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Missouri

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
288 Seiten
Deutsch
Aufbau Verlage GmbHerschienen am15.02.20191. Auflage
'Vergesst die ganzheitlichen Entwürfe, scheint Gregor Hens zu sagen, es sind die Scherben, aus denen das Glück blitzt'. FAZ. Sommer 1989: Karl ist 25 Jahre alt und will seine unglückliche Jugend im Internat hinter sich lassen. Ein Job als Assistant Teacher in Columbia, Missouri, ist die ersehnte Möglichkeit, sich neu zu erfinden. Dort verliebt er sich in Stella, eine seiner Studentinnen. Und aller Rationalismus relativiert sich angesichts der Gefühle, die sie in ihm auslöst. Die er ebenso wenig versteht, wie ihre eigenartige Gabe, für kurze Zeit die Schwerkraft zu überwinden. Ist das Traum, Einbildung oder das, was man Wirklichkeit nennt? Gregor Hens hat einen eindringlichen Roman über die Zeit im Leben geschrieben, in der die Weichen gestellt werden für alles, was kommt - und die Geschichte einer ersten großen Liebe, die im Scheitern unwiderruflich prägt. 'Gregor Hens verwandelt die Gegenstände seiner Welt in Verstärker poetischer Kraft: summend, vibrierend und Funken sprühend.' New Yorker.


Gregor Hens, geboren 1965 in Ko?ln, arbeitete mehr als zwanzig Jahre lang in den USA, bevor er 2013 nach Deutschland zurückkehrte. Er ist freier Autor und Literaturübersetzer und lehrt Kreatives Schreiben und Urbanistik an der Freien Universität Berlin. Sein Memoir »Nikotin« wurde in sechs Sprachen u?bersetzt. Zuletzt erschienen bei Aufbau »Missouri« und in der Anderen Bibliothek der Essay »Die Stadt und der Erdkreis«. Gregor Hens lebt mit seiner Familie in Berlin.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

Klappentext'Vergesst die ganzheitlichen Entwürfe, scheint Gregor Hens zu sagen, es sind die Scherben, aus denen das Glück blitzt'. FAZ. Sommer 1989: Karl ist 25 Jahre alt und will seine unglückliche Jugend im Internat hinter sich lassen. Ein Job als Assistant Teacher in Columbia, Missouri, ist die ersehnte Möglichkeit, sich neu zu erfinden. Dort verliebt er sich in Stella, eine seiner Studentinnen. Und aller Rationalismus relativiert sich angesichts der Gefühle, die sie in ihm auslöst. Die er ebenso wenig versteht, wie ihre eigenartige Gabe, für kurze Zeit die Schwerkraft zu überwinden. Ist das Traum, Einbildung oder das, was man Wirklichkeit nennt? Gregor Hens hat einen eindringlichen Roman über die Zeit im Leben geschrieben, in der die Weichen gestellt werden für alles, was kommt - und die Geschichte einer ersten großen Liebe, die im Scheitern unwiderruflich prägt. 'Gregor Hens verwandelt die Gegenstände seiner Welt in Verstärker poetischer Kraft: summend, vibrierend und Funken sprühend.' New Yorker.


Gregor Hens, geboren 1965 in Ko?ln, arbeitete mehr als zwanzig Jahre lang in den USA, bevor er 2013 nach Deutschland zurückkehrte. Er ist freier Autor und Literaturübersetzer und lehrt Kreatives Schreiben und Urbanistik an der Freien Universität Berlin. Sein Memoir »Nikotin« wurde in sechs Sprachen u?bersetzt. Zuletzt erschienen bei Aufbau »Missouri« und in der Anderen Bibliothek der Essay »Die Stadt und der Erdkreis«. Gregor Hens lebt mit seiner Familie in Berlin.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783841217196
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum15.02.2019
Auflage1. Auflage
Seiten288 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4052963
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
2

Erschöpft vom langen Flug trat ich auf das Rollfeld von Lambert Field, das noch die Mittagshitze abstrahlte. Ich wäre am liebsten auf die Knie gefallen, um den heißen Asphalt zu küssen. Ich wusste kaum, wer ich war und was aus mir werden sollte. Den größeren Teil meiner Jugend hatte ich in einem Internat am Niederrhein verbracht, wo ich lateinische Grammatik und Judo gelernt hatte und sonst beinahe nichts. Nach dem Abitur zog ich ein paarmal um, wohnte einige Monate auf einem Bauernhof bei Kleve und studierte vier Semester lang lustlos an der Kölner Universität. Dann: Missouri.

Bereits als Schüler hatte ich ein halbes Jahr in Amerika verbracht, in einem kleinen Ort namens Ridgefield im Nordwesten des Landes. Mein damaliger Gastvater Steve war ein Trompete spielender Pastor einer winzigen Baptistengemeinde. Unter der Woche jobbte er als Baggerfahrer. Wenn mich niemand beobachtete, spielte ich auf der Orgel in der kleinen, weiß geschindelten Kirche neben dem Haus Tom-Waits-Lieder. Im Windfang des Drogeriemarkts, dem einzigen Laden im Ort, spielte ich an einem Automaten Frogger, abends schrieb ich lange Briefe an Ulrike, die in einem Architektenhaus am Ende unserer Straße aufgewachsen war. Christie, meine Gastmutter, bemühte sich, mich zu verstehen, sie stellte mir Fragen und hörte mir zu. Mehr als jeder andere spürte sie das Ausmaß meiner Verwirrung. Sie nahm mich mit zum Einkaufen, sie stellte mich ihren Freunden vor. Steve lieh mir sein Remington-Gewehr, auf dessen Schaft ein Pax-Christi-Zeichen prangte. Ich schoss, bis das junge, biegsame Bäumchen, an das ich die Zielscheibe geheftet hatte, langsam und lautlos kippte. Ich war der einzige Junge im Kunst- und Kalligrafiekurs, wo ich Bilder von Grant Wood und Norman Rockwell kopierte. Die Lehrerin nannte mich hon oder honey und legte mir die Hand auf die Schulter, wenn sie meine Arbeit an der Staffelei begutachtete. Ich lernte den Sohn eines philippinischen Oligarchen kennen, auch er ein Austauschschüler. Ich besuchte Disneyland und trank klebrigen Pfirsichlikör mit Steve. Als ich im Frühjahr 1982 ins Internat zurückkehrte, trug ich eine neue Welt in mir.

Sieben Jahre später war ich wieder in den USA. St. Louis. Im Juli. Ein brütend heißer Sommernachmittag. Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich nahm ein Zimmer im Best Western in der Nähe des Flughafens. Stella war zu diesem Zeitpunkt auf der Farm, saß irgendwo im Schatten und las. Natürlich wusste ich damals nichts von Stellas Existenz, doch möglicherweise spürte ich, dass sie in der Nähe war.

Ich sank auf das Bett und schlief sofort ein. Um drei Uhr wachte ich auf. Ich erinnere mich an ein gelbliches Licht, das durch die Vorhänge drang, von dem in nächtlicher Stille liegenden Flugfeld vielleicht oder der nahen Autobahn, deren Rauschen ich hörte. Mein Magen war übersäuert. Das Letzte, was ich zu mir genommen hatte, war ein winziges Mittagessen im Flugzeug, das mit winzigem Besteck und einem winzigen Becher Wasser serviert worden war. Ich zündete mir eine filterlose Pall Mall an, meine bevorzugte Marke damals. Rauchend lag ich auf dem Bett und dachte nach. Ich zitterte vor Hunger, Asche flockte auf meine dürre, haarlose Brust wie Schnee. Ich wischte die Asche fort, stand auf und zog mich an.

In einer Nische am Aufzug stand eine Eiswürfelmaschine neben einem Cola-Automaten neben einem Snack-Automaten. Es gab Mars und Milky Ways. Die Twinkies, zwei Stück pro Packung, waren cream filled. Das klang wie eine Verheißung. Doch Twinkies sollte ich erst viel später probieren, als mir Katja von der Twinkie-Verteidigung erzählte, Dan Whites erbärmlicher Ausrede für den Mord an dem schwulen Politiker Harvey Milk. Verminderte Schuldfähigkeit wegen Überzuckerung. White bekam sieben Jahre und nahm sich das Leben.

Zehn Jahre ist es her, dass Katja, die damals bereits eingebürgert war, für einen Sitz im Rat der Stadt San Francisco kandidierte, mit einem Wahlprogramm, das bezahlbaren Wohnraum und Ateliers für Künstler versprach. Als ich sie im Wahlkampf besuchte, bat sie mich, bei ihren Veranstaltungen Twinkies zu verteilen, meine erste und bis dato einzige politische Betätigung. Doch ihr Wahlprogramm zog nicht. Katja ist Anwältin, und sie führt selbst für kalifornische Verhältnisse ein ziemlich privilegiertes Leben. Es fühlte sich an, als stünde sie weit oben auf einer Leiter und bäte die einfachen Leute, ihr das Werkzeug zuzureichen. Sie erlitt eine krachende Niederlage. Immerhin wurde sie nicht von einem überzuckerten Attentäter erschossen. Sie hat nicht zurückgeblickt. Heute ist sie froh, dass sie die Wahl damals nicht gewonnen hat, sie hat das Beste aus ihrer Niederlage gemacht. Ihre Kanzlei vertritt militante Tierschützer, Gentrifizierungsgegner und Obdachlosenverbände. Manchmal, wenn ich nicht schlafen kann, rufe ich sie an. Meine Nacht, die gedämpfte Konzentration meiner Klettenberger Wohnung, ist ihr geschäftiger Tag. Warte mal kurz, sagt sie dann und schließt die Bürotür. Sie schiebt die Betriebsamkeit beiseite wie eine Tasse kalten Kaffee. Die Zeitzonen, die uns trennen, lösen sich auf, die Zeit selbst fällt in sich zusammen.

Ich stand vor dem Automaten und betrachtete das kleine Bündel Hundertdollarscheine, meine gesamten Ersparnisse, die ich vor dem Abflug in Frankfurt gewechselt hatte. Ich hatte keine kleinen Scheine und keine einzige Münze. Ich suchte das Treppenhaus und ging nach unten. Aufzüge mied ich, besonders wenn es abwärts ging, aus Angst, dass die Kabine eines Tages immer weiter in die Tiefe rauschen würde, vorbei an Lobby und Tiefgarage, vorbei an den zehn Höllenkreisen. Ich wollte nicht als platzende Blase in einem Ozean von Magma enden. Heute meide ich Aufzüge eher aus Gewohnheit.

Unter Flugangst dagegen litt ich nie. Ich hatte im Flugzeug ein paar Stunden geschlafen und ein schmales Buch von Jakob von Uexküll gelesen. Ich hatte von meinem neuen Leben geträumt und war müde und glücklich in St. Louis gelandet. Das Buch von Uexküll handelte von Zecken und Quallen, von Plattfischen und Vögeln. Was sie sahen und rochen. Was sie nicht sahen. In welcher Welt sie lebten. Zwischen den Zeilen immer die Frage: Was der Mensch wahrnimmt und was nicht. Wo verlaufen die Grenzen unserer Welt? Deiner Umwelt, meiner Umwelt. Die Sonne ist ein Himmelslicht, las ich. Und der Himmel ist ein Erzeugnis des Auges. Ich hatte aus dem Fenster geblickt und Neufundland gesehen, tausend Seen. Noch immer Mittag. Das Flugzeug schien sich kaum zu bewegen.

Die Rezeption lag im Halbdunkel. Hallo? Ich klopfte an eine Tür, hinter der ich einen vollständig angekleideten Wachmann auf einer Klappliege vermutete.

Hallo? Ist da jemand?

Nichts. Ich ging um den Schalter herum und begann, Schränke zu öffnen und Schubladen herauszuziehen, bis ich ein rot-weiß kariertes, in seinem Deckel stehendes Pappkästchen entdeckte. Ich schüttete die Münzen in meine Hemdtasche, fest entschlossen, das Geld am Morgen zurückzugeben. Ich ging hinauf, aß zwei Mars und legte mich wieder ins Bett. Am Morgen klaubte ich die übrigen Münzen aus dem zerwühlten Laken.

Im Greyhound-Bus befanden sich nur wenige Passagiere, die zwischen den schmutzigen hohen Sitzlehnen kaum zu erkennen waren. Ich war der Einzige, der in Columbia ausstieg, einer Stadt, die mir auf den ersten Blick so austauschbar erschien wie ihr Name. Gigantische Tankstellen an der Autobahn, weiße Holzkirchen, Drive-In-Banken mit Gipskolonnaden. Dann die Hauptstraße mit ihren Bars und Leihhäusern. Ein Antiquariat, eine Pizzeria. Alles schien geschlossen zu haben. Der Fahrer öffnete die Kofferklappe. Ich zog meinen prall gefüllten, beige-braunen Kunstlederkoffer heraus, den ich mit einem blauen und einem grünen Judogürtel, Relikten einer abgebrochenen Kampfsportausbildung, gesichert hatte. Der Bus röhrte davon. In der letzten Reihe saßen ein grinsender junger Mann und seine Freundin, die fassungslos schien. Sie hatten sich umgedreht und sahen mich durch das Rückfenster an, bis mich die Staubwolke einhüllte. Ich war kaum hundert Meter von Stellas Wohnung an der Hitt Street entfernt: zweite Etage, Fenster nach hinten. Möglich, dass ich die Leere dort spürte, die Stille ihrer sommerlich verlassenen Wohnung.

Es war kurz nach Mittag, die Sonne brannte, der Himmel war weiß vor Hitze. Ich trug eine schwere Jeans und eine abgewetzte Wildlederjacke, die nicht mehr in den Koffer gepasst hatte. Ich trat in den schmalen Schatten des kleinen Schaltergebäudes, an dessen unverputzter Außenwand ein Telefon hing. Die Vorstellung, hier draußen zu telefonieren, kam mir grotesk vor. Ich fühlte mich schutzlos. Ich legte die Jacke auf den Koffer, sah mich um und zog einen Zettel aus dem Portemonnaie. Auf dem Zettel stand eine Telefonnummer, die ich von der Universität bekommen hatte.

Ich warf einige Münzen ein, die von meinem nächtlichen Raubzug übrig waren, aber nicht Vitoria, die Vorsitzende der European Students Association, meldete sich, sondern eine Frau von der Telefongesellschaft, die mich bat, fünfzig Cent einzuwerfen. Hab ich gerade gemacht, sagte ich. Im selben Moment fielen die Münzen mit dumpfem Rasseln durch. Ich legte auf, warf die Münzen noch einmal ein und wählte. Wieder forderte mich dieselbe Frauenstimme auf, meine Münzen einzuwerfen, und wieder wurden sie ausgespuckt. Ich versuchte es noch einmal. Die Frau von der Telefongesellschaft wurde ungehalten. Ich gab auf und setzte mich auf meinen Koffer.

Seit ich aus dem Bus gestiegen war, hatte ich noch keinen Menschen erblickt. Nicht einmal ein Auto. Nichts rührte sich. Die dreistöckigen Wohnhäuser auf der Südseite der Straße boten...
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