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Kein Teil der Welt

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am10.10.20191. Auflage
Vom Aufwachsen in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Mit unwiderstehlicher Kraft erzählt Stefanie de Velasco in ihrem zweiten Roman von einer unbekannten Welt und dem Emanzipationsprozess einer jungen Frau, der sämtliche Fundamente zum Einstürzen bringt. Ein ostdeutsches Dorf kurz nach der Wende. Die junge Esther wurde über Nacht aus ihrem bisherigen Leben gerissen, um hier, in der alten Heimat ihres Vaters, mit der Gemeinschaft einen neuen Königreichssaal zu bauen. Während die Eltern als Sonderpioniere der Wachtturmgesellschaft von Haus zu Haus ziehen, um im vom Mauerfall geprägten Osten zu missionieren, vermisst Esther ihre Freundin Sulamith schmerzlich. Mit Sulamith hat sie seit der Kindheit in der Siedlung am Rhein alles geteilt: die Fresspakete bei den Sommerkongressen, die Predigtdienstschule, erste große Gefühle und Geheimnisse. Doch Sulamith zweifelt zunehmend an dem Glaubenssystem, in dem die beiden Freundinnen aufgewachsen sind, was in den Tagen vor Esthers Umzug zu verhängnisvollen Entwicklungen führt. Während Esther noch herauszufinden versucht, was mit Sulamith geschehen ist, stößt sie auf einen Teil ihrer Familiengeschichte, der bislang stets vor ihr geheim gehalten wurde.

Stefanie de Velasco, geboren 1978 im Rheinland, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig für das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die FAS und ZEIT Online. 2013 erschien ihr Debütroman »Tigermilch«, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextVom Aufwachsen in der Glaubensgemeinschaft der Zeugen Jehovas. Mit unwiderstehlicher Kraft erzählt Stefanie de Velasco in ihrem zweiten Roman von einer unbekannten Welt und dem Emanzipationsprozess einer jungen Frau, der sämtliche Fundamente zum Einstürzen bringt. Ein ostdeutsches Dorf kurz nach der Wende. Die junge Esther wurde über Nacht aus ihrem bisherigen Leben gerissen, um hier, in der alten Heimat ihres Vaters, mit der Gemeinschaft einen neuen Königreichssaal zu bauen. Während die Eltern als Sonderpioniere der Wachtturmgesellschaft von Haus zu Haus ziehen, um im vom Mauerfall geprägten Osten zu missionieren, vermisst Esther ihre Freundin Sulamith schmerzlich. Mit Sulamith hat sie seit der Kindheit in der Siedlung am Rhein alles geteilt: die Fresspakete bei den Sommerkongressen, die Predigtdienstschule, erste große Gefühle und Geheimnisse. Doch Sulamith zweifelt zunehmend an dem Glaubenssystem, in dem die beiden Freundinnen aufgewachsen sind, was in den Tagen vor Esthers Umzug zu verhängnisvollen Entwicklungen führt. Während Esther noch herauszufinden versucht, was mit Sulamith geschehen ist, stößt sie auf einen Teil ihrer Familiengeschichte, der bislang stets vor ihr geheim gehalten wurde.

Stefanie de Velasco, geboren 1978 im Rheinland, studierte Europäische Ethnologie und Politikwissenschaft. Sie schreibt regelmäßig für das Berliner Stadtmagazin Zitty, für die FAS und ZEIT Online. 2013 erschien ihr Debütroman »Tigermilch«, der in zahlreiche Sprachen übersetzt und für das Kino verfilmt wurde.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462317312
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum10.10.2019
Auflage1. Auflage
SpracheDeutsch
Dateigrösse1516 Kbytes
Artikel-Nr.4400067
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


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Genesis



1


»Esther!«, ruft Mutter.

Ganz hinten am Horizont steht dicker schwarzer Qualm. Es brennt, es brennt! Es brennt nicht. Es sind nur die Schornsteine. Rauchende, alte Zuckerhüte. Sie kommen demnächst weg.

»Man macht ja doch keine Feuerzangenbowle«, hat Vater gesagt, »und wenn, dann nicht aus denen da.«

Das Schild steht schon am Eingang, ich kann es von meinem Fenster aus sehen, strahlend weiß, als hätten Außerirdische es dort hingestellt: Hier entsteht in Kürze ein Globus-Gartencenter. Hinter dem Schild eine verrußte Backsteinfassade, ein verrostetes Tor. Niemand geht dort ein oder aus, trotzdem zieht sich um das gesamte Gelände ein Zaun.

Ein schmaler Fluss quetscht sich an der Fabrik vorbei, am Ufer sammelt sich cremefarbener Schlackeschaum, dick und steif wie Schlagsahne, allein vom Anblick wird einem schlecht. Am Fluss stehen Häuser, die Fassaden nicht grau, nicht braun. Ich muss noch einen Namen für diese Farbe finden. Grauen. Die Dächer sind fast alle zerstört, die Fensterscheiben zertrümmert, aus Wut, oder die Zeit hat sie totgeschlagen. Auch auf der Straße muss man aufpassen. Immer wieder fallen Fassadenbrocken herunter. Manche sind hart, manche weich und porös. Die Leute hier fegen die Brocken an den Sonntagen in die Hinterhöfe, dort entstehen immer größere Türme, jeder Hof ein kleines Babylon, das sich einfach nicht ergeben will.

Ich habe lange überlegt, woran mich diese Steine erinnern. Ich bin in die Hocke gegangen, habe sie in die Hand genommen, sie gewogen und sie zwischen den Fingern zerrieben, dann ist es mir wieder eingefallen. Wenn Hunde zu viel Knochen fressen, hinterlassen sie so etwas. Früher haben Sulamith und ich solche Brocken manchmal auf den Feldwegen neben unseren Himbeeren gefunden und mit Kreide verwechselt. Wir haben den Platz vor der Garageneinfahrt damit bemalt. Ich habe versucht, meinen Namen damit zu schreiben, das S in der Mitte falsch herum, weil ich es noch nicht besser wusste, weil ich noch gar nicht richtig schreiben konnte. Sulamith malte unser Haus, vor der Tür mich, in den Fenstern Mutter und Vater, ihre Köpfe Dreiecke mit spitzen Kinnen und ihre Nasen Striche und Kreise, riesige Nasenlöcher, richtig entstellt sahen sie aus mit diesen Nasen, bis Sulamith die Kreide plötzlich fallen ließ.

»Das ist Hundescheiße«, flüsterte sie.

Scheiße, ich kannte dieses Wort, aber ich hatte es noch nie jemanden laut sagen hören. Es zischte in meinen Ohren, als würde jemand Snickers braten.

Anders als Sulamith war ich nie eine gute Malerin. Aber wenn ich das da draußen alles malen müsste, den grauen Himmel, vom Rauch durchzogen, die Fabrik, den Fluss, ich würde alles mit diesen Steinen malen, ich würde mir die Steine aus den Hinterhöfen nehmen und würde malen, so lange, bis es keine Steine mehr gäbe, keine Häuser mehr, bis nichts von hier mehr übrig wäre.

»Esther!«, ruft Mutter wieder.

Draußen flattern Sulamiths Kleider. Ich habe sie vor mein Fenster gehängt, damit ich das alles nicht ständig sehen muss, die alten Schornsteine, die kaputten Häuser, den verdreckten Fluss: das rote Meer. So hat Mutter es gestern genannt, bei unserer ersten Zusammenkunft. Jeder hat von zu Hause Stühle mitgebracht, weil im neuen Königreichssaal noch keine stehen. Das Dach ist schon fertig, aber sonst sieht fast alles noch so aus, wie es in einem halb fertigen Gebäude eben aussieht. Die Wände sind unverputzt, es liegt kein Teppichboden. Wir werden hier in Peterswalde die Ersten sein, die eine Zentralheizung haben, aber noch ist die Anlage nicht montiert. Es war bitterkalt. Schwester Wolf humpelte auf mich zu, ihre künstliche Hüfte lässt sie wie auf schiefen Stelzen gehen.

»Du bist ja gar kein Kind mehr«, hat sie gesagt und mir in die kurzen Haare gegriffen, als wäre das ein Wunder, das Wachsen und Älterwerden.

»Wie deine Großmutter siehst du aus, nur die langen Zöpfe fehlen.«

Anton Wolf stand gleich hinter ihr.

»Die Luise«, sagte er und kam ganz nah an mich heran, »was hatte die für eine schöne Singstimme. Kannst du auch so schön singen?«

Sein Atem roch nach Plaque, in seinen uralten Augen brach sich das Deckenlicht, es sah aus wie ein römisches Mosaik.

Wir sind nur eine Handvoll Verkündiger hier. Bruder und Schwester Wolf, Familie Lehmann mit ihrer Kinderschar, Bruder und Schwester Radkau mit ihrem Sohn Gabriel, Vater, Mutter und ich. Wir studieren immer noch Der größte Mensch, der je lebte. Die Bücher aufgeschlagen, saß die ganze Versammlung auf den mitgebrachten Stühlen. Es roch nach Farbe, die Neonröhren an der Decke knackten wie alte, gebrechliche Knochen. Gabriel stand neben Vater auf der Bühne und las vor. Er ist so alt wie ich und hat sich auf dem letzten Sommerkongress taufen lassen. Genau wie Mutter und Vater sind Gabriels Eltern Sonderpioniere. Wie sie es im Untergrund geschafft haben, ohne theokratische Strukturen und trotz Verfolgung, einhundertzwanzig Stunden im Monat in den Predigtdienst zu gehen, ist mir ein Rätsel. Gabriel erinnert mich an Tobias aus unserer alten Versammlung in Geisrath. Dieser dunkelblonde Flaum über seiner Oberlippe, die abstehenden Schulterpolster seines Sakkos, in das er noch hineinwachsen muss, und dieser eigentümliche Geruch nach überreifen Bananen, den Jungen in der Pubertät verströmen, genauso hat Tobias auch immer gerochen. Knallrote Ohren hat Gabriel bekommen, als er da neben Vater gestanden hat und vorgelesen hat, als wäre die Stelle irgendwie versaut, dabei ging es nur darum, dass Jesus mit Petrus aufs Meer fährt. Ein starker Sturm kommt auf, Wasser schwappt ins Boot, es droht zu sinken. Petrus bekommt Angst und wirft sich Jesus vor die Füße, aber Jesus streicht ihm nur über den Kopf und sagt: »Ab heute wirst du Menschen fischen.«

Als Vater die erste Frage in die Runde stellte, meldete sich Mutter. Ihre schlanke Hand ging nach oben, die anderen betrachteten die manikürten Finger, sie starrten auf den bordeauxfarbenen Nagellack, auf die weiße Bluse mit dem schmalen Spitzenkragen und der dunkelblauen Borte, sie starrten auf den Bleistiftrock, der sich an Mutters Beine schmiegte, auf die feinen Lackschuhe und dann zu mir, so als wäre ich auch so etwas wie ein Spitzenkragen oder ein feiner Lackschuh, eins von Mutters Accessoires. Nur Schwester Lehmann ließ Mutters Aufzug kalt. Was wollt ihr eigentlich hier? Es stand ihr ins Gesicht geschrieben, diese Frage, sie schien sich nicht vorstellen zu können, dass jemand seine Heimat verlässt, um ausgerechnet an diesem Fleck Erde noch einmal ganz neu anzufangen, dabei ist das hier doch so etwas wie Heimat, wenn auch nur Vaters. Hier ist er groß geworden, so unvorstellbar es auch für mich ist, aber genau hier muss er laufen und Fahrrad fahren gelernt haben, auf diesen kaputten Straßen, hier muss er Freunde gehabt haben, in dieser Eiseskälte ist er mit ihnen vielleicht Schlitten gefahren. Erst als das Baby anfing zu schreien, blickte Schwester Lehmann weg, hob es aus dem Kinderwagen und legte es an die Brust. Ihr dunkles Oberteil war voller Milchflecken. Ob Mutter jemals Milchflecken auf ihrer Kleidung hatte?

»Genau aus diesem Grund sind wir hierher gesandt worden, um die letzten Menschen zu fischen, bevor die große Drangsal kommt, denn das ist unser Auftrag, egal ob Sonderpionier, Pionier, Hilfspionier, getaufter Verkündiger oder ungetaufter Verkündiger«, hat Mutter gesagt, als Vater sie schließlich drangenommen hat. »Hier! Hier liegt das rote Meer. Das rote Meer ist voller Fische. Jehova hat es geteilt, und dann hat er es wieder vereint. Jetzt kommen wir und fischen, so lange, bis kein Menschenfisch mehr übrig ist.«

Oben an der Decke flog eine winzige Motte gegen die Neonröhren, sie raste ins Licht, immer und immer wieder, prallte ab und fiel irgendwann tot auf uns herab.

»So müssen Luzifer und seine Dämonen ausgesehen haben, als sie aus dem Himmel geworfen worden sind«, hätte Sulamith gesagt.

Manchmal hat sie sich solche gottlosen Sätze ausgedacht, nicht aus Respektlosigkeit, einfach nur, um alles ein bisschen besser ertragen zu können. Ich habe eine Gänsehaut bekommen, ich weiß nicht, ob wegen der Kälte oder weil es mir Angst gemacht hat, dass ich Sulamith so oft mit mir reden höre, dass sie so gut wie immer bei mir ist, neben mir auf einem dieser harten Klappstühle, die noch von Großmutter sein müssen. Sulamith kratzt sich am Hals, ribbelt sich ein Sockenbündchen auf. Sie starrt auf ihr Buch. Der größte Mensch, der je lebte, Jesus und Petrus im Boot. Sie nimmt einen Kuli und malt zwei Sprechblasen über die Köpfe. In die Sprechblase über Petrus schreibt sie Bald ist Spargelzeit!, in die über Jesus schreibt sie Sail away!, und Beck´s auf das Boot. Jesus sieht auf einmal wie ein Partylöwe aus und Petrus gar nicht mehr verzweifelt, sondern einfach nur wie jemand, der sich wie blöde auf den nächsten Spargel freut.

Ich habe ihre langen Haare auf meinem Unterarm gespürt, diese blonde undurchdringliche Matte, wie sie vor Lachen bebt, doch dann habe ich gesehen, dass da gar keine lange Matte ist, sondern nur Mutters Bluse, die meinen Arm berührt, Mutter mit ihrer Lady-Di-Frisur, und dann ist mir alles wieder eingefallen, es hat sich angefühlt, als hätte ich gerade eben erst davon erfahren. Sulamith ist nicht mehr da. Mitten in der Nacht haben sie mich geweckt und ins Auto gepackt. Ich habe geschrien, aber es hat nichts geholfen.

»Es ist doch nur zu deinem Besten«, hat Mutter gesagt, als wir am nächsten Morgen hier angekommen sind, »einmal wirst du uns dankbar dafür sein.«

Mutter,...

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