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Die Karte der zerbrochenen Träume

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
448 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am20.05.2019
Ein Roman, der in der Hoffnungslosigkeit von Krieg und Flucht das Leben feiert
Sommer 2011. Nour ist als Kind syrischer Einwanderer in New York geboren. Als ihr Vater stirbt, beschließt Nours Mutter, in ihre Heimat Syrien zurückzugehen. Doch das Syrien, das Nours Eltern noch kannten, gibt es nicht mehr. Schon bald erreicht der Krieg auch das ruhige Stadtviertel von Homs, in dem die Familie lebt. Als ihr Haus von einer Granate zerstört wird, fällt die Entscheidung, das Land zu verlassen. Ziel ist Spanien, und der Weg wird die Familie durch Jordanien, Ägypten, Libyen, Algerien und Marokko führen. Auf der Suche nach Trost und Ablenkung erzählt sich Nour während der Flucht die Fabel von Rawiya, einer jungen Abenteurerin, die sich im 12. Jahrhundert dem berühmten Kartografen al-Idrisi anschließt, um die Kunst des Kartenzeichnens zu erlernen. Viele Orte, die Rawiya durchreist, liegen auf der Route von Nour und ihrer Familie. Damals wie heute lauert Gefahr. Bis Nours Mutter vor einer Entscheidung steht, die die Familie für immer auseinanderreißen könnte.

Zeyn Joukhadar wurde als Kind einer christlichen Mutter und eines muslimischen Vaters in New York geboren. Er hat Pathobiologie studiert und in der biomedizinischen Forschung gearbeitet, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. »Die Karte der zerbrochenen Träume« ist sein erster Roman. Zeyn Joukhadar ist Mitglied bei RAWI (Radius of Arab American Writers) und lebt heute in Pennsylvania.
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Produkt

KlappentextEin Roman, der in der Hoffnungslosigkeit von Krieg und Flucht das Leben feiert
Sommer 2011. Nour ist als Kind syrischer Einwanderer in New York geboren. Als ihr Vater stirbt, beschließt Nours Mutter, in ihre Heimat Syrien zurückzugehen. Doch das Syrien, das Nours Eltern noch kannten, gibt es nicht mehr. Schon bald erreicht der Krieg auch das ruhige Stadtviertel von Homs, in dem die Familie lebt. Als ihr Haus von einer Granate zerstört wird, fällt die Entscheidung, das Land zu verlassen. Ziel ist Spanien, und der Weg wird die Familie durch Jordanien, Ägypten, Libyen, Algerien und Marokko führen. Auf der Suche nach Trost und Ablenkung erzählt sich Nour während der Flucht die Fabel von Rawiya, einer jungen Abenteurerin, die sich im 12. Jahrhundert dem berühmten Kartografen al-Idrisi anschließt, um die Kunst des Kartenzeichnens zu erlernen. Viele Orte, die Rawiya durchreist, liegen auf der Route von Nour und ihrer Familie. Damals wie heute lauert Gefahr. Bis Nours Mutter vor einer Entscheidung steht, die die Familie für immer auseinanderreißen könnte.

Zeyn Joukhadar wurde als Kind einer christlichen Mutter und eines muslimischen Vaters in New York geboren. Er hat Pathobiologie studiert und in der biomedizinischen Forschung gearbeitet, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. »Die Karte der zerbrochenen Träume« ist sein erster Roman. Zeyn Joukhadar ist Mitglied bei RAWI (Radius of Arab American Writers) und lebt heute in Pennsylvania.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641217341
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum20.05.2019
Seiten448 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2822 Kbytes
Artikel-Nr.4212908
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Die Erde und der Feigenbaum

Die Insel Manhattan ist voller Löcher, und in einem davon schläft Baba. Als ich ihm Gute Nacht sagte, war er ein schweres, schlaffes weißes Bündel, und das Loch, das sie für ihn gegraben hatten, war furchtbar tief. Und auch in mir war ein Loch, und in dem verschwand meine Stimme. Sie verschwand zusammen mit Baba, ganz tief im weißen Gebein der Erde, und jetzt ist sie fort. Meine Worte versanken wie Samen, meine Vokale und der rote Raum für Geschichten zerfielen unter meiner Zunge.

Ich glaube, auch Mama hat ihre Stimme verloren, denn statt zu sprechen, durchnässte sie mit ihren Tränen unsere ganze Wohnung. Im Winter fand ich überall Salz: unter den Spulen der elektrischen Kochplatten, zwischen meinen Schnürsenkeln und an den Umschlägen mit den Rechnungen, auf den Schalen der Granatäpfel in der Obstschüssel mit dem Goldrand. Wenn Anrufe aus Syrien kamen, kratzte Mama Salz von der Telefonschnur, während sie sich bemühte, sie zu entwirren.

Bevor Baba starb, rief praktisch nie jemand aus Syrien an, wir bekamen nur E-Mails. Aber in einem Notfall, meinte Mama, müsse man eine menschliche Stimme hören.

Offenbar sprach die Stimme, die Mama geblieben war, nur Arabisch. Selbst als die Frauen aus der Nachbarschaft Geschirr mit Essen und weiße Nelken brachten, blieb Mama stumm. Warum wohl haben die Menschen nur eine einzige Sprache für ihre Trauer?

In diesem Winter hörte ich Abu Saids honiggelbe Stimme zum ersten Mal. Huda und ich saßen manchmal vor der Küche und lauschten. Hudas aschbraune Locken, die sie an den Türpfosten drückte, sahen dabei aus wie Garnrollen. Huda konnte nicht wie ich die Farbe seiner Stimme sehen, aber wir wussten beide, dass es Abu Said war, der anrief, weil Mamas Stimme in Fahrt zu kommen schien, so als sei jedes Wort, das sie jemals auf Englisch gesagt hatte, nur ein Schatten seiner selbst. Huda kapierte es noch vor mir: Abu Said und Baba waren zwei Knoten im selben Faden, dessen Ende Mama aus den Fingern zu gleiten drohte.

Mama erzählte Abu Said alles, worüber meine Schwestern schon seit Wochen tuschelten: die ungeöffneten Stromrechnungen, die Landkarten, die sich nicht verkauften, die letzte Brücke, die Baba gebaut hatte, bevor er krank wurde. Abu Said sagte, er kenne Leute an der Universität in Homs, er könne Mama helfen, ihre Karten zu verkaufen. Gäbe es einen besseren Ort, um drei Töchter großzuziehen, als das Land ihrer Großeltern?, fragte er.

Auf den Flugtickets nach Syrien, die Mama uns zeigte, war das o in Nour, meinem Namen, ein durchscheinender Salzfleck. Meine älteren Schwestern lagen ihr wegen der Unruhen in Dara´a in den Ohren, von denen wir in den Nachrichten gehört hatten. Sie sollten nicht albern sein, erwiderte Mama, Dara´a liege so weit südlich von Homs wie Baltimore von Manhattan. Und Mama musste es wissen, denn sie verdiente ihr Geld mit Landkarten. Mama war überzeugt davon, dass die Lage sich beruhigen würde und dass Syrien durch die Reformen, die die Regierung versprochen hatte, wieder Hoffnung schöpfen und aufblühen würde. Und auch wenn ich eigentlich nicht wegwollte, freute ich mich darauf, Abu Said kennenzulernen und Mama wieder lächeln zu sehen.

Ich kannte Abu Said nur von Papas Polaroidfotos, die in den Siebzigern entstanden waren, bevor er Syrien verlassen hatte. Abu Said trug darauf einen Schnurrbart und ein orangefarbenes T-Shirt und lachte jemanden an, der nicht auf dem Foto war, während Baba direkt hinter ihm stand. Baba bezeichnete Abu Said nie als seinen Bruder, aber ich wusste, dass er es war, denn er war immer überall dabei: beim abendlichen Fastenbrechen im Ramadan, beim Kartenspiel mit meiner Oma, grinsend am Tisch des Kaffeehauses. Babas Familie hatte ihn aufgenommen, ihn zu einem der ihren gemacht.

Als der Frühling kam und die Rosskastanien unter unserem Fenster weiße Blüten bekamen, die wie dicke Brocken Steinsalz aussahen, verließen wir unsere Wohnung in Manhattan mit ihren tränenverkrusteten Granatäpfeln. Die Räder des Flugzeugs hoben vom Boden ab wie Vogelbeine, und ich blinzelte aus dem Fenster und sah einen schmalen Streifen der Stadt, in der ich volle zwölf Jahre gelebt hatte, und die grüne Mulde des Central Park. Ich hielt Ausschau nach Baba, aber die Stadt lag schon so tief unter uns, dass ich die Löcher nicht mehr sehen konnte.

Mama hat einmal gesagt, die Stadt sei eine Landkarte all der Menschen, die in ihr lebten und starben, und Baba hat gesagt, jede Landkarte sei in Wahrheit eine Geschichte. So war Baba. Die Leute bezahlten ihn für die Planung von Brücken, aber seine Geschichten erzählte er umsonst. Wenn Mama eine Landkarte und eine Kompassrose malte, zeigte Baba auf die unsichtbaren Meeresungeheuer, die jenseits der Kartenränder lauerten.

In dem Winter, bevor Baba unter die Erde ging, ließ er keine einzige Gutenachtgeschichte aus. Manche seiner Erzählungen waren kurz, wie die von dem Feigenbaum, der im Hinterhof wuchs, als Baba noch ein kleiner Junge in Syrien war, andere so verwickelt und unglaublich, dass ich Abend für Abend ungeduldig auf die Fortsetzung wartete. Meine Lieblingsgeschichte, die über den Lehrling des Kartografen, dehnte er über zwei komplette Monate hin. Mama hörte von der Tür aus zu, und wenn Baba heiser wurde, brachte sie ihm ein Glas Wasser. Als er seine Stimme verlor, erzählte ich zu Ende. So wurde es unsere Geschichte.

Mama sagte oft, die Geschichten seien Babas Art, den Dingen einen Sinn zu geben. Er müsse die Knoten der Welt entwirren, sagte sie. Nun, neuntausend Meter über ihm, versuche ich, den Knoten zu entwirren, den er in mir hinterlassen hat. Einmal meinte er, dass irgendwann ich es sein würde, die ihm unsere Geschichte erzählte, aber meine Wörter sind ein wildes Land, für das ich keine Karte habe.

Ich presse mein Gesicht gegen das Flugzeugfenster. Unter uns sieht die durchlöcherte Insel Manhattan aus wie ein Spitzendeckchen. Ich halte Ausschau nach dem Loch, in dem Baba schläft, und versuche, mich an den Anfang der Geschichte zu erinnern. Meine Wörter stürzen durch die Scheibe und hinunter auf die Erde.

Der August in Homs ist heiß und trocken. Seit drei Monaten sind wir in Syrien, und Mama hinterlässt ihre Tränen nun nicht mehr auf den Granatäpfeln. Sie hinterlässt überhaupt nirgends mehr Tränen.

Wie jeden Tag suche ich auch heute nach dem Salz, in dem ich meine Stimme gelassen habe - in der Erde. Ich gehe hinaus zu dem Feigenbaum in Mamas Garten, der voller Früchte hängt. Genauso habe ich mir den in Babas Hinterhof vorgestellt. Ich drücke meine Nase an die Wurzeln und atme ein. Ich liege auf dem Bauch, die Finger bis zu den Knöcheln in der rötlichen Erde. Heiße Steine drücken gegen meine Rippen. Ich will, dass der Feigenbaum eine Geschichte zu Baba am anderen Ende des Meeres trägt. Angestrengt flüstere ich, und meine Oberlippe streift dabei die Wurzeln. Ich schmecke purpurfarbene Luft und Öl.

Ein gelber Vogel pickt auf dem Boden nach Würmern. Doch das Meer ist schon vor langer Zeit ausgetrocknet, wenn es überhaupt je hier war. Liegt Baba noch da, wo wir ihn zurückgelassen haben, braun und starr und trocken wie Feuerholz? Wenn ich zurückkehrte, kämen mir dann die vielen Tränen, die damals hätten kommen sollen? Oder ist das Meer in mir für immer ausgetrocknet?

Ich reibe Wassergeruch aus der Rinde des Feigenbaums. Ich werde Baba unsere Geschichte erzählen, und vielleicht finde ich dann zu dem Ort zurück, an dem meine Stimme ist, und dann werden Baba und ich nicht mehr so allein sein. Ich bitte den Baum, meine Geschichte mit seinen Wurzeln aufzunehmen und dorthin zu schicken, wo es dunkel ist, wo Baba schläft.

»Sorg dafür, dass er sie bekommt«, sage ich. »Unsere Lieblingsgeschichte, die von Rawiya und al-Idrisi. Die Geschichte, die Baba mir Abend für Abend erzählt hat. Die, in der sie eine Karte von der ganzen Welt zeichnen.«

Aber die Erde und der Feigenbaum kennen die Geschichte nicht so gut wie ich, also erzähle ich sie ihnen noch einmal. Ich fange genau so an wie Baba immer: »Alle kennen Rawiyas Geschichte«, flüstere ich. »Sie wissen nur nicht, dass sie sie kennen.« Und dann sind die Worte plötzlich wieder da, als hätten sie mich nie verlassen, als wäre schon immer ich es gewesen, die die Geschichte erzählt.

Drinnen klappern Huda und Mama mit Holzschüsseln und Porzellan. Ich habe das Festessen für Abu Said heute Abend ganz vergessen. Vielleicht kann ich die Geschichte nicht zu Ende erzählen, bevor Mama mich zum Helfen reinruft, mit einer Stimme, die ganz rote Ränder hat.

Ich presse meine Nase in die Erde und verspreche dem Feigenbaum, dass ich es schon irgendwie schaffen werde, meine Geschichte zu beenden. »Wo auch immer ich bin«, sage ich, »ich übergebe sie der Erde und dem Wasser. So wird sie Baba erreichen und dich auch.«

Ich stelle mir vor, wie die Schwingungen meiner Stimme Tausende von Meilen überwinden, die Erdkruste aufbrechen, sich zwischen den tektonischen Platten, von denen letzten Winter im Naturkundeunterricht die Rede war, ins Dunkle graben, wo alles schläft, wo die Welt in allen Farben gleichzeitig leuchtet, wo niemand stirbt.

Ich fange noch einmal von vorne an.

ï ï ï

Alle kennen Rawiyas Geschichte. Sie wissen nur nicht, dass sie sie kennen.

Es war einmal ein Mädchen namens Rawiya, die Tochter einer Witwe, die so arm war, dass die Familie langsam, aber sicher verhungerte. Sie wohnten in Benzú, einer am Meer gelegenen Siedlung in Ceuta - heute eine zu Spanien gehörende Stadt, ein winziges Territorium auf einer afrikanischen Halbinsel, die in die Straße von Gibraltar hineinragt.

Rawiya träumte davon, die Welt zu sehen, doch sie und ihre Mutter konnten sich kaum Couscous leisten,...

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Autor

Zeyn Joukhadar wurde als Kind einer christlichen Mutter und eines muslimischen Vaters in New York geboren. Er hat Pathobiologie studiert und in der biomedizinischen Forschung gearbeitet, bevor er sich dem Schreiben zuwandte. »Die Karte der zerbrochenen Träume« ist sein erster Roman. Zeyn Joukhadar ist Mitglied bei RAWI (Radius of Arab American Writers) und lebt heute in Pennsylvania.