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Die bessere Geschichte

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
480 Seiten
Deutsch
Rowohlt Verlag GmbHerschienen am12.03.20191. Auflage
Ein Internatsroman. Eine tragische Liebesgeschichte. Eine packende Story über Führung und Verführung. Der sensible Tilman Weber ist 13, als er auf ein Internat an der Ostsee kommt. Erst fühlt Tilman sich sehr allein in der 'Freien Schule Schwanhagen'. Dann aber verliebt er sich in Ella und findet Aufnahme in ihrer Schülergruppe. Die wird geleitet von dem sehr unkonventionellen Lehrerpaar Wieland. Als er sich schließlich zwischen Ella und der 'Familie' entscheiden muss, kommt es zur Katastrophe. 27 Jahre später. Der bekannte Schriftsteller Tilman Weber erhält einen Telefonanruf. Es ist Ella, die ihn zur Beerdigung einer Mitschülerin einlädt. Bei dem Treffen will Ella die sexuelle Gewalt von damals öffentlich machen. Tilman will das auf keinen Fall...

Anselm Neft, geboren 1973 in Bonn, studierte Vergleichende Religionswissenschaft, Vor- und Fru?hgeschichte, Volkskunde sowie Philosophie. Seit 2016 lebt er als Autor und Publizist in Hamburg, wo er den Literaturpodcast «Laxbrunch» unterhält. Seinen letzten Roman «Die bessere Geschichte» feierte die Kritik als so «mutigen wie bewegenden Roman» (Frankfurter Allgemeine Zeitung). 2018 las er auf Einladung von Nora Gomringer bei den Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextEin Internatsroman. Eine tragische Liebesgeschichte. Eine packende Story über Führung und Verführung. Der sensible Tilman Weber ist 13, als er auf ein Internat an der Ostsee kommt. Erst fühlt Tilman sich sehr allein in der 'Freien Schule Schwanhagen'. Dann aber verliebt er sich in Ella und findet Aufnahme in ihrer Schülergruppe. Die wird geleitet von dem sehr unkonventionellen Lehrerpaar Wieland. Als er sich schließlich zwischen Ella und der 'Familie' entscheiden muss, kommt es zur Katastrophe. 27 Jahre später. Der bekannte Schriftsteller Tilman Weber erhält einen Telefonanruf. Es ist Ella, die ihn zur Beerdigung einer Mitschülerin einlädt. Bei dem Treffen will Ella die sexuelle Gewalt von damals öffentlich machen. Tilman will das auf keinen Fall...

Anselm Neft, geboren 1973 in Bonn, studierte Vergleichende Religionswissenschaft, Vor- und Fru?hgeschichte, Volkskunde sowie Philosophie. Seit 2016 lebt er als Autor und Publizist in Hamburg, wo er den Literaturpodcast «Laxbrunch» unterhält. Seinen letzten Roman «Die bessere Geschichte» feierte die Kritik als so «mutigen wie bewegenden Roman» (Frankfurter Allgemeine Zeitung). 2018 las er auf Einladung von Nora Gomringer bei den Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783644002579
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum12.03.2019
Auflage1. Auflage
Seiten480 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1054 Kbytes
Artikel-Nr.4211271
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Zweites Kapitel

Am Morgen, bevor mein Vater mit mir die weite Fahrt zu dem fortschrittlichen Internat an der Ostsee unternehmen wollte, litt ich plötzlich an Halskratzen, verstopfter Nase, Mattigkeit und Kopfdruck. Ich bat meinen Vater, die Tour zu verschieben. Er zeigte sich erstaunlich gleichgültig und meinte, das sei meine Entscheidung. Ich wurde wankelmütig, fühlte mich nach einem ans Bett gebrachten Becher Tee und einer Dusche schon frischer und stimmte der weiten Fahrt schließlich doch zu.

So fuhren wir mit unserem schwarzen Saab Hunderte von Kilometern und weiter, als ich es mir hatte vorstellen können, nach Schwanhagen bei Wismar, in eine Gegend, die noch vor wenigen Jahren zur DDR gehört hatte und nun als so etwas wie der wilde Osten der Bundesrepublik angesehen wurde, ein fremdes Land. Wir fuhren und fuhren und schwiegen die meiste Zeit. Wir hörten Radio (Klassiksender, später Deutschlandfunk) und zwei Hörspiele (die Sherlock-Holmes-Geschichte Eine Studie in Scharlachrot und Poes Der Untergang des Hauses Usher), die ich eigens für die Fahrt von CD auf Kassette überspielt hatte. Neben der Schweigsamkeit und dem Fahren bei gleichförmigem Tempo durch gleichförmige Landschaften lullte mich die aufziehende Erkältung ein. Irgendwann hielt mein Vater mir aus dem Nichts einen Vortrag, der sich mir tief ins Gedächtnis grub, vermutlich, weil er so gut zu meiner neuen Ausrichtung als Erforscher der Finsternis passte. Er erklärte mir, dass es in Bezug auf Wissen drei Arten von Menschen gebe, wobei sich natürlich in jede Art etwas von den anderen mischen könne. Der erste Menschenschlag interessiere sich für Wissen nur, wenn es seinen Zwecken nutze, und habe auch kein Problem damit, sich die Dinge so zurechtzubiegen, wie es den eigenen Bedürfnissen entspreche. Dem zweiten Menschenschlag fehle diese rücksichtslose Entschlossenheit, aber ebenso die Energie, sich für Zusammenhänge und Hintergründe zu interessieren. Dieser Typus wolle vor allem seine Ruhe haben, dabei aber vor sich und anderen als durchaus interessiert und verantwortungsbewusst dastehen. Daher orientiere er sich an den Meinungen der Mehrheit, die wiederum auf anerkannte Experten höre, sofern es ihr nachvollziehbar und genehm sei. Der dritte Menschenschlag interessiere sich mehr für das Wissen als für sich selbst. Etwas wirklich zu verstehen sei ihm tiefster Antrieb, ein Streben, in dem der Wunsch aufschimmere, sich selbst durch das Eingehen in etwas Größeres zu überwinden. Solchen Menschen gehe es nicht darum, recht zu bekommen oder Macht-, Geld- und Anerkennungsgelüste zu befriedigen, vielmehr verschaffe ihnen das Wissen selbst die größte Lust. Allerdings müsse auch der wirklich Wissbegierige darauf achten, dass sich seiner Absicht, die Erkenntnis zu mehren, nicht doch andere Absichten beigesellten, unter denen die Eitelkeit die häufigste und heimtückischste sei. Ich solle es mir so vorstellen: Man müsse still werden wie ein Bergsee, in dessen glatter Oberfläche sich umso besser der Himmel spiegele, je weniger Bewegung im Wasser sei.

Ich fand mich ganz versunken in Gedanken über die Worte meines Vaters, als wir uns dem Ziel allmählich näherten: Die Sonne schien aus frühlingsblauem Himmel auf eine Landschaft, der ich die Meeresnähe anzusehen glaubte, und überzog die Gegend mit einem ganz eigenen Glanz, in dem Büsche und Bäume wie fein ziselierte Messingarbeiten wirkten. Der Himmel, die Wiesen, die Felder und die Dörfer mit ihren buckligen Kopfsteinpflastern, Storchennestern und Kirchtürmen entrückten mich in ein Mittelalter, ein Sagenland, kein unpassendes Umfeld für einen wie mich, und während ich mich fragte, was diese Umgebung mit mir und aus mir machen würde, vergaß ich meine anschwellende Erkältung und den Ärger darüber, dass mein Vater ohne Rücksicht darauf Pfeife rauchte.

Als wir Schwanhagen etwa eine halbe Stunde später erreichten, schlug das Wetter um. Über dem Ort mit seinen wenigen Straßenzügen und einigen wahllos in die Wiesen gewürfelten Häusern trieben jetzt schwarze Wolken durch einen dunkelblau-violetten Himmel. Die Internatsgebäude, die ich vom Parkplatz aus sah, erschienen mir in diesem plötzlich veränderten Licht wie die letzte Zuflucht nach einer Endzeit: Ringsherum ist alles wüst und leer, liegen verwaiste Felder, stehen uralte Jagdsitze, verkrüppelte Weiden, Totendörfer, Ruinen, die als riesige Grabmale den Strand überschatten. Die letzten Überlebenden hausen in den Bauten, die den rechteckigen Platz einschließen, auf dem ich klein und matt stehe: geradeaus das ehemalige Gutshaus mit dem Turm einer Sternwarte (wie mein Vater wusste), links fünf kastenförmige, dreistöckige Neubauten, rechts das sogenannte Gesindehaus aus rotem Backstein und renovierte Stallungen.

Ich weiß nicht, wie ich mir das Internat vorgestellt hatte, aber sicher anders, vor allen Dingen weniger entlegen. Als ich wenige Minuten später bei Keksen und Kakao in einem typischen Schulbüro saß, zu dem wir durch typische Schulkorridore gelangt waren - Selbstgemaltes, Klassenfotos auf bunten Pappen, maschinengetippte Aushänge -, fühlte ich mich wieder auf vertrautem Terrain und gleichzeitig - aufgrund des abrupten Szenenwechsels und eines zunehmend dumpfen Schädels - wie weggetreten. Zähe Masse verklebte meine Atemwege und trübte meine Wahrnehmung, ich interessierte mich kaum für die Schule und die freundliche Frau mit den rot gefärbten Haaren und dem bunten Halstuch, die enthusiastisch auf mich und meinen Vater einredete. Ich bemerkte seine Gereiztheit (Wieso stellt der Junge keine Fragen? Wieso zeigt er kein Interesse? Und warum präsentiert man ihm ausgerechnet diese Frau, die keine gute Werbung für ihre Schule ist?), aber was sollte ich gegen meine Willenlosigkeit und das Gerede der Lehrerin tun?

Ich wurde durch die Anlage geführt und fühlte mich derart unter Druck gesetzt, begeistert oder zumindest interessiert zu wirken, dass ich kaum etwas mitbekam. Schau doch mal, wie freundlich der Speisesaal aussieht! Wie nah das Meer ist! Was es für tolle Werkstätten gibt! Ach, und erst der Fußball- und der Grillplatz! Ist das etwa nichts? Das ist doch etwas! So klein sind die Zweier-Zimmer gar nicht!

Das Areal wirkte auf unserem Rundgang sonderbar leer, so als wäre es eigentlich unbewohnt und eigens für mich vorübergehend mit ein paar jugendlichen und erwachsenen Darstellern bevölkert, die lieb lächelnd und aufmerksam schauend unseren Weg kreuzten und dabei sanft wie Rehe blickten. Nicht nur ich schien in Watte gepackt, sondern auch das Gelände und alle, die darin wandelten.

Aus meiner Halb-Trance tauchte ich erst auf, als die rothaarige Lehrerin - Frau Kastner - auf dem Weg zurück ins Hauptgebäude auf die Wielands zu sprechen kam, das Ehepaar, das diese Schule gegründet hatte und das nun mit mehreren Jugendlichen in dem ehemaligen Gesindehaus aus rotem Backstein lebte. Ich weiß nicht mehr, was genau sie sagte, aber in ihrer Stimme schwang etwas mit, das mich neugierig machte. Gerne hätte ich endlich das freiheitsliebende Paar gesehen, über das ich nach Frau Schallmeyers Andeutungen bereits allerlei, wenn auch verschwommene Vorstellungen entwickelte hatte: die Wielands, Herz, Kopf und Seele der Freien Schule Schwanhagen. Aber «leider, leider» befanden sich die beiden mit «ihrer Familie» auf einem Ausflug. Dabei hätten sie mich laut Frau Kastner doch so gerne kennengelernt. Mein Vater runzelte die Stirn. Vermutlich hätte er den Schulleiter und seine Frau auch gerne kennengelernt, nachdem er mich fast sieben Stunden durch die Republik kutschiert hatte.

«Es tut mir wirklich leid», sagte Frau Kastner. «Hier ist immer so viel los, da kann es schon einmal zu einem Missverständnis kommen.»

«Schon gut», sagte mein Vater und zog seine Pfeife aus der Jackettasche. «Wir fahren heute sicher nicht noch einmal über 600 Kilometer. Wir übernachten in der Nähe und kommen morgen Vormittag wieder.»

«Ah», sagte Frau Kastner verlegen. «Dann wird es sicher klappen.» Dabei klang das «sicher» aus ihrem Mund reichlich unsicher, und ich bemerkte, dass mein Vater kurz davor stand, laut zu werden.

«War das hier eigentlich schon immer eine Schule?», fragte ich schnell und ohne dass es mich interessiert hätte.

Mein Vater und Frau Kastner sahen mich an. Dann sagte die Lehrerin: «Nein. Ganz früher war es ein Gutshof, das ist so eine Art Bauernhof mit einem adeligen Besitzer, weißt du?»

Ich nickte brav.

«Dann hat hier ein reicher Kaufmann gewohnt. Ich glaube, er hatte etwas mit Wertheim in Stralsund zu tun, also diesem Kaufhaus-Konzern, der heute Karstadt gehört. Karstadt kennst du sicher.»

Ich nickte wieder.

«Ich weiß jetzt aber nicht, ob er selbst ein Wertheim war. Vermutlich nutzte er die Gebäude nur als Sommerresidenz, also als Haus für die Ferien. Tja und dann ...»

«Kamen die Nazis», unterbrach ich. Das war zwar neunmalklug, aber ich hatte keine Lust darauf, die Geschichte in kindgerechter Sprache vorgesetzt zu bekommen.

«Genau. Die haben dem Kaufmann den Gutshof abgenommen.»

«Und was haben sie damit gemacht?», fragte ich, nun doch interessiert. Die Lehrerin sah ratlos aus.

«Vermutlich haben sie ihn auch als Sommerresidenz genutzt.»

«Auch Nazis brauchten mal Ferien», sagte mein Vater.

«Und dann kam die Rote Armee, also russische Soldaten», fuhr Frau Kastner unbeirrt fort. «Die haben die Nazis vertrieben, und später, ich glaube, da war das hier schon DDR, also später war dann hier ein Kinderheim. Das musste geschlossen werden. Ich weiß jetzt gerade nicht, wieso. Ein...
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Autor

Anselm Neft (geb. 1973 in Bonn) hat in Bonn Vergleichende Religionswissenschaft, Vor- und Frühgeschichte, Volkskunde und Philosophie studiert. 1999 bis 2001 trat er für zwei Jahre als Schalmeibläser und Herold mit der Mittelalter-Rockband Schelmish auf und tourte durch Deutschland. Nach Jobs als Tellerwäscher, Unternehmensberater und Deutschlehrer hat er lange Jahre Satiren u.a. für WELT, Tagesspiegel, taz und Titanic verfasst und ist bei diversen Lesebühnen und Slams aufgetreten. Neft lebt seit 2016 in Hamburg. Er ist Mitglied der Lesebühne "Liebe für alle" mit Piero Maszterlerz, Katrin Seddig und Ella-Carina Werner. Auf Einladung von Nora Gomringer liest er bei den Klagenfurter Tagen der deutschsprachigen Literatur 2018.