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Die warme Stube der Kindheit (eBook)

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
200 Seiten
Deutsch
ars vivendi Verlagerschienen am28.03.2019
'Eine Stunde hat viele Gesichter, und ein einziger Tag unglaublich viele Jahre.' - Helmut Haberkamm ruft Erinnerungen an vergangene Zeiten wach, an alte, beinahe in Vergessenheit geratene Redewendungen und Wörter, auch, 'mit langen, staubbraunen Schatten, mit Wärme und Licht'. Ebenso einfühlsam wie kritisch erzählt er von den Wunden, die das letzte Jahrhundert in den Familien und in der Gesellschaft hinterlassen hat. Die Geschichten seiner Figuren handeln von Schicksalsschlägen und Ausgrenzung, aber auch von den hellen Momenten, die das Leben immer wieder bereithält. Und wenn Haberkamms Erzählungen in Franken angesiedelt sind und seine Sprache auf unvergleichbare Art vom Mündlichen, dem Fränkischen, gefärbt ist, so wird doch klar, dass er auf kleinem Raum von der ganzen Welt spricht - und von dem, was uns als Menschen ausmacht. Ein echtes Lese-Highlight!

Helmut Haberkamm, 1961 in Dachsbach geboren, zählt zu den bekanntesten und vielseitigsten fränkischen Schriftstellern. Er ist promovierter Germanist, Anglist und Amerikanist und als Mundartdichter, Theater- und Romanautor sowie als Betexter von Bäckereitüten und Kunstfotografien tätig. Außerdem ist er Initiator des Mundartfestivals Ezerdla. Bei ars vivendi erschienen zuletzt der Gedichtband 'Englische Grüß' (2017) sowie das literarische Sachbuch 'Kleine Sammlung fränkischer Dörfer' (2018).
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR19,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR14,99

Produkt

Klappentext'Eine Stunde hat viele Gesichter, und ein einziger Tag unglaublich viele Jahre.' - Helmut Haberkamm ruft Erinnerungen an vergangene Zeiten wach, an alte, beinahe in Vergessenheit geratene Redewendungen und Wörter, auch, 'mit langen, staubbraunen Schatten, mit Wärme und Licht'. Ebenso einfühlsam wie kritisch erzählt er von den Wunden, die das letzte Jahrhundert in den Familien und in der Gesellschaft hinterlassen hat. Die Geschichten seiner Figuren handeln von Schicksalsschlägen und Ausgrenzung, aber auch von den hellen Momenten, die das Leben immer wieder bereithält. Und wenn Haberkamms Erzählungen in Franken angesiedelt sind und seine Sprache auf unvergleichbare Art vom Mündlichen, dem Fränkischen, gefärbt ist, so wird doch klar, dass er auf kleinem Raum von der ganzen Welt spricht - und von dem, was uns als Menschen ausmacht. Ein echtes Lese-Highlight!

Helmut Haberkamm, 1961 in Dachsbach geboren, zählt zu den bekanntesten und vielseitigsten fränkischen Schriftstellern. Er ist promovierter Germanist, Anglist und Amerikanist und als Mundartdichter, Theater- und Romanautor sowie als Betexter von Bäckereitüten und Kunstfotografien tätig. Außerdem ist er Initiator des Mundartfestivals Ezerdla. Bei ars vivendi erschienen zuletzt der Gedichtband 'Englische Grüß' (2017) sowie das literarische Sachbuch 'Kleine Sammlung fränkischer Dörfer' (2018).
Details
Weitere ISBN/GTIN9783747200537
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum28.03.2019
Seiten200 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1263 Kbytes
Artikel-Nr.4276707
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


 

Ein Tag mit so vielen Jahren

»Weinst du, weil du heute was verloren hast?« Als Ernst seiner Frau Hannelore diese Frage stellte, war sie für einen Augenblick perplex. Es war der Tag, an dem ihre Tochter Elke heiratete, und Hannelore hatte Tränen in den Augen. Ernst freute sich überschwänglich mit seiner Tochter, machte Scherze und Grimassen, lachte laut auf und schlug Bernd, seinem gutmütigen Schwiegersohn, kameradschaftlich auf die Schulter, als würde er einen Teppich ausklopfen. Hannelore fiel ein Satz ihrer Mutter wieder ein, den sie schon beinahe vergessen hatte: »Wenn die Tochter heiratet, weint die Mutter.« Erst jetzt spürte sie, wie wahr dieser Spruch eigentlich ist.

Auf den Tischen standen halbgeleerte Kuchenplatten und benutzte Porzellantassen herum, dazwischen verschmierte Sektgläser, Tortenreste und Kannen mit abgestandenem Kaffee. Die Bedienungen hatten schon begonnen, die Tische abzuräumen und alles für das Abendessen vorzubereiten. Hannelore verließ die Hochzeitsgesellschaft, um sich etwas die Beine zu vertreten und ein paar Minuten ganz für sich zu haben, ohne Trubel und Geplauder. Ihr Mann saß bei seiner Verwandtschaft, die er schon lange nicht mehr gesprochen hatte. Die jungen Leute waren aufgebrochen zu ihren Freunden in entfernten Kneipen und Biergärten. Die entscheidenden Fotos waren alle im Kasten und der Alleinunterhalter noch nicht aufgetaucht. Hannelore schlenderte scheinbar ziellos hinunter zum Fluss, wo es Rasenflächen und gepflasterte Wege gab mit Holzbänken und einem Spielplatz. Obwohl dort viele neue Geräte und abenteuerliche Aufbauten zu sehen waren hinter dem makellosen Metallzaun, war weit und breit kein Kind zu sehen, auch keine Mutter mit einem Kinderwagen, ebenso wenig irgendwelche Rentner oder Spaziergänger. Ein Samstagnachmittag, an dem Fußballreportagen, Hausputz und Baustellen wichtiger waren als alles andere.

Mit einem Seufzer der Erleichterung setzte sich Hannelore auf die massive Holzbank und spürte mit einem Mal, wie schwer und müde ihr Körper sich anfühlte. Sie war unsagbar froh, dem Stimmengewirr, Gewusel und Geflatter der Hochzeitsgesellschaft entkommen zu sein, um sich etwas erholen und sammeln zu können. Dennoch fühlte sie einen kühlen Schatten, der sie wehmütig und einsam machte. Sie war weder unglücklich noch trübsinnig, sondern nur von einer unnennbaren Traurigkeit erfüllt, die in ihr ruhte wie das Wasser im Bergsee. Hannelore wusste selbst nicht so genau, warum sie »der schönste Tag im Leben unserer Tochter«, wie ihr Mann ihn seit Wochen nur noch nannte, so traurig machte. Eigentlich gibt es tausend Gründe, froh und dankbar zu sein, das wusste sie sehr gut.

Momente ihres Lebens kamen ihr schlagartig ins Gedächtnis, und merkwürdige Gedanken tauchten dazu auf, wie vermummte Fremde. Elke ist nicht ins Wasser gefallen und ertrunken damals. Kein Weiher und kein See, weder Fluss noch Meer hatten ihr ein Leid zugefügt. Selbst damals, als Elke von der Strömung hinausgetrieben wurde weit weg vom Strand, als Ernst und Hannelore am Ufer standen und schrien, kam Rettung herbeigeeilt, und alles war gut. Wahrscheinlich wusste Elke heute gar nichts mehr von diesem Moment des Schreckens, der Hannelore vor Angst zittern und schluchzen ließ.

Nein, Elke war behütet geblieben. Keine Krankheit, kein Fieber, keine Ansteckung konnten ihr etwas anhaben. Kein Herzfehler, kein Hirndefekt, kein Krebs riss sie aus diesem Leben weg. Sie lebte. Eine schöne, fröhliche junge Frau, die beherzt ihren Weg gehen konnte. Sie starb durch keinen Unfall, kein Unglücksfahrer brachte ihr einen plötzlichen Tod, kein Flugzeugabsturz, kein Schiffsuntergang, kein Ausrutscher im Gebirge. Sie starb nicht durch eigene Hand, nicht mit Schlaftabletten, einem Kabel, einem letzten Schnitt oder Schritt, nur um fortzukommen aus einem trostlosen, erdrückenden Dasein. Wie viel Gottvertrauen man für dieses Leben brauchte! Blind und ergeben musste man darauf bauen, dass nichts Böses passieren würde. Wie junge Schildkröten, die ausschlüpfen und im Mondlicht über den Strand kriechen ins offene Meer, allen Feinden und Gefahren schutzlos ausgeliefert, gefeit gegen Furcht und Feigheit und gewappnet mit grenzenloser Zuversicht.

Hannelore dachte an die Tage des Stillens, Fütterns und Wickelns, die Jahre des Kümmerns und Unterstützens. So viel Arbeit und Vorsorge, Unruhe und Kopfzerbrechen! Wie gefährdet so ein Kind war! Wie zart und empfindlich alles, der Kopf, die Haut, die Haare, die Finger und Füße! Dieser milchwarme Geruch im Nacken, bei den feinen Härchen! Hannelore kamen ihre unsinnigen Ängste wieder in den Sinn, die sie damals empfunden hatte. Dass ein Raubvogel kommen und die kleine Elke packen und forttragen könnte. Dass ein Lastwagen sie erfassen und totfahren könnte. Dass ein Verbrecher ihr auflauern und Gewalt antun könnte. Solche Meldungen in der Zeitung oder im Fernsehen brachten sie damals nicht selten um ihre Ruhe und ihren Schlaf. Jahrelang konnte sie keine Krimis und Aktenzeichen XY-Sendungen mehr sehen. Warum brauchen wir noch so viel Furchtbares, wo sowieso schon so viel Schreckliches geschieht in der Welt?

Ungeheuer viel Schlimmes war Gott sei Dank niemals geschehen. Was sich ereignete, war immer gut ausgegangen. Hannelore saß auf der Bank und Tränen liefen ihr über die Wangen. Weinte sie aus Dankbarkeit? Aus Schwermut? Aus Freude oder Mutterliebe? Waren es Tränen des Glücks und des Mitgefühls? Sie brauchte einige Zeit, bis sie ihre Gedanken geordnet hatte und wusste, was ihr Herz bedrückte. Es waren alte Tränen, und sie brachten einen tiefen Schmerz aus den fernen Tagen ihrer Jugend.

Josef war katholisch gewesen. Das war das Unglück ihres Lebens. Er war ein Bauer aus Leidenschaft gewesen, tüchtig und fleißig. Werkzeugmacher hatte er gelernt, die Landwirtschaftsschule besucht, Kurse gemacht über Milchkeime, Pflanzenschutz und Kunstdünger, Vollernter und Häcksler. Er wollte einen neuen Stall bauen, einen größeren Schlepper anschaffen, dazu Ladewagen und Mähdrescher. Sich vergrößern in den Sechzigerjahren, als man für Vieh und Milch, Getreide und Feldfrüchte noch gutes Geld bekam und der Bauer noch nicht am Tropf der Industrie und Politik hing, noch nicht an der Kette der Banken und Bürokraten. Hannelore hätte schon eine Bäuerin gegeben, das Zeug dazu hatte sie, und sie hätte auch eine gemacht. Ihren Eltern wäre es recht gewesen, sie hatten ja selbst einen kleinen Hof mit ein paar Kühen, Schweinen und Geflügel. Aber Josef war katholisch, aus einem Dorf in den »heiligen Landen«, wie man das Gebiet nannte, wo der Krummstab herrschte mit Weihrauch, Beichtstuhl und Rosenkranz.

»Wenn du uns einen Katholischen bringst, brauchst du dich gar nimmer blicken lassen«, hatte ihre Mutter gesagt. Ihr Vater war zurückhaltender gewesen, aber genauso unmissverständlich: »Das hat doch keinen Zusammenstand, eine Evangelische und ein Katholischer. Da wirst du deines Lebens nicht mehr froh. Das musst du doch einsehn, Hannelore. Du machst uns alle bloß unglücklich.« Damals war sie drauf und dran gewesen, sich von Josef einfach schwängern zu lassen. Dann wäre die Sache entschieden gewesen. Ein Kind wenn erst mal da wäre, würde sich alles schon einrenken und von selbst ergeben. Hannelore kannte ja ihre Eltern: raue Schale, weiches Herz, vor allem bei Neugeborenen. So ein Kind würde erst die Ehe stiften und dann den Familienfrieden bringen. Auch wenn sich ihre Eltern abgrundtief schämen würden vor den Nachbarn und Verwandten, und natürlich vor dem Herrn Pfarrer.

Bei Josef daheim hatte es das gleiche Theater gegeben. »Wenn du uns eine Lutherische bringst, kannst du stiften gehen«, donnerte sein Vater. »Da brauchst du mir nimmer ins Haus kommen! Dann hast du hier nix mehr zu suchen und zu erben!« Auch seine Mutter machte einen Heiden­zirkus deswegen. »Das wär ja noch schöner! Ein anständiges Mädchen schminkt sich nicht und lackiert sich auch keine Fingernägel«, schimpfte sie. »Wenn eine Zigaretten raucht und ihr ganzes Geld für Frisuren und Kleidung ausgibt, dann taugt sie nichts!« Josef konnte erwidern, was er wollte, er richtete nichts aus. Dass Hannelore weder rauchte noch etwas für Mode übrighatte, dass sie ihre Augen, Lippen, Hände und Haare so beließ, wie sie von Natur aus waren, das spielte alles keine Rolle, das wollte niemand hören, denn sie war ja eine Lutherische und damit »gottlos und verdorben in alle Ewigkeit«.

Das waren die Worte des katholischen Pfarrers gewesen, der von der Kanzel herunter gegen »die ketzerischen Protestanten und ungläubigen Rattenfänger« wetterte. Das hinderte ihn freilich nicht daran, auf Kirchweihen und Jubelfesten mit evangelischen Honoratioren anzustoßen und alle paar Wochen mit seinen lutherischen Amtsbrüdern Schafkopf zu spielen, mit hohen Einsätzen und vielen geleerten Gläsern, wie man hörte. Aber auch der evangelische Pfarrer in Hannelores Dorf warnte die Konfirmanden und die Landjugend mit scharfen Worten, »den guten Kampf des Glaubens zu kämpfen«, und das hieß, alles Päpstische mit den Prozessionen, Reliquien und Heiligen »zu meiden wie der Teufel das Weihwasser«. Der Platz im Paradies war damals nur zu haben, wenn man die Gegenseite schlecht machte und zum Teufel jagte. Hannelore musste an diesen Lehrer von Elke denken, der bei einer Schulveranstaltung zu sagen wagte, dass die Geistlichen zuweilen die ärgsten Hetzer waren. Früher hätten sie die Leichtgläubigen gegen Juden und vaterlandslose Gesellen aufgehetzt - und gleichzeitig einen Juden am Kreuz angebetet und seine jüdische Mutter als Himmelskönigin verehrt! Prompt bekam der Lehrer Schwierigkeiten an der Schule und mit beiden Kirchen, wurde zwangsversetzt und später aus dem Dienst entfernt. Hannelore erinnerte sich an...

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Autor

Helmut Haberkamm, 1961 in Dachsbach geboren, zählt zu den bekanntesten und vielseitigsten fränkischen Schriftstellern. Er ist promovierter Germanist, Anglist und Amerikanist und als Mundartdichter, Theater- und Romanautor sowie als Betexter von Bäckereitüten und Kunstfotografien tätig. Außerdem ist er Initiator des Mundartfestivals Ezerdla. Bei ars vivendi erschienen zuletzt der Gedichtband "Englische Grüß" (2017) sowie das literarische Sachbuch "Kleine Sammlung fränkischer Dörfer" (2018).