Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Was man sät

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
240 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am09.09.20191. Auflage
Kurz vor Weihnachten bemerkt die zehnjährige Jas, dass der Vater ihr Kaninchen mästet. Sie ist sich sicher, dass es dem Weihnachtsessen zum Opfer fallen wird. Das darf nicht passieren. Also betet Jas zu Gott, er möge ihren älteren Bruder anstelle des Kaninchens nehmen. Am selben Tag bricht ihr Bruder beim Schlittschuhlaufen ins Eis ein und ertrinkt. Die Familie weiß: Das war eine Strafe Gottes, und alle Familienmitglieder glauben, selbst schuld an der Tragödie zu sein. Jas flieht mit ihrem Bruder Obbe und ihrer Schwester Hanna in das Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein, in eine Welt voll okkulter Spiele und eigener Gesetze, in der die Geschwister immer mehr den eigenen Sehnsüchten und Vorstellungswelten auf die Spur kommen.

Was bedeuten Familie, Glaube, Zusammenhalt? Wie kann man anderen beistehen, wenn man mit den eigenen Dämonen zu kämpfen hat? Lucas Rijneveld hat einen gewagten, einen kräftigen und lebendigen Roman geschrieben, der unsere innersten Gewissheiten hinterfragt.


Lucas Rijneveld, 1991 in Nordbrabant geboren, gilt als die wichtigste junge niederländische Stimme. 2015 veröffentlichte er den preisgekrönten Lyrikband Kalbskummer, 2019 folgte Phantomstute. Für seinen Debütroman Was man sät erhielt Rijneveld 2020 den International Booker Prize, sein zweiter Roman Mein kleines Prachttier stand monatelang auf der Bestsellerliste. Rijneveld lebt in Utrecht.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR10,99

Produkt

KlappentextKurz vor Weihnachten bemerkt die zehnjährige Jas, dass der Vater ihr Kaninchen mästet. Sie ist sich sicher, dass es dem Weihnachtsessen zum Opfer fallen wird. Das darf nicht passieren. Also betet Jas zu Gott, er möge ihren älteren Bruder anstelle des Kaninchens nehmen. Am selben Tag bricht ihr Bruder beim Schlittschuhlaufen ins Eis ein und ertrinkt. Die Familie weiß: Das war eine Strafe Gottes, und alle Familienmitglieder glauben, selbst schuld an der Tragödie zu sein. Jas flieht mit ihrem Bruder Obbe und ihrer Schwester Hanna in das Niemandsland zwischen Kindheit und Erwachsensein, in eine Welt voll okkulter Spiele und eigener Gesetze, in der die Geschwister immer mehr den eigenen Sehnsüchten und Vorstellungswelten auf die Spur kommen.

Was bedeuten Familie, Glaube, Zusammenhalt? Wie kann man anderen beistehen, wenn man mit den eigenen Dämonen zu kämpfen hat? Lucas Rijneveld hat einen gewagten, einen kräftigen und lebendigen Roman geschrieben, der unsere innersten Gewissheiten hinterfragt.


Lucas Rijneveld, 1991 in Nordbrabant geboren, gilt als die wichtigste junge niederländische Stimme. 2015 veröffentlichte er den preisgekrönten Lyrikband Kalbskummer, 2019 folgte Phantomstute. Für seinen Debütroman Was man sät erhielt Rijneveld 2020 den International Booker Prize, sein zweiter Roman Mein kleines Prachttier stand monatelang auf der Bestsellerliste. Rijneveld lebt in Utrecht.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518763025
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum09.09.2019
Auflage1. Auflage
Seiten240 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2058 Kbytes
Artikel-Nr.4867791
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe




Ich war zehn und zog meine Jacke nicht mehr aus. An jenem Morgen schmierte Mutter uns gegen den Frost der Reihe nach mit Eutersalbe ein, die aus einer gelben Bogena-Dose kam und normalerweise nur bei Rissen, Hornringen und blumenkohlartigen Wucherungen an den Zitzen der Milchkühe verwendet wurde. Der Dosendeckel war so fettig, dass man ihn nur mit einem Geschirrtuch abdrehen konnte; es roch nach gedünstetem Euter, das manchmal in dicken, zuvor mit Salz und Pfeffer bestreuten Scheiben in einem Topf Bouillon auf dem Herd vor sich hin köchelte und vor dem ich mich genauso ekelte wie vor der stinkenden Salbe auf meiner Haut. Trotzdem drückte Mutter ihre dicken Finger in unsere Gesichter wie in einen Käse, den sie befühlte und beklopfte, um festzustellen, ob die Rinde allmählich reifte. Unsere bleichen Wangen glänzten im Schein der fliegendreckübersäten Glühbirne in der Küche. Schon seit Jahren sollte es einen Lampenschirm dafür geben, einen schönen mit Blumen, aber wenn wir im Dorf einen entdeckten, wollte Mutter sich lieber noch weiter umsehen. Das tat sie nun schon seit drei Jahren. An jenem Morgen, zwei Tage vor Weihnachten, spürte ich ihre fettigen Daumen in meinen Augenhöhlen, und einen Moment lang hatte ich Angst gehabt, dass sie zu fest drücken würde, dass meine Augäpfel wie Murmeln nach innen kullern würden. Dass sie sagen würde: »Das kommt davon, wenn du immer so durch die Gegend schaust und den Blick nie still hältst, wie ein guter Gläubiger es tut, der zu Gott aufschaut, als könne sich der Himmel jeden Moment öffnen.« Aber der Himmel öffnete sich hier höchstens zu einem Schneesturm, nichts, auf das man dümmlich starren müsste.

In der Mitte des Frühstückstischs stand ein geflochtenes Brotkörbchen, darin eine Serviette mit Weihnachtsengeln. Sie hielten eine Trompete oder einen Mistelzweig schützend vor ihren Pimmel; selbst wenn ich die Serviette gegen das Licht der Glühbirne hielt, konnte ich nicht erkennen, wie er aussah, ich tippte auf eine aufgerollte Fleischwurstscheibe. Auf der Papierserviette hatte Mutter das Brot sorgfältig ausgelegt: Weißbrot, Vollkorn mit Mohn und Rosinenstollen. Über den knusprigen Rücken des Stollens hatte sie durch ein Sieb akkurat Puderzucker rieseln lassen, wie der erste leichte Schnee, der heute Morgen auf die Rücken der Blaarkoppen fiel, bevor wir sie von der Weide in den Stall trieben. Der Brottütenclip lag wie immer auf der Zwiebackdose, der ging sonst verloren, und Mutter fand, eine zugeknotete Tüte sehe traurig aus.

»Erst herzhaft und dann süß«, sagte sie wie gewöhnlich. Das war die Regel, dann wurden wir groß und stark, so groß wie der Riese Goliath und so stark wie Simson aus der Bibel. Außerdem mussten wir jeden Morgen ein großes Glas frische Milch trinken, die meist schon ein paar Stunden aus dem Tank war und lauwarm und manchmal noch eine gelbliche Rahmschicht hatte, die am Gaumen kleben blieb, wenn man zu langsam schluckte. Am besten kippte man die Milch mit geschlossenen Augen hinunter, was Mutter als ehrfurchtslos bezeichnete, obwohl in der Bibel nichts über schnelles oder langsames Milchtrinken stand oder darüber, ob man den Körper einer Kuh schmeckte oder nicht. Ich nahm eine Scheibe Weißbrot aus dem Brotkörbchen und legte sie auf meinen Teller, das obere Ende mit den beiden Wölbungen nach unten, so dass sie aussah wie ein bleicher Kinderpopo, besonders wenn man sie zur Hälfte mit Schokoladencreme beschmierte, was meine Brüder und ich immer lustig fanden, sie sagten jedes Mal: »Bist du wieder am Po- und Schiet-Lecken.« Aber ich musste erst noch was Herzhaftes essen, bevor ich an die Schokocreme durfte.

»Wenn man Goldfische zu lange in einem dunklen Zimmer hält, werden sie weiß«, flüsterte ich Matthies zu und belegte mein Brot mit sechs Scheiben Kochwurst, die genau zwischen die Ränder der Brotscheibe passten. Du hast sechs Kühe, und zwei davon werden gegessen. Wie viele bleiben übrig? Ich hörte die Stimme des Lehrers in meinem Kopf bei allem, was ich aß. Warum diese blöden Rechenaufgaben mit Essen kombiniert wurden - mit Äpfeln, Torten, Pizzastücken und Keksen -, wusste ich nicht, jedenfalls hatte ich die Hoffnung aufgegeben, dass ich jemals würde rechnen können und dass mein Heft jemals blütenweiß sein würde, ohne einen einzigen roten Strich. So hatte ich auch ein Jahr dafür gebraucht, die Uhrzeit zu lernen - Vater saß Stunden mit mir am Küchentisch, die Übungsuhr aus der Schule vor sich, die er manchmal vor lauter Verzweiflung auf den Boden schmiss, wodurch das Uhrwerk raussprang und das Mistding klingelte und klingelte -, und noch immer verwandelten sich die Zeiger ab und an in die Regenwürmer, die wir mit einer Mistgabel aus der Erde hinter dem Kuhstall buddelten, um mit ihnen zu angeln. Die wanden sich auch nach allen Richtungen, wenn man sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, und erst wenn man sie ein paarmal antickte, gaben sie für kurze Zeit Ruhe, lagen in deiner Hand und waren wie diese süßen roten Erdbeerschnüre aus dem Bonbonladen van Luik.

»In Gesellschaft darf man nicht flüstern«, sagte meine Schwester Hanna, die neben Obbe mir gegenüber am Esstisch saß. Wenn sie etwas nicht gut fand, bewegte sie ihre Lippen von links nach rechts.

»Manche Wörter sind noch zu groß für deine kleinen Ohren, die passen da noch nicht rein«, sagte ich mit vollem Mund.

Obbe rührte gelangweilt mit dem Finger in seinem Milchglas, hielt ein Stück Haut in die Luft und wischte es rasch in die Tischdecke. Es blieb kleben wie weißlicher Schnodder. Ein ekliger Anblick, und ich wusste, die Decke könnte am nächsten Tag andersherum, mit der eingetrockneten Haut vor mir, liegen. Auf keinen Fall würde ich meinen Teller dann auf den Tisch stellen. Wir wussten alle, dass die Servietten nur zur Show dalagen und dass Mutter sie nach dem Frühstück glatt gestrichen wieder in die Küchenschublade zurücklegen würde, dass sie nicht für schmuddelige Finger und Münder bestimmt waren. Irgendwie hätte ich es auch jammerschade für die Engelchen gefunden, sie wie eine Mücke in der Faust zu zerdrücken, wodurch die Flügel brechen würden, oder ihr weißes Engelshaar mit Erdbeermarmelade zu beschmieren.

»Gerade weil ich so blass aussehe, muss ich raus«, flüsterte Matthies. Er lachte und steckte sein Messer äußerst konzentriert in den Teil des Duo-Penotti-Glases mit der weißen Schokolade, um nichts Braunes mitzukriegen. Duo Penotti gab es bei uns nur in den Ferien. Wir hatten uns schon seit Tagen darauf gefreut, und jetzt, die Weihnachtsferien hatten begonnen, war es endlich so weit - der schönste Moment kam, wenn Mutter die Schutzschicht aus Papier abzog, die Klebereste von den Rändern entfernte und uns einen Blick auf die braunen und weißen Flecken werfen ließ, als wäre es das einzigartige Fellmuster eines neugeborenen Kalbs. Wer in der jeweiligen Woche die besten Noten bekommen hatte, durfte sich als Erster aus dem Glas nehmen, ich kam immer als Letzte dran.

Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her, mit den Zehenspitzen kam ich noch nicht ganz bis auf den Boden. Am liebsten würde ich jeden von uns drinbehalten, wie Kochwurstscheiben im ganzen Haus verteilen. Der Lehrer der Gruppe 7 hatte gestern nicht umsonst in der Wochenzusammenfassung über den Südpol gesagt, dass manche Pinguine fischen gehen und nie mehr zurückkehren. Und auch wenn wir nicht am Südpol wohnten, kalt war es hier schon. So kalt, dass der See zugefroren und lauter Eis in den Kuhtränken war.

Neben unseren Frühstückstellern lagen für jeden zwei hellblaue Gefrierbeutel. Ich hielt einen hoch und sah Mutter fragend an.

»Zum Über-die-Socken-ziehen«, sagte sie mit einem Lächeln, das Soßenmulden in ihre Wangen grub, »dann bleibt die Wärme drin, und du bekommst auch keine nassen Füße.« Währenddessen machte sie das Frühstück für Vater fertig, der einer Kuh beim Kalben half; nach jeder Brotscheibe ließ sie das Messer zwischen Daumen und Zeigefinger durchgleiten, bis die Butter auf ihren Fingerkuppen saß, die sie danach mit der stumpfen Seite der Messerklinge abkratzte. Vater hockte jetzt bestimmt auf einem Melkschemel neben einer Kuh und nahm ihr die Biestmilch ab, kleine Wölkchen über dem dampfenden Rücken....


mehr

Autor

Lucas Rijneveld, 1991 in Nordbrabant geboren, gilt als die wichtigste junge niederländische Stimme. 2015 veröffentlichte er den preisgekrönten Lyrikband Kalbskummer, 2019 folgte Phantomstute. Für seinen Debütroman Was man sät erhielt Rijneveld 2020 den International Booker Prize, sein zweiter Roman Mein kleines Prachttier stand monatelang auf der Bestsellerliste. Rijneveld lebt in Utrecht.
Was man sät