Hauptmarkt zwischen den Ständen, Blumenfülle, Astern, Bauernlilien, Löwenmäulchen. An anderen Ständen bieten Bauersfrauen körbeweise Blaubeeren an, mit einer Schaufel packen sie sie in Tüten. Die Marktfrauen sehen die beiden verächtlich an oder mißtrauisch, als ob sie den nächsten Diebstahl erwarteten. Das kennen Lucie und Babette schon. Sie biegen um die Ecke, Lambert & Söhne - alles für den anspruchsvoll gestalteten Garten, geschmackvolle Blumenarrangements, Brautsträuße -, gehen die geschäftige Fleischstraße entlang, kaufen Heringe aus dem Faß, die in Zeitungspapier gewickelt werden, steigen an der Antoniuskirche in die Straßenbahn zum südlichen Ende der Stadt. Der Heringsgeruch steht in der drückend heißen Straßenbahn. Die Leute rücken von ihnen ab.

Jetzt hielten Alfons und Laurenz es nicht mehr aus. Täglich waren sie zur Polizeibaracke am Eingang des Lagers gegangen. Täglich hatten sie gefragt, ob nicht endlich die Bestätigung aus Trier gekommen sei, daß sie einen festen Wohnsitz hätten. Immer wieder schickte man sie weg. Nein, nein, nichts da. Und es dämmerte ihnen schon, es sei ganz gleichgültig, ob sie einen festen Wohnsitz hätten, hier oder dort, in Weißensee oder im Scheunenviertel, wo die Musiker, die sie aufgenommen hatten, wohnten oder irgendwo oder nirgendwo, in den Sternen oder unter freiem Himmel. Niemand hatte nach ihrem festen Wohnsitz gefragt. Sie sahen wie Zigeuner aus, dann waren sie auch Zigeuner, und je mehr sie sich wehrten gegen die Verhaftung, um so klarer war den Polizisten, daß sie kriminell oder asozial waren oder beides, jedenfalls Leute, vor denen man die Öffentlichkeit schützen mußte. Sie konnten nicht das Gegenteil beweisen, und bewiesen sie es, käme endlich die Nachricht über ihren festen Wohnsitz in Trier und ein polizeiliches Führungszeugnis, in dem es amtlich hieß, sie hätten sich nichts zuschulden kommen lassen, etwas, das man sich hinter den Spiegel stecken konnte: Es änderte nichts. Vogelfreie Leute, bunte Hunde waren sie jetzt, bunte Hunde, die man an die Leine gelegt hatte, die in Hütten vegetierten. Was hatten sich die Musiker, was hatten sich die vielen Kinder, was hatte sich das Äffchen zuschulden kommen lassen? Manchmal dachte Alfons auch an die...
mehr

Autor

Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, seit 1974 zahlreiche literarische Veröffentlichungen, Theaterstücke, Gedichte, Hörspiele, Romane, Essays. Für ihre Romane "Shanghai fern von wo" (2008) und "Landgericht" (2012) wurde sie vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Deutschen Buchpreis. Ursula Krechel lebt in Berlin.