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Harun und das Meer der Geschichten

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am14.10.2019
Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
In der Traurigen Stadt im Lande Alifbay lebt der kleine Harun. Doch Haruns Vater ist der allseits beliebte Geschichtenerzähler Raschid. Wenn er erzählt, dann vergessen die Menschen für einen Moment ihre Traurigkeit und erfreuen sich an seinen schier unerschöpflichen Märchen über schöne Prinzessinnen, schnauzbärtige Gangster und tollkühne Helden. Doch eines Tages wird Raschid von seiner Frau verlassen - und verstummt urplötzlich. Um seinen Vater dazu zu bringen, wieder Geschichten zu erzählen, begibt sich Harun auf eine abenteuerliche Reise zum Meer der Geschichten, zur Quelle des Erzählwassers.

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextSalman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
In der Traurigen Stadt im Lande Alifbay lebt der kleine Harun. Doch Haruns Vater ist der allseits beliebte Geschichtenerzähler Raschid. Wenn er erzählt, dann vergessen die Menschen für einen Moment ihre Traurigkeit und erfreuen sich an seinen schier unerschöpflichen Märchen über schöne Prinzessinnen, schnauzbärtige Gangster und tollkühne Helden. Doch eines Tages wird Raschid von seiner Frau verlassen - und verstummt urplötzlich. Um seinen Vater dazu zu bringen, wieder Geschichten zu erzählen, begibt sich Harun auf eine abenteuerliche Reise zum Meer der Geschichten, zur Quelle des Erzählwassers.

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641258153
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum14.10.2019
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse3075 Kbytes
Illustrationen12 schwarz-weiße Abbildungen
Artikel-Nr.4693764
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

ERSTES KAPITEL
Der Schan von Bla

Es war einmal im Lande Alifbay eine traurige Stadt, die traurigste von allen Städten, so todtraurig, daß sie sogar ihren Namen vergessen hatte. Sie stand an einem freudlosen Meer voller Wehmutfischen, die so elend schmeckten, daß die Menschen nach ihrem Genuß vor lauter Trübsinn Magenschmerzen bekamen, auch wenn der Himmel strahlend blau war.

Im Norden der Traurigen Stadt standen mächtige Fabriken, in denen die Traurigkeit (wie man mir sagte) produziert, verpackt und in alle Welt verschickt wurde, wo man niemals genug davon zu bekommen schien. Aus den Schornsteinen dieser mächtigen Fabriken quoll dicker schwarzer Rauch und lastete schwer wie eine Trauerbotschaft auf der Stadt.

Mitten in der Traurigen Stadt, hinter einer Reihe von Ruinen, die wie gebrochene Herzen aussahen, wohnte ein fröhlicher kleiner Junge namens Harun, das einzige Kind des Geschichtenerzählers Raschid Khalifa, dessen Heiterkeit überall in dieser unglücklichen Metropole berühmt war und dessen niemals versiegender Strom langer, kurzer und verschlungener Erzählungen ihm nicht einen, sondern gleich zwei Spitznamen eingetragen hatte. Für seine Bewunderer war Raschid das Genie der Phantasie, so reich an heiteren und unterhaltsamen Geschichten wie das Meer an Wehmutfischen; seine eifersüchtigen Rivalen dagegen nannten ihn den Schah von Bla. Seiner Frau Soraya war Raschid viele Jahre lang ein so liebevoller Ehemann, wie man ihn sich nur wünschen kann, und Harun wuchs während dieser Jahre in einem Zuhause auf, das statt von Strafen und drohenden Mienen von dem unbeschwerten Lachen des Vaters und der süßen Stimme der Mutter erfüllt war, die glücklich ihre Lieder sang.

Dann ging irgend etwas schief. (Vielleicht hatte sich die Traurigkeit der Stadt schließlich doch noch zu den Fenstern hereingestohlen.).

An diesem Tag hörte Soraya auf zu singen - mitten in der Strophe, als hätte jemand einen Schalthebel umgelegt -, und Harun vermutete, daß ihnen etwas Schlimmes bevorstand. Doch niemals hätte er geahnt, wie schlimm.

 


Da Raschid Khalifa so sehr damit beschäftigt war, Geschichten zu erfinden und zu erzählen, fiel ihm nicht auf, daß Sorayas Gesang verstummt war; und das machte vermutlich alles noch schlimmer. Doch schließlich war Raschid ständig unterwegs, ein Mann, der überall gefragt war, das Genie der Phantasie, der berühmte Schah von Bla. Und bei all den vielen Proben und Auftritten stand Raschid so oft auf der Bühne, daß er die Dinge, die in seinem Haus vorgingen, irgendwie aus den Augen verlor. Geschäftig eilte er in Stadt und Land umher, um seine Geschichten zu erzählen, während Soraya zu Hause blieb, allmählich immer finsterer dreinblickte und sogar wie Donner grollte, bis sich das Ganze schließlich in einem heftigen Gewitter entlud.

Harun begleitete den Vater, wann immer es möglich war, denn dieser Mann war ein Magier, soviel stand fest. In engen Sackgassen, in denen zerlumpte Kinder und zahnlose Greise dicht gedrängt auf dem staubigen Boden kauerten, stieg er auf eine kleine, improvisierte Bühne; und wenn er mit dem Erzählen begann, blieben sogar die vielen umherstreunenden Kühe der Stadt stehen und spitzten die Ohren, während die Affen auf den Hausdächern anerkennend schnatterten und die Papageien in den Bäumen seine Stimme nachahmten.

Zuweilen sah Harun in seinem Vater so etwas wie einen Jongleur, denn im Grunde bestanden Raschids Erzählungen aus vielen verschiedenen Geschichten, mit denen er kunstfertig jonglierte und die er geschickt in schwindelnd schnellem Wirbel tanzen ließ, ohne je einen Fehler zu machen.

Woher kamen bloß all diese Erzählungen? Es schien, als brauche Raschid nur die Lippen zu einem breiten, roten Lächeln zu öffnen, und schon kamen nagelneue Märchen heraus, Märchen mit Hexen, Liebesgeschichten, Prinzessinnen, bösen Onkels, dicken Tanten, schnauzbärtigen Gangstern in gelbkarierten Hosen, phantastischen Szenerien, Feiglingen, Helden, Kämpfen und einem halben Dutzend melodischer Ohrwürmer. »Alles kommt irgendwoher«, folgerte Harun, »also können auch diese Geschichten nicht aus der leeren Luft kommen - oder?«

Wenn er dem Vater jedoch diese wichtigste aller Fragen stellte, kniff der Schah von Bla seine (offen gestanden) leicht vorquellenden Augen ein wenig zusammen, tätschelte sich den Wabbelbauch, schob sich den Daumen zwischen die Lippen und machte dabei alberne Trinkgeräusche, gluck-gluck-gluck. Harun haßte es, wenn sich der Vater so aufführte. »Nein, nein, hör auf! Woher kommen die Geschichten wirklich?« fragte er beharrlich weiter, und Raschid ließ die Augenbrauen geheimnisvoll auf und ab tanzen und machte dazu Hexenfinger.

»Aus dem großen Meer der Geschichten«, antwortete er dann. »Und wenn ich genug von dem heißen Erzählwasser getrunken habe, steh ich so richtig unter Dampf und komme auf Touren.«

Harun hielt diese Erklärung für höchst unbefriedigend. »Und wo bewahrst du das heiße Wasser auf?« erkundigte er sich schlau. »In Thermosflaschen vielleicht? Also ich hab hier noch keine gesehen.«

»Es kommt aus einem unsichtbaren Hahn, den einer von den Wasser-Dschinns installiert hat«, antwortete Raschid mit ernster Miene. »Man muß ein Abonnement erwerben.«

»Und wie kriegt man ein Abonnement?«

»Ach, weißt du«, entgegnete der Schah von Bla, »das ist Zu-schwierig-zu-erklären.«

»Also«, bemerkte Harun dazu verdrossen, »einen Wasser-Dschinn hab ich bisher auch noch nicht gesehen.« Raschid zuckte gleichmütig die Achseln. »Den Milchmann hast du auch noch nie gesehen, weil du immer viel zu spät aufstehst; seine Milch aber, die trinkst du trotzdem gern. Und nun hör freundlicherweise auf mit deinem ständigen Wenn und Aber und freu dich an den Geschichten, die dir gefallen.« Und damit hatte sich´s.

Nur daß Harun eines Tages eine Frage zuviel stellte und daraufhin die Hölle losbrach.

 


Die Khalifas wohnten im Erdgeschoß eines kleinen Hauses mit rosa Mauern, lindgrünen Fenstern und verschnörkelten Metallgeländern an den blaugestrichenen Balkons - lauter Dinge, die es in Haruns Augen eher wie einen Kuchen als wie ein Gebäude aussehen ließen. Es war kein großartiges Haus, ganz anders als die Wolkenkratzer, in denen die Allerreichsten wohnten; aber es war auch nicht so elend wie die Behausungen der Armen. Die Armen wohnten in baufälligen Hütten aus Pappkartons und Plastikplatten, die nur durch die Verzweiflung zusammengehalten wurden. Und dann gab es natürlich die Allerärmsten, die überhaupt kein Obdach hatten, sondern auf dem Pflaster der Straßen und in Ladeneingängen schliefen und den einheimischen Gangstern sogar dafür noch Geld bezahlen mußten. Die Wahrheit war also, daß Harun sich glücklich schätzen durfte; aber das Glück hat leider die Angewohnheit, sich ohne jede Vorwarnung plötzlich davonzumachen. Soeben hat man noch einen Glücksstern, der über einen wacht, und im nächsten Moment hat er sich schon wieder verkrümelt.

Die meisten Bewohner der Traurigen Stadt lebten in Großfamilien; die Kinder der Armen jedoch wurden krank und hungerten, während die Kinder der Reichen sich überfraßen und um das Geld ihrer Eltern stritten. Dennoch wollte Harun wissen, warum seine Eltern nicht mehr Kinder hatten. Die einzige Antwort aber, die er von Raschid erhielt, war eigentlich gar keine richtige Antwort: »In dir, kleiner Harun Khalifa, steckt mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist.«

Ja, aber was sollte denn das nun wieder heißen?

»Wir haben unsere gesamte Quote an Kindermaterial verbraucht, ganz allein um dich zu machen«, erklärte Raschid. »Das ist alles in dich hineingepackt, genug für mindestens vier bis fünf Kinder. Jawohl, mein Junge, in dir steckt mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen ist.«

Verständliche Antworten waren nicht gerade eine Spezialität Raschid Khalifas, der niemals eine Abkürzung einschlug, wenn es einen langen, gewundenen Umweg gab. Von Soraya erhielt Harun eine verständlichere Antwort: »Wir haben es wahrhaftig versucht«, erklärte sie traurig, »doch dieses Kindermachen ist gar nicht so einfach. Denk doch nur an die armen Senguptas.«

Die Senguptas bewohnten das obere Stockwerk. Mr. Sengupta war Büroangestellter bei der City Corporation, besaß eine dünne, weinerliche Stimme und war so lattendürr und knauserig wie seine Frau Oneeta großzügig, wabbelig und lautstark. Da die beiden überhaupt keine Kinder hatten, widmete Oneeta Sengupta Harun mehr Aufmerksamkeit, als ihm eigentlich lieb war. Sie schenkte ihm Zuckerwerk (das war gut) und zerzauste ihm das Haar (das war nicht gut), und wenn sie ihn an ihren Busen drückte, fühlte er sich zu seiner größten Beunruhigung völlig von den üppig wogenden Fleischmassen umschlossen.

Mr. Sengupta ignorierte Harun, unterhielt sich aber ständig mit Soraya, was Harun ganz und gar nicht paßte, zumal der Kerl jedesmal, wenn er dachte, Harun könne ihn nicht hören, zu einer ausführlichen Kritik an Raschid dem Geschichtenerzähler ausholte. »Dein Ehemann, entschuldige, wenn ich das erwähne«, begann er mit seiner dünnen, weinerlichen Stimme, »steckt die Nase in die Luft und schwebt mit dem Kopf in den Wolken. Was sollen eigentlich all diese Geschichten? Das Leben ist weder ein Märchenbuch noch ein Scherzartikelladen. Immer nur Spaß machen, das führt doch zu nichts. Wozu sind Geschichten gut, die nicht einmal wahr sind?«

Harun, der eifrig vor dem Fenster lauschte, beschloß, nicht viel von Mr. Sengupta zu halten, wenn dieser Geschichten und Geschichtenerzähler haßte: Überhaupt nichts...

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Autor

Salman Rushdie, 1947 in Bombay geboren, ging mit vierzehn Jahren nach England und studierte später in Cambridge Geschichte. Mit seinem Roman »Mitternachtskinder«, für den er den Booker Prize erhielt, wurde er weltberühmt. 1996 wurde ihm der Aristeion-Literaturpreis der EU für sein Gesamtwerk zuerkannt. 2007 schlug ihn Königin Elizabeth II. zum Ritter. 2022 ernannte ihn das deutsche PEN-Zentrum zum Ehrenmitglied. 2023 wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.