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Unhaltbare Zustände

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am22.08.20191. Auflage
Vom Wagnis, gesehen zu werden. Ein Roman über einen, der sich gegen den Wandel der Zeiten auflehnt und dabei ins Wanken gerät. Zwei Tage sind sie hinter Papier versteckt, dann werden die sieben großen Schaufenster feierlich enthüllt - und lassen die Waren des alteingesessenen Quatre Saisons in neuem Glanz erstrahlen. Für diese Momente lebt und arbeitet Schaufensterdekorateur Stettler, und das schon mehrere Jahrzehnte. Nun, mit knapp sechzig, wird ihm überraschend ein jüngerer Kollege zur Seite gestellt - ein Rivale, ein avisierter Nachfolger, ein Feind! Stettlers Welt beginnt zu bröckeln. Es ist das Jahr 1968, und es bröckelt auch sonst alles, die jungen Leute tragen Bluejeans und wissen nicht mehr, was sich gehört. Am Münsterturm hängt auf einmal eine Vietcong-Fahne. Stettler ist entsetzt. Immer mehr fühlt er sich bedroht, spioniert dem Rivalen sogar nach, sinnt auf Rache. Es ist auch ein zähes Ringen mit der Zeit und mit dem Alter, bei dem Stettler nur verlieren kann. Allein mit einer von ihm bewunderten Radiopianistin, Lotte Zerbst, wechselt er Briefe und fühlt sich nicht so verloren. Er hofft sogar auf eine Begegnung ...

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextVom Wagnis, gesehen zu werden. Ein Roman über einen, der sich gegen den Wandel der Zeiten auflehnt und dabei ins Wanken gerät. Zwei Tage sind sie hinter Papier versteckt, dann werden die sieben großen Schaufenster feierlich enthüllt - und lassen die Waren des alteingesessenen Quatre Saisons in neuem Glanz erstrahlen. Für diese Momente lebt und arbeitet Schaufensterdekorateur Stettler, und das schon mehrere Jahrzehnte. Nun, mit knapp sechzig, wird ihm überraschend ein jüngerer Kollege zur Seite gestellt - ein Rivale, ein avisierter Nachfolger, ein Feind! Stettlers Welt beginnt zu bröckeln. Es ist das Jahr 1968, und es bröckelt auch sonst alles, die jungen Leute tragen Bluejeans und wissen nicht mehr, was sich gehört. Am Münsterturm hängt auf einmal eine Vietcong-Fahne. Stettler ist entsetzt. Immer mehr fühlt er sich bedroht, spioniert dem Rivalen sogar nach, sinnt auf Rache. Es ist auch ein zähes Ringen mit der Zeit und mit dem Alter, bei dem Stettler nur verlieren kann. Allein mit einer von ihm bewunderten Radiopianistin, Lotte Zerbst, wechselt er Briefe und fühlt sich nicht so verloren. Er hofft sogar auf eine Begegnung ...

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462320282
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum22.08.2019
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse1800 Kbytes
Artikel-Nr.4400054
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


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1 Winter


Zu keiner Jahreszeit war Stettlers untrüglicher Sinn für Schönheit so gefragt wie in den Wochen vor Weihnachten. Sein Wissen über unterschiedliche Farben, Formen und Materialien, sein Sinn für Raum und Symmetrie, für Hell und Dunkel, Licht und Schatten, kurzum die Summe all seiner Fähigkeiten war unverzichtbar. Die Vorweihnachtszeit war seine beste Jahreszeit, nie war das Interesse der Kollegen an seiner Arbeit größer als Anfang Dezember, am ersten Donnerstag des Monats, wenn das Zeitungspapier vorsichtig von den Schaufenstern entfernt und die Kunstwerke, die er erschaffen hatte, endlich enthüllt wurden und man die Passanten dabei beobachten konnte, wie sie ehrfürchtig vor dem Resultat seiner Bemühungen stehen blieben, wenn also die Zeit für die Bewunderung gekommen war. Weder Fremde noch Angestellte wollten sich das entgehen lassen und konnten sich von dem, was sich ihren Blicken nun bot, nicht losreißen. Mit offenen Mündern standen sie da, hingerissen, fassungslos wie Kinder vor dem Weihnachtsbaum, und es dauerte meist ein paar Augenblicke, bis sie die Sprache wiederfanden und andere Neugierige - meist Menschen, die ihnen völlig fremd waren - mit Fingern auf dieses oder jenes Detail aufmerksam machen konnten, sofern sie sich nicht damit begnügten, das Ganze schweigend zu bestaunen. Man schmolz zu einer frohen Gruppe zusammen, warm und zufrieden, man fror nicht mehr, da die Vitrinen vor Verheißung glühten, und auch die Herzen der Anwesenden hatten Feuer gefangen, egal, ob sie dünne Mäntelchen trugen oder in Nerz gehüllt waren. Sein Werk war vollendet, von seinem zuverlässigen Gespür für das Schöne wie aus dem Nichts erschaffen, tatsächlich aber Ergebnis jahrzehntelanger Übung und Vervollkommnung, Folge wochenlangen Überlegens und Nachdenkens, wie das Geschmackvolle am wirkungsvollsten in Szene zu setzen sei, aber auch - was niemand sehen sollte und niemand sehen konnte - eine Folge schlafloser Nächte, in denen er so lange über halbfertigen Ideen und unverhofften Geistesblitzen gebrütet hatte, bis sie allmählich Gestalt annahmen und sich zuletzt immer klarer vor seinem inneren Auge abzeichnete, was er mit sicherer Hand umsetzen würde. Dann begann er zu planen und zu kalkulieren. Auf großen, rechteckigen Zeichenblöcken, die er stets horizontal in der Form des Schaufensters beschrieb, kam eines zum anderen, meist von links nach rechts, weil er sich dem Schaufenster stets von links näherte, wenn er sich vorstellte, ein ahnungsloser Passant zu sein. Der Aufbau begann in der linken Ecke, hier nahm - was niemand sehen konnte - die Realisation stets ihren Anfang. Das karierte Papier wurde zur Auslage, vor der ein einsamer Betrachter stand: Das weiße Blatt war eine leere Bühne, die sich allmählich mit Gegenständen füllte.

Entscheidender als die höchst ehrenwerte Zustimmung seiner Kollegen war der Beifall der Kunden. Noch wichtiger als die Meinung der Stammkunden - die wussten, was sie erwarten durften, weil sie das Warenhaus schon lange kannten - war die Meinung der unvorbereiteten Laufkundschaft, welche zum Innehalten verführt wurde. Mehr als um alle anderen ging es um sie, um Menschen, die zufällig vorbeikamen, mit nichts gerechnet hatten und nun vor den erleuchteten Schaufenstern standen und staunten.

Unbekannte anzulocken, die das Quatre Saisons nie zuvor betreten hatten, war unbestreitbar die wichtigste Aufgabe eines Schaufensterdekorateurs. Das war das oberste Ziel, the top goal, wie man in England sagte, das sich Stettler immer steckte, nicht nur im Dezember, sondern alle zwei Monate des Jahres, wenn die Schaufensterdekorationen wechselten. »Vorsätzliche Verführung.« Bereits sein Lehrmeister, der alte Bickel, hatte es nicht oft genug wiederholen können: »Verführ sie und du hast sie in der Tasche. Und hast du sie dort, kommen sie auch in den Laden, schauen sich um und prüfen heimlich ihre Geldbeutel. Das Schaufenster ist der Türöffner zum Tempel. Wenn sie einmal drin sind, gehen sie so schnell nicht mehr weg. Sie müssen sich verlieben. Das ist der Beginn einer lebenslänglichen Verbindung - wie die Ehe!« So ähnlich vermittelte auch Stettler es seit Jahren seinen Mitarbeitern, vor allem den jungen Kollegen und Lehrlingen, sechzehn-, siebzehnjährigen Knaben, halbe Kinder noch, die nichts vom Leben und schon gar nichts von der Kunst des Verkaufs und der Verführung verstanden, ja selten wussten, warum sie ausgerechnet diesen Beruf ergriffen hatten, einen Beruf, der sich dem Abenteuer nicht in der Ferne, sondern innerhalb der engen Grenzen eines vorgegebenen Rahmens aussetzte.

»Verführung ist eine Kunst, die einem nicht in die Wiege gelegt wird, geht das in eure Spatzenhirne, also müsst ihr sie lernen, dazu seid ihr da, von morgens bis abends, und es gibt nur einen, der sie euch beibringen kann, und das bin ich«, pflegte er ihnen immer wieder einzuhämmern, wobei er es manchmal nicht unterlassen konnte, einem der pickeligen Jünglinge mit der flachen Hand auf die Stirn zu schlagen, wenn er merkte, dass er unaufmerksam war.

»Ich meine euch alle«, sagte er dann, und augenblicklich war es mucksmäuschenstill, während der Lehrling, den er berührt hatte, mit den Tränen kämpfte. »Damit du es dir merkst. Kapiert? Damit es sich in deiner Hirnmasse verflüssigt und in dein Knochenmark rieselt. Und auch in eures!« Eifriges Nicken. Rote Köpfe. Betretenes Schweigen. Man wagte in seiner Gegenwart kaum zu atmen.

Die Lehrlinge fürchteten ihren Lehrmeister so wie Stettler seinen Lehrmeister Bickel gefürchtet hatte, der selbst nur einen fürchtete, den alten Schuster nämlich, wenn er, die Linke auf dem Rücken, sein Reich durchmaß. Dass Schusters Söhne es eines Tages übernehmen würden, lag auf der Hand. Sie hatten keine andere Wahl und würden es nicht bereuen. »Und Waschen hat auch noch keinem geschadet«, fügte Stettler hinzu, wenn der Schweißgeruch im engen Lehrlingszimmer überhandnahm. Auch diese Ermahnung hatte er von Bickel übernommen: Er duldete keine üblen Gerüche, schon gar nicht, wenn man in Strümpfen auf allen vieren in den Schaufenstern herumkroch.

Insbesondere zur Vorweihnachtszeit ging es darum, den Umsatz des Vorjahres zu toppen, wie man jetzt neumodisch sagte - Stettler war achtundfünfzig und spürte das nicht nur beim Bücken und Knien, sondern daran, dass sich um ihn alles zu verändern begann. Während die Bademode im Sommer immer gewagtere Einblicke auf den weiblichen Körper gewährte, der im Fall der Schaufensterpuppen inzwischen weder aus Gips noch Pappmaché, sondern aus einem Kunststoff war, der die Haut täuschend imitierte (früher hatten die Mannequins nicht einmal Köpfe gehabt), hatte es der Jahr für Jahr höher und höher werdende Weihnachtsbaum auf dem nahe gelegenen Rathausplatz mit den größer und größer werdenden Kugeln auf geradezu beängstigende Weise übernommen, die modernen Exzesse zu versinnbildlichen, die man mit der Ausdehnung von allem, nicht nur von nackter Haut und übertriebener Weihnachtsfeierlichkeit, trieb.

Stettler konnte von Glück sagen, dass sich zumindest die Ausmaße seiner Schaufenster nicht verändert hatten und in absehbarer Zeit auch nicht verändern würden. Die Maße der sieben Schaufenster, die sich innerhalb eines zweihundertjährigen Laubengangs befanden, hatte er genau im Kopf: drei Meter achtzig breit, zwei Meter zehn tief, zwei Meter siebzig hoch.

Über Stettlers Anteil am Jahresumsatz im Allgemeinen und am gesteigerten Weihnachtsumsatz im Besonderen war sich vom Laufburschen bis zu den Direktoren jeder im Klaren. Obwohl sein Beitrag in Zahlen nicht zu schätzen war, galt dieser Anteil als feste Größe, man konnte sich darauf verlassen.

Jeder Mitarbeiter des Quatre Saisons wusste um Stettlers Bedeutung für das Warenhaus, das vor rund fünfundfünfzig Jahren - wenige Jahre nach der Jahrhundertwende - von Johann Schuster sen. eröffnet worden war, sechs Jahre, nachdem man mit den Bauarbeiten begonnen hatte; ein Haus mitten in der Stadt, schwindelerregend hoch, wie manche fanden, ein Haus mit Karyatiden, ausladendem Stuck und emaillierten Mosaiken, blinden Fenstern, hinter denen sich die Verkaufsräume verbargen, und einem Haupteingang, der dem des städtischen Opernhauses in nichts nachstand. Eine Glaskuppel, die von weitem zu sehen war. Der vierfarbige Schriftzug Les Quatre Saisons. Die vierfarbigen Fahnen, die bei besonderen Anlässen im Wind wehten. All das erhob sich mächtig über den mittelalterlichen Lauben, die erhalten geblieben waren, weil die Behörden deren Abriss nicht gestattet hatten.

Nie hatte der alte Schuster einen Hehl daraus gemacht, dass sein Vorbild das Kaufhaus La Samaritaine war, so wie sich diese vordem Le bon marché zum Vorbild genommen hatte, wo Schuster drei Jahre lang sein Handwerk unter den Augen von Monsieur et Madame Cognaq, den Gründern und Besitzern des Hauses, als Chef de Rayon in der Abteilung Vêtements pour hommes verfeinert und geschliffen hatte, nachdem er zuvor je ein halbes Jahr in Köln und London tätig gewesen war, zunächst unschlüssig, ob er nach dieser Zeit nach New York wechseln sollte. Doch er war froh gewesen, sich für Paris entschieden zu haben.

Welche Vorstellungen er von seiner Zukunft gehabt hatte, als er die Stelle am rechten Seineufer antrat, wusste niemand außer seiner Frau. Als er den Heimweg in die Schweiz antrat, war er jedenfalls längst entschlossen, dort gemeinsam mit Christine, einer waschechten Pariserin, ein ähnliches Warenhaus wie die Samaritaine zu eröffnen. Sie...
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Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.