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Kein Sturm, nur Wetter

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
200 Seiten
Deutsch
DuMont Buchverlag GmbHerschienen am12.07.20191. Auflage
Sonntagabend, Flughafen Tegel: Im Café in der Abflughalle kommt sie mit einem Mann ins Gespräch. Robert Sturm ist sechsunddreißig, achtzehn Jahre jünger als sie. Er ist auf dem Weg nach Sibirien. Am Ende ihrer und seiner Arbeitswoche wird er zurückkommen. Am Samstag. Darauf wartet sie ... Als sie 1981 mit achtzehn nach Westberlin kam und Medizin studierte, lernte sie Viktor kennen, der doppelt so alt war wie sie. Er war die andere, die politische Generation und eröffnete ihr die Welt. Er selbst jedoch blieb ihr verschlossen. Das Leben mit Viktor war ein Abenteuer, aber eines, dessen Gefahren sie nicht teilten. Mit sechsunddreißig - inzwischen in Neurobiologie promoviert - trifft sie zur Jahrtausendwende Johann. Er ist so alt wie sie. Gemeinsam hangeln sie sich durch ihre Liebe; prekär sind nicht nur ihre Arbeitsbiografien. Samstagvormittag, wieder Flughafen Tegel: Sechs Tage lang haben ihr Alltag und ihre Erinnerungen sich verwoben und einander zu erklären versucht. Warum sind die Männer in ihrem Leben immer sechsunddreißig? Ist sie noch die, an die sie sich erinnert? Oder ist sie, die sich in Sachen Gehirn auskennt, eigentlich das, was sie vergessen hat?

JUDITH KUCKART, geboren 1959 in Schwelm (Westfalen), lebt als Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin. Sie veröffentlichte bei DuMont den Roman >Lenas LiebeKein Sturm, nur WetterCafé der Unsichtbaren< (2022). Judith Kuckart wurde mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextSonntagabend, Flughafen Tegel: Im Café in der Abflughalle kommt sie mit einem Mann ins Gespräch. Robert Sturm ist sechsunddreißig, achtzehn Jahre jünger als sie. Er ist auf dem Weg nach Sibirien. Am Ende ihrer und seiner Arbeitswoche wird er zurückkommen. Am Samstag. Darauf wartet sie ... Als sie 1981 mit achtzehn nach Westberlin kam und Medizin studierte, lernte sie Viktor kennen, der doppelt so alt war wie sie. Er war die andere, die politische Generation und eröffnete ihr die Welt. Er selbst jedoch blieb ihr verschlossen. Das Leben mit Viktor war ein Abenteuer, aber eines, dessen Gefahren sie nicht teilten. Mit sechsunddreißig - inzwischen in Neurobiologie promoviert - trifft sie zur Jahrtausendwende Johann. Er ist so alt wie sie. Gemeinsam hangeln sie sich durch ihre Liebe; prekär sind nicht nur ihre Arbeitsbiografien. Samstagvormittag, wieder Flughafen Tegel: Sechs Tage lang haben ihr Alltag und ihre Erinnerungen sich verwoben und einander zu erklären versucht. Warum sind die Männer in ihrem Leben immer sechsunddreißig? Ist sie noch die, an die sie sich erinnert? Oder ist sie, die sich in Sachen Gehirn auskennt, eigentlich das, was sie vergessen hat?

JUDITH KUCKART, geboren 1959 in Schwelm (Westfalen), lebt als Schriftstellerin und Regisseurin in Berlin. Sie veröffentlichte bei DuMont den Roman >Lenas LiebeKein Sturm, nur WetterCafé der Unsichtbaren< (2022). Judith Kuckart wurde mit zahlreichen Literaturpreisen und Stipendien ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783832184711
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum12.07.2019
Auflage1. Auflage
Seiten200 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2639 Kbytes
Artikel-Nr.4313190
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Sie stellt eine Dose mit Teebeuteln auf den Tisch und schaut das Etikett an. English Breakfast. Mein Gott, wie lange sie schon in Berlin ist! Dieses Leben ist langsam um sie herumgewachsen, verlässlich vertraut, und es gibt nicht viel zu sehen, das es nicht bereits in früheren Stunden, Tagen, Jahren zu sehen gegeben hätte. Anfang der Achtziger ist sie mit zwei Koffern und der Bahn hergekommen, zu einer Zeit, als Zugfahren nach Westberlin kein einfaches von hier nach da mit dem ICE gewesen ist, sondern eine lange Reise auf grünen oder roten Kunstlederbänken, mit abgeschabten Armlehnen zwischen Mensch und Mensch. Im Winter ist mit dem Auftauchen der Grenzkontrollen regelmäßig die Heizung ausgefallen, sodass sie mehr als einmal mitten im Kalten Krieg an den deutsch-deutschen Verhältnissen beinahe erfroren wäre. Sie nimmt zwei Beutel aus der Teedose und gießt Wasser darüber. Sie erinnert sich. Das erste Mal in Berlin war sie mit Nina, auf Klassenfahrt. An der Grenze wurden die Mädchen still. Die Jungen mutierten zu James Bonds hinter verspiegelten Sonnenbrillen. DDR-Grenzer mit Bauchläden für Transitvisa gingen von Abteil zu Abteil, stempelten die Papiere für die flauschigen Kinder aus dem Westen in Nickipullovern, die gelernt hatten, dass es in der Zone keine Ölsardinen, keine ganzen Spargelstangen gab, nur deren Unterteile. Die Spargelspitzen wurden aus einem Unrechtsstaat namens DDR in den Westen exportiert. Glaub ich nicht, hatte Nina gesagt, das stimmt nicht. Am zweiten Tag der Klassenfahrt machten Nina und sie allein mit der U-Bahn einen Ausflug in den Wedding. Sie saßen am Fenster, denn es gab etwas zu sehen: unterirdische Geisterbahnhöfe im Ostteil, wo die Bahn nicht hielt, nur langsamer fuhr. Aufgeschüttete Kohleberge lagen vor den Ausgängen nach oben. Aushänge an Mitropa-Büdchen kündigten den Sieg der Volksrevolution oder einen Fußball-Länderkampf im Walter-Ulbricht-Stadion an. Volksrevolution, hatte Nina gesagt, so wie man ein Fremdwort wiederholt, das man sich einprägen will, und auf Uniformierte im Notlicht gezeigt, das grün von grün gekachelten Wänden zurückstrahlte. Hatten die sich in den abgedunkelten Gängen ihres eigenen Lebens verirrt? Waren diese Geisterbahnhöfe nur ein Echo aus dem Nichts? Das kann doch nicht sein, hatte Nina gesagt, und sie waren am letzten Tag der Klassenfahrt über die Grenze nach DDR-Berlin gegangen, um zu sehen, wie die Welt über den Geisterbahnhöfen aussah. Beim Übergang Tränenpalast erwischte sie ein plötzlicher Regen, der einen dünnen Vorhang über das gelbliche Scheinwerferlicht von Trabis, Ladas und Wartburgs in den Straßen warf. Unter den Linden roch es nicht nach Linden, sondern nach Abgasen, und in einer Milchbar am Alexanderplatz, die Eisbär oder Espressobar hieß, drängelten sich zwei Jungen, die Finger zum V gehoben und kaum älter als Nina und sie, in Schimmeljeans und blau getönten Brillengläsern mit ins Bild, auf dem sie alle später so aussahen, als hätte sie eine Schlange erschreckt. Oder war es die Erinnerung, die später den Film auf ihre Weise mit belichtete?

Sie nimmt die zwei Teebeutel aus der Kanne. Wie hatte das Desinfektionsmittel der Reichsbahn noch geheißen? Sicher hatte es noch Bestände gegeben, die in die Ukraine verkauft worden waren, oder weiter noch, in den Fernen Osten. Es hatte sich auf der Zugfahrt in Haaren und Kleidung festgesetzt wie der Geruch nach alter Erbsensuppe. Jetzt rochen wahrscheinlich die Nordkoreaner so. Aber wie das Zeug hieß, hatte sie vergessen. Egal. Sie fischt das Frühstücksei aus dem kochenden Wasser und toastet zwei Scheiben Weißbrot. Wie hatte ihr Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie noch geheißen? Genau der, der in seinen Vorlesungen gern einen einzelnen Satz wiederholt hatte, um danach von seinem Manuskript aufzuschauen und den Satz in der Stille des Hörsaals größer werden zu lassen ... Wir sind, was wir vergessen haben.

Aber wie hatte der Professor geheißen? Weißbach?

Sie legt das Weißbrot auf den Teller und wirft die Packung Frischkäse weg. Er hat Schimmel. Sie spült die Salatschleuder und trocknet sie ab. Als sie die Kurbel betätigen will, klemmt sie.

Ach, Johann, denkt sie, aber jenen Mann, der diesen Schaden mit seinen großen, geschickten Händen beheben könnte, gibt es nicht mehr in ihrem Leben.

Küss mich, hatte sie zu dem Mann gesagt, den die Freundin Nina ihr als Johann vorgestellt hatte. Sie schloss die Augen in jener Silvesternacht, während sein Atem, seine Lippen, seine Brust, sein Herzschlag sie berührten. Hinter ihren Lidern wirbelte Laub. Jedes Blatt ein Lachen. Sie, promovierte Medizinerin ohne angemessene Anstellung, war sechsunddreißig, seit achtzehn Jahren in Berlin und seit dreien von Viktor getrennt. Zahlen erzählen Geschichten. Auch ihre. Mehr und mehr Feuerwerkskörper gingen in die Luft. Der Himmel würde in spätestens fünf Minuten von einem rauchigen, schmutzigen Gelb sein. Es war am Ende nur so ein Bewegungsmelder, der am Rand der bemoosten Steinterrasse in Pankow sie und jenen Johann kurz nach Mitternacht aus der Gartendunkelheit riss, so ein dummes Licht, das bei jeder Katze, jeder Ratte aufschreit. Als es anging, blieben sie fest aneinandergezurrt stehen, als würde die geringste Veränderung zwischen ihnen sie vom Rand der Terrasse, vom Rand der Welt stürzen. Das neue Jahr und ein neues Jahrtausend hatten begonnen.

Sie war am frühen Nachmittag und schlecht gelaunt mit dem Zug vom Rand des Ruhrgebiets nach Berlin zurückgefahren. Die Tage zwischen den Jahren im achten Stock bei Mutter und Großmutter waren von grauer, boshafter Endlosigkeit gewesen und hatten eine Verzweiflung ausgelöst, die sie von früher kannte. Die Langeweile. Wäre es Sommer gewesen, hätte sie sich auf den Balkon zurückziehen und das Manuskript Ufer des Bewusstseins für einen wissenschaftlichen Verlag zu Ende korrigieren können, für den sie als freie Lektorin arbeitete. Aber es ging gar nicht, sich im überheizten Wohnzimmer hinter einem Stapel mitgebrachten Papiers zu verschanzen. Vieles ging gar nicht, dort, wo sie herkam.

Ankunft Gleis drei.

Der Bahnhof Zoo hatte vier Gleise und war damit nicht größer als irgendein Bahnhof in der deutschen Provinz. Komm nicht zu spät, hatte Nina gesagt, damit du unsere Aktion noch mitkriegst. Sie war mit der S-Bahn gefahren und hinter dem Hackeschen Markt in die Straßenbahn umgestiegen. Unsere Aktion, hatte Nina am Telefon gesagt, beginnt dort und zieht sich über die folgenden drei bis vier Stationen.

Als die Bahn losfuhr, stand eine junge Frau abrupt auf. Sie hatte ein breites Katzengesicht, ging durch den Wagen bis nach vorn, um den Halteknopf beim Fahrer zu drücken. Aus ihrer Einkaufstasche rann Milch. Sehen Sie das nicht?, fragte ein älterer Mann. Nein, sagte die Frau mit dem Katzengesicht im Abwenden. Sie stieg an der nächsten Haltestelle aus, während Kinder an ihr vorbei in den Wagen drängten und sich zu fünft auf einen Viererplatz quetschten, bis ein Mädchen den Jungen neben sich in die Seite stieß: Mensch, Alter, tu dich mal woandershin. Der Junge stand auf und hängte sich mit einer Hand an den Haltegriff. Milch rann aus seinem Rucksack. Jeder sah es, niemand sagte etwas. Auch sie nicht. Bei der nächsten Station stiegen die Kinder aus. Der Mann, der jetzt einstieg, war sechsunddreißig, so alt wie sie, erfuhr sie später, und trug einen schmuddeligen Jutebeutel über der Schulter, der nicht zu ihm passte. Er setzte sich auf den Platz gegenüber und sah ihr in die Augen. Sie schaute zurück. Seine Hand glitt in den Beutel. Er verzog den Mund. Daraus wurde ein Lächeln, vielleicht unsicher, vielleicht melancholisch, bis es auf halbem Weg stecken blieb. Die Bahn fuhr an.

Küss mich, hatte sie gedacht.

Küss mich oder wirf mich gegen die Wand, antwortete sein Blick, bevor er aufstand und durch den Wagen ging. Aus seinem Jutebeutel rann Milch. Hallo, rief da der ältere Mann wieder. Hallo, was soll das? Wie heißen Sie? Die Finger wie zum Ringkampf gespreizt, stand er auf, um nach ein paar breitbeinigen Schritten dicht vor dem Mann mit dem Jutebeutel stehen zu bleiben, der aber nur den Kopf senkte und seinem unfertigen Lächeln von eben die andere Hälfte hinzufügte. Ich habe meinen Namen vergessen, sagte er unbefangen und strahlend.

Mein Gott, ist der freundlich, dachte sie.

Bei der nächsten Haltestelle wartete Nina und hielt ein Schild hoch, auf dem fett die Frage stand, die auch der Titel ihrer Aktion war:

Mit wie viel Unmöglichem finde ich mich ab im Alltag?

Nina hielt das Schild höher, als die Bahn wieder anfuhr. Nina, die Freundin von früher, das Mädchen auf der anderen Seite vom Brachland, wo die gelbe Villa ihrer Eltern stand und warmes Licht aus den Fenstern Honig in die Nacht goss, während bei ihr zu laut eine Quizsendung im Fernsehen lief, die Mutter wiehernd auf dem durchgesessenen Sofa neben der Großmutter eine nächste Flasche Bier öffnete und sie selbst über der Betonbrüstung im achten Stock lehnte. Geplagt von Gefühlen der Leere ...

Der Mann mit dem Jutebeutel stellte sich jetzt neben Nina. Ihre Schultern berührten sich, während er sich eine Zigarette anzündete.

Die sollen doch alle mal was Vernünftiges arbeiten, hatte da der ältere Mann gesagt und alle zehn Finger gegen ein Fenster gespreizt, während er an den beiden vorüberfuhr.

Die sollte man doch alle jagen!

Der Mann mit dem Jutebeutel hieß Johann, arbeitete am Theater, aber nicht auf der Bühne. Leider, sagte er. Die wichtigsten Dinge in seinem Leben waren für ihn trotzdem nicht die Künste, sondern Fußball, Fahrräder und Frauen. Also weihte er sie in jener Silvesternacht in eine alte Frage ein.

Warum...
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