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Winterbergs letzte Reise

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
544 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am25.02.2019
Jan Kraus arbeitet als Altenpfleger in Berlin. Geboren ist er in Vimperk, dem früheren Winterberg, im Böhmerwald, seit 1986 lebt er in Deutschland. Unter welchen Umständen er die Tschechoslowakei verlassen hat, das bleibt sein Geheimnis. Und sein Trauma. Kraus begleitet Schwerkranke in den letzten Tagen ihres Lebens. Die Tage, Wochen, Monate, die er mit seinen Patienten verbringt, nennt er 'Überfahrt'. Einer von denen, die er auf der Überfahrt begleiten soll, ist Wenzel Winterberg, geboren 1918 in Liberec, Reichenberg. Als Sudetendeutscher wurde er nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben. Als Kraus ihn kennenlernt, liegt er gelähmt und abwesend im Bett. Es sind Kraus' Erzählungen aus seiner Heimat Vimperk, die Winterberg aufwecken und ins Leben zurückholen. Doch Winterberg will mehr von Kraus, er will mit ihm eine letzte Reise antreten, auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe - eine Reise, die die beiden durch die Geschichte Mitteleuropas führt. Von Berlin nach Sarajevo über Reichenberg, Prag, Wien und Budapest. Denn nicht nur Kraus, auch Winterberg verbirgt ein Geheimnis.

Jaroslav Rudi?, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane »Grand Hotel«, »Die Stille in Prag«, »Vom Ende des Punks in Helsinki« und »Nationalstraße«, bei btb außerdem »Der Himmel unter Berlin«. »Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den Jaroslav Rudi? auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er außerdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextJan Kraus arbeitet als Altenpfleger in Berlin. Geboren ist er in Vimperk, dem früheren Winterberg, im Böhmerwald, seit 1986 lebt er in Deutschland. Unter welchen Umständen er die Tschechoslowakei verlassen hat, das bleibt sein Geheimnis. Und sein Trauma. Kraus begleitet Schwerkranke in den letzten Tagen ihres Lebens. Die Tage, Wochen, Monate, die er mit seinen Patienten verbringt, nennt er 'Überfahrt'. Einer von denen, die er auf der Überfahrt begleiten soll, ist Wenzel Winterberg, geboren 1918 in Liberec, Reichenberg. Als Sudetendeutscher wurde er nach dem Krieg aus der Tschechoslowakei vertrieben. Als Kraus ihn kennenlernt, liegt er gelähmt und abwesend im Bett. Es sind Kraus' Erzählungen aus seiner Heimat Vimperk, die Winterberg aufwecken und ins Leben zurückholen. Doch Winterberg will mehr von Kraus, er will mit ihm eine letzte Reise antreten, auf der Suche nach seiner verlorenen Liebe - eine Reise, die die beiden durch die Geschichte Mitteleuropas führt. Von Berlin nach Sarajevo über Reichenberg, Prag, Wien und Budapest. Denn nicht nur Kraus, auch Winterberg verbirgt ein Geheimnis.

Jaroslav Rudi?, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane »Grand Hotel«, »Die Stille in Prag«, »Vom Ende des Punks in Helsinki« und »Nationalstraße«, bei btb außerdem »Der Himmel unter Berlin«. »Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den Jaroslav Rudi? auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er außerdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641231262
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum25.02.2019
Seiten544 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2621 Kbytes
Artikel-Nr.4168483
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

VON KÖNIGGRÄTZ NACH SADOWA

»Die Schlacht bei Königgrätz geht durch mein Herz«, sagte Winterberg und schaute aus dem beschlagenen Fenster des Zuges. Er fasste sich so fest an seine Brust, als ob er in seiner Hand nicht nur den grauen dicken Stoff seines alten Wollmantels zerquetschen wollte, sondern auch sein neunundneunzig Jahre altes Herz.

»Die Schlacht bei Königgrätz ist der Anfang von meinem Ende«, erzählte er weiter und schaute durch seine Hornbrille auf die verschneite böhmische Landschaft, die an uns vorbeizog.

Die kleine Bahn fuhr langsam, sie wankte wie ein einsames, verlassenes Schiff ohne Kapitän auf hoher See. Die junge Schaffnerin schaute auf ihr Handy und wankte mit. So wie wir.

»Die Schlacht bei Königgrätz ist der Anfang von allen meinen Katastrophen, der Anfang von allen unseren Katastrophen, wenn man im Zeichen der Schlacht bei Königgrätz geboren wurde, ist man für immer verloren. So bin ich verloren, so ist dieses Land verloren und so sind Sie, lieber Herr Kraus, verloren, ob Sie wollen oder nicht, ja, ja, es gibt kein Entkommen, das kann man nicht so einfach überschienen wie die Alpen. Die Schlacht bei Königgrätz ist wie eine Falle, die wir uns selbst gestellt haben, in die wir uns gelockt haben, in die wir uns freiwillig begeben, die Schlacht bei Königgrätz ist eine tiefe Schlucht, in die wir alle abstürzen, die Schlacht bei Königgrätz greift nach unseren Hälsen, sie drückt an meine Kehle, sie ist wie ein Strick, wie eine Schlinge, die immer enger wird, ja, ja, wie ein Strang, an dem wir uns am Ende alle erhängen, ob wir wollen oder nicht, ja, ja, und Strangleichen sind keine schönen Leichen, wie mein Vater immer sagte«, erzählte Winterberg und schaute weiter aus dem Fenster.

»Sehen Sie, Herr Kraus, die Wildschweine dort am Waldrand, sind sie nicht schön, man möchte sie gleich malen. Früher habe ich sehr gern gemalt, vor allem die ruhigen winterlichen Landschaften, so wie diese, doch auch die Wildschweine sind verloren, ja, ja, die Schlacht bei Königgrätz ist eine wuchernde Cornus sanguinea.«

Winterberg erzählte, und ich schaute den Tieren am Waldrand nach.

»Damals eine halbe Million Soldaten, heute eine halbe Million Geister, man muss es sich nur vorstellen können, ich stelle es mir vor, ja, ja, ich schaue historisch durch, ja, ja, ich bin historisch nicht blind, mir ist egal, wie Sie dazu stehen, lieber Herr Kraus, ob Sie sich das vorstellen können oder wollen. Die Schlacht ist da, und wir sind da auch.«

»Das waren Rehe.«

»Was?«

»Dort am Wald. Es waren keine Wildschweine.«

»Genau, Wildschweine, sage ich doch.«

»Es waren aber Rehe.«

»Genau, genau, Rehe und Wildschweine und Hirsche und Füchse und Menschen und Häuser und Felder und Wälder und die winterlichen Landschaften und die malerischen Aussichten, alles ist verloren, traurig, traurig. Mein Großvater war Jäger, und er sagte, die Tiere zu töten sei nicht gut, doch wenn du schon ein Tier töten musst, dann tu es schnell, ja, ja, doch die Schlacht bei Königgrätz tötet nicht schnell, die Schlacht bei Königgrätz kennt keine Gnade, die Schlacht bei Königgrätz ist unser tiefster Abgrund, die Schlacht bei Königgrätz ist unser Untergang, und das schon über hundertsechzig Jahre. Warum schauen Sie historisch nicht durch, lieber Herr Kraus? Sie sollten endlich etwas über Geschichte lesen, dann würden Sie verstehen, dann würden Sie mich verstehen, so wie mich der Engländer und meine Lenka verstanden haben, dann würden Sie wissen und verstehen, was ich mit Cornus sanguinea meine. Sie würden mich nicht so dumm anschauen und schweigen.«

»Das waren Rehe.«

Winterberg hustete ein wenig.

»Rehe?«

»Ja, Rehe. Die Tiere vorhin. Eine ganze Herde Rehe.«

Er hustete immer noch. Ich reichte ihm die Wasserflasche. Er wollte nicht trinken.

»Was für Rehe denn?«

»Egal.«

Er schaute mich ernst an. Dann schaute er die Schaffnerin an. Dann schaute er wieder aus dem Fenster auf verschneite Felder. Und dann erzählte er weiter.

»Die Schlacht bei Königgrätz geht nicht nur durch mein Herz, sie geht auch durch meinen Kopf und durch mein Gehirn und durch meine Lunge und Leber und den Magen, sie ist Teil meines Körpers und meiner Seele. Zwei meiner Verwandten haben hier ihr Leben verloren, lieber Herr Kraus, der eine auf der Seite von Preußen, der andere auf der Seite von Österreich, Julius Ewald und Karl Strohbach, ja, ja, ich kann mir die Seiten aussuchen, doch am Ende liege ich mit den beiden im Grab, ich weiß nicht, ob Sie sich das vorstellen können, ich will es begreifen, ich will alles in meinem Leben endlich begreifen, verstehen Sie, lieber Herr Kraus, deshalb sind wir jetzt hier, um es zu begreifen, verstehen Sie, lieber Herr Kraus, hier bei Königgrätz fängt die ganze Tragödie an«, erzählte Winterberg und schaute weiter aus dem Fenster.

»Sind wir nicht schon in Sadowa? Das ist sicher schon Sadowa. Da müssen wir aus diesem verdammten kalten Zug aussteigen.«

»Nein, das ist noch nicht Sadová. Das ist ... Ach, egal.«

Winterberg hörte mir nicht zu.

Winterberg hörte mir nie zu.

»Die Schlacht bei Königgrätz riss mich entzwei«, erzählte er weiter, und die Schaffnerin setzte sich auf die Bank gegenüber und machte kurz die Augen zu. »Die Schlacht bei Königgrätz raubte mir den Schlaf. Wegen der Schlacht bei Königgrätz habe ich meine erste Frau verloren, wegen der Schlacht bei Königgrätz ist meine zweite Frau verrückt geworden, ja, ja, sie wuchs in Berlin in der Stresemannstraße auf, die früher Königgrätzer Straße hieß, das kann doch kein Zufall sein, lieber Herr Kraus. Kennengelernt haben wir uns in einem Tanzlokal auf der Skalitzer Straße, ja, ja, richtig, Sie haben recht, lieber Herr Kraus, das ist alles kein glücklicher Zufall der Geschichte, das ist ein tragischer Unfall der Geschichte, ein Missverständnis, das man nie wiedergutmachen kann, ja, ja, nur wegen der Schlacht bei Königgrätz leide ich an der Geschichte und an historischen Anfällen, ja, ja, lieber Herr Kraus, ich weiß, was Sie sagen möchten, die Schlacht bei Königgrätz kann man nicht so leicht überschienen wie die Alpen, es gibt zu viele Störzonen, wenn Sie verstehen, was ich meine, lieber Herr Kraus.«

Ich wollte sagen, dass ich von den Störzonen keine Ahnung habe, doch ich wusste, es macht keinen Sinn. Sein Kopf ist eine einzige Störzone. Ich nickte, wie ich immer nickte, wenn ich ihm zuhörte, und dachte mir, was ich mir immer dachte, wenn ich ihm zuhörte. Winterberg hustete wieder ein wenig, und ich reichte ihm die Wasserflasche. Er wollte nicht trinken.

»Bei Skalice wurde 1866 auch heldenhaft gekämpft, da müssen wir auch hin, das steht auch alles in meinem Baedeker. Und auch nach Trautenau und Jitschin, die Stadt von Wallenstein, die er zur Hauptstadt seines Reiches auswählte, ja, ja, dort müssen wir hinfahren, auch um Jitschin wurde gekämpft, viele Sachsen und Österreicher haben sich dort im Teich ertränkt und viele Preußen später im Bier, als sie die Brauerei von Jitschin gestürmt haben.«

Ich wollte sagen, dass ich mal in Jicín gewesen war, damals noch, mit meinen Eltern, doch es ging nicht, Winterberg war nicht zu bremsen.

»In der Gitschiner Straße in Berlin lebte ein guter Freund von mir, mein bester Berliner Freund, auch ein Straßenbahnfahrer, er spielte vor dem Krieg Fußball in Oberschöneweide. Sie wissen natürlich nicht, da Sie nicht historisch durchschauen, dass das Stadion lange Sadowa hieß, ja, ja, genau, nach Sadowa hier in Böhmen, wo wir gleich aussteigen müssen, ja, ja, genau, benannt nach dem glorreichen preußischen Sieg und der glorreichen österreichischen Niederlage. Doch der Sieg wurde auch für Preußen später zu einer unheldenhaften Niederlage, so wie alle Siege in der Geschichte, ja, ja, wie oft ließ ich mich dort von einem erbärmlichen Fußballspiel quälen, Fußball hat mich eigentlich nie interessiert, ja, ja, nur wegen Sadowa, nur wegen Königgrätz bin ich dorthin gegangen. Keinen anderen interessiert es, aber ich weiß es, alles hängt mit Königgrätz zusammen, ja, ja, unsere ganze Katastrophe fängt bei Königgrätz an, ich weiß, was Sie sagen möchten, lieber Herr Kraus, verrückt, alles verrückt. Sie haben recht, es ist verrückt«, erzählte Winterberg weiter und schaute mich die ganze Zeit nicht an.

Er schaute aus dem Fenster auf ein verschlafenes Feld.

Auf Landhäuser.

Auf eine alte Kirche.

Auf zwei Kinder mit dem Hund auf der Landstraße.

»Schön ist es hier, wunderschön, wirklich the beautiful landscape of battlefields, cemeteries and ruins, wie der Engländer immer sagte.«

»Der schon wieder.«

»Ja, ja.«

»Wer war das eigentlich?«

»Der Engländer schaute historisch durch, anders als Sie. Warum lesen Sie keine Geschichtsbücher, lieber Herr Kraus? Sie könnten das alles längst wissen mit Cornus sanguinea und Königgrätz und Sarajevo und mit der Eisenbahn. Nur wegen der Schlacht bei Königgrätz ist meine dritte Frau schwer erkrankt. Nur wegen der Schlacht bei Königgrätz musste ich sie dreißig Jahre lang pflegen. Nur wegen der Schlacht bei Königgrätz müssen Sie mich pflegen. Warum schauen Sie historisch nicht durch? Die Fabrik dort, ist das nicht schon die Zuckerfabrik von Sadowa, lieber Herr Kraus, wo sich die österreichischen Feldjäger so tapfer verteidigten, ja, ja, die berühmte böhmisch-mährisch-österreichische Zuckerindustrie, ich wusste lange nicht, dass Würfelzucker aus Datschitz in Mähren kommt, wussten Sie es, lieber Herr Kraus, wo bin ich hängen geblieben, ja, ja, die Österreicher waren nicht aus Zucker, sie bauten die Zuckerfabrik in eine österreichische Festung um, an die Wand schrieben sie ganz groß...

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Autor

Jaroslav RudiS, geboren 1972, ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane »Grand Hotel«, »Die Stille in Prag«, »Vom Ende des Punks in Helsinki« und »Nationalstraße«, bei btb außerdem »Der Himmel unter Berlin«. »Winterbergs letzte Reise«, der erste Roman, den Jaroslav RudiS auf Deutsch geschrieben hat, wurde 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Für sein Werk wurde er außerdem mit dem Usedomer Literaturpreis, dem Preis der Literaturhäuser sowie dem Chamisso-Preis/Hellerau ausgezeichnet.