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Annas Maske

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
113 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am09.09.20191. Auflage
»Sie war doch nicht Carmen. Sie spielte sie nur. Aber jetzt, jetzt war sie's wohl doch.« Die Opernsängerin Anna Sutter, deren berühmteste Rolle die »Carmen« ist, wird von einem verschmähten Liebhaber getötet, der richtet sich gleich darauf selbst, während der wirkliche Liebhaber Zeuge der Tat wird.

Wüste Erfindung? Nein, Alain Claude Sulzers Novelle beruht auf einer wahren Begebenheit. Er hat dieses Drama recherchiert und um einige Vermutungen erweitert. Entstanden ist eine »novellistische Faction-Prosa von großem erzählerischem Raffinement« (Frankfurter Allgemeine Zeitung), »ein Stück Verführung eines glänzenden Erzählers« (Saarbrücker Zeitung).



Alain Claude Sulzer, geboren 1953, lebt als Schriftsteller in Basel und im Elsaß. 2006 erschien Sulzers viel gelobter Roman Ein perfekter Kellner, der in Frankreich 2008 mit dem Prix Médicis étranger ausgezeichnet wurde.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

Klappentext»Sie war doch nicht Carmen. Sie spielte sie nur. Aber jetzt, jetzt war sie's wohl doch.« Die Opernsängerin Anna Sutter, deren berühmteste Rolle die »Carmen« ist, wird von einem verschmähten Liebhaber getötet, der richtet sich gleich darauf selbst, während der wirkliche Liebhaber Zeuge der Tat wird.

Wüste Erfindung? Nein, Alain Claude Sulzers Novelle beruht auf einer wahren Begebenheit. Er hat dieses Drama recherchiert und um einige Vermutungen erweitert. Entstanden ist eine »novellistische Faction-Prosa von großem erzählerischem Raffinement« (Frankfurter Allgemeine Zeitung), »ein Stück Verführung eines glänzenden Erzählers« (Saarbrücker Zeitung).



Alain Claude Sulzer, geboren 1953, lebt als Schriftsteller in Basel und im Elsaß. 2006 erschien Sulzers viel gelobter Roman Ein perfekter Kellner, der in Frankreich 2008 mit dem Prix Médicis étranger ausgezeichnet wurde.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518764534
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum09.09.2019
Auflage1. Auflage
Reihen-Nr.3785
Seiten113 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1568 Kbytes
Artikel-Nr.4868802
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe

I

Stuttgart, den 4ten Juli 1910

Meine liebste Mama, ich bin erschüttert, ich muß Dir schreiben. Die Tränen netzen das Papier und das, was die Tinte Dir von der schrecklichen Tat, die sich hier zugetragen hat, berichten muß. Mir ist so weh ums Herz! Denn etwas ist bei uns geschehen, wofür ich mir zu einem nicht geringen Teil die Schuld zuschreibe, denn hätte ich anders gehandelt, so wäre es vielleicht nicht geschehen. Hätte ich die Tür doch niemals geöffnet, das Verbrechen wäre durch diese Tür nicht eingetreten.

Ein Wagen hielt vor dem Haus Schubartstraße Nr. 8, wo sich eine beträchtliche Anzahl von Neugierigen versammelt hatte. Man gedachte hier jener Frau, deren gewaltsames Ende seit dem Vorabend in aller Munde war. Der Tod der Sängerin besaß offenbar nicht weniger Anziehungskraft als ihre Auftritte in der Hofoper. Unter den Fenstern, hinter denen sich die Tragödie abgespielt hatte, verharrten nun alle in unruhiger, stummer Anteilnahme. Die Gegenwart eines Schutzmanns, den man damit beauftragt hatte, Ruhe und Ordnung zu gewährleisten, war zwar überflüssig, doch störte sie nicht.

Dem Wagen entstieg zuerst der Bildhauer Walther Weitbrecht, den man spät, aber noch nicht zu spät, mit der Abnahme der Totenmaske beauftragt hatte. Die Zeit, so hatte Weitbrecht kurz davor zu seinem jungen Assistenten gesagt, der dies nicht zum ersten Mal zu hören bekam, arbeite stets gegen sie, und um so unerbittlicher, je schlechter die klimatischen Bedingungen seien. Und diese waren jetzt im Juni besonders ungünstig. Die Hinterbliebenen seien aber leider fast alle der Meinung, ihre Arbeit lasse sich besser verrichten, wenn die Leiche bereits steif sei. Eine irrige Annahme, die die vordringlichste Pflicht des Abnehmers, dem unaufhaltsamen Verfall zuvorzukommen, empfindlich erschwere. Inzwischen waren mehr als 24 Stunden vergangen.

Unser Objekt läuft uns leichter davon, wenn es tot ist, als wenn es noch lebt; und je später wir kommen, desto geschwinder ist es. Hat der Prozeß der Verwesung einmal eingesetzt, dann adieu du schöne Leiche. Man rief ihn fast immer zu spät. Entsprechend entstellt waren die Abbilder, die man erhielt. Mit wenigen Ausnahmen. Er freue sich auf Anna Sutter, hatte Weitbrecht im Wagen gesagt, wenn er ihre Bekanntschaft auch lieber unter für die Dame vorteilhafteren Umständen gemacht hätte. Aber das Leben läßt uns keine Wahl.

Als sich der Kutscher erbot, ihnen beim Transport der mitgeführten Kiste behilflich zu sein, die sie mit vereinten Kräften aus dem Wagen gehoben hatten und nun in den ersten Stock transportieren wollten, lehnte Weitbrecht ungnädig ab.

Die beiden Männer, deren Auftrag offenbar bekannt war und die demgemäß mit gewichtigen Mienen auftraten, verschwanden im Haus. Sie begaben sich in den ersten Stock, wo sie von Pauline, Annas Zofe, erwartet wurden, die zu diesem Zeitpunkt allein bei der Toten weilte. Ihre Augen waren vom vielen Weinen gerötet. Anna Sutters Schwester, die in Brunnen (im Kanton Schwyz) lebte und an die man gleich nach dem Unglück depeschiert hatte, war bereits am nächsten Tag in Stuttgart eingetroffen, doch da ihre Anwesenheit bei der Abnahme der Totenmaske laut Weitbrecht nicht erforderlich war, hatte sie sich für einige Stunden ins Hotel zurückgezogen. Sie betrat die Wohnung erst wieder, als Weitbrecht und sein junger Assistent ihre Arbeit längst beendet hatten. Einige leichte Fissuren und Verfärbungen auf der Haut der Toten, die an das Handwerk des Bildhauers hätten erinnern können, waren von einem Maskenbildner der Königlichen Hofoper mit viel Geschick überschminkt worden.

Die zehnjährige Tochter der Verstorbenen, die sich - wie auch die Zofe - zum Zeitpunkt des Dramas in der Wohnung aufgehalten hatte, war bei dem Kammersänger Peter Müller untergebracht worden.

Den im Geburtsregister der Stadt Wil eingetragenen, am 11.November 1902 illegitim in München geborenen Knaben mit Namen Felix Gustav erwähnt die »Schwäbische Kronik«, die ansonsten ausführlich über das dramatische Geschehen informierte, nicht; vielleicht aus Rücksicht gegenüber der Toten, vielleicht aber auch, weil sie einfach keine Kenntnis von seiner Existenz besaß. Er lebte seit seiner Geburt von der Mutter getrennt als Pflegekind bei einer befreundeten Familie in München.

Die Aufgabe der »Kopfabschneider«, wie man die Vertreter dieses Berufsstands in Wien einst nannte, bestand darin, ein Abbild des Toten zu geben, das den Betrachter an den Lebenden erinnerte, mit dem der Tote in Wirklichkeit eine meist nur noch sehr entfernte Ähnlichkeit besaß. Angestrebt wurde ein letztes Porträt, ein Bild endgültiger Sammlung. Getanes und Gedachtes, Erlebtes und Gefühltes zu einem Ideal verschmolzen, zu einem Vorbild erstarrt. Das Gipsgesicht würde vereinen, was und worüber je in jenem Kopf gedacht worden war. Das Gesicht war natürlich farblos. Kolorierungen, wie man sie aus anderen Kulturen kennt, sind unzulässig. Ein abgenommenes Gesicht muß für die Ewigkeit in Stein gehauen sein. Nicht widerspiegeln sollte sich, wenn irgend möglich, der durchlittene Todeskampf. Eine Brille ist auf einem Totenantlitz nicht gestattet. Im Tod sind alle gleich und also alle blind. Unheimlich an einer Totenmaske ist, daß sie außerhalb jeder gewohnten Vergänglichkeit verharrt. Ihr bleibt die Grimasse des Tages erspart, schreibt ein Kenner.

Weitbrecht und Kroll, sein junger Assistent, betraten das Sterbezimmer. Irgend jemand, Arzt oder Zofe, hatte die Augenlider der Toten zugedrückt und ihr Kinn hochgebunden. Ihr Kopf war unverletzt geblieben, denn sie war durch zwei Schüsse in die Brust getötet worden.

Anna Sutter lag, bis unters Kinn zugedeckt, auf dem Bett in ihrem Schlafzimmer, die Hände auf dem Bauch gefaltet, zwischen den Fingern eine kleine Rose von sonderbarer Färbung, ganz ohne Zweifel ein Exemplar der seltenen Variegata di Bologna, wie Weitbrecht, ein Rosenkenner, erstaunt feststellte. Auch er hatte die Sängerin in der Rolle der Carmen gesehen, die sie seit zehn Jahren immer wieder und mit nicht nachlassendem Erfolg verkörpert hatte. Auch er erinnerte sich an die schnelle, zuckende Handbewegung, mit der sie Don José, dem glücklosen Liebhaber, jene Blume zugeworfen hatte, die für den weiteren Verlauf seines Lebens eine geradezu sinnbildliche Bedeutung haben sollte; kaum weniger schnell als die rote Rose war auch die Liebe der Zigeunerin verkümmert und verblüht. Mochte sich die Rose, um die sich ihre erstorbenen Glieder jetzt für immer geschlossen hatten, durch ihre Seltenheit und ihren Duft noch so sehr von jener unterscheiden, die sie auf der Bühne in ihren Händen gehalten hatte, so wirkte diese doch kaum weniger frivol als jene, die, wie Weitbrecht vermutete, wohl aus Seide gewesen war.

Die Leichenstarre war längst eingetreten und würde sich frühestens gegen Nachmittag wieder lösen. Wäre die Leiche noch weich, so Weitbrecht, könnte er leichter an ihr arbeiten. Die Leute, die glauben, von einem weichen Gesicht lasse sich nur schwerlich ein Abdruck nehmen, haben keine Ahnung. Das Gegenteil trifft zu. Vor der völligen Erstarrung sind Leichen gefügige Wesen, sagte er. Erst dann, wenn der Rigor mortis eingetreten ist, meist spätestens sechs Stunden nach dem Tod, beginnen sie in ihr unbewegtes Inneres zu starren.

Auf den ersten Blick deutete nichts auf die dramatischen Ereignisse des vergangenen Tages hin. Wäre die Tote nicht gewesen, hätte man glauben können, hier werde gerade ein Umzug vorbereitet. Die Teppiche, Sessel und Stühle hatte man entfernt, was dem Zimmer ein kahles, der Situation auf theatralische Weise aber angemessenes Aussehen verlieh. Es war, als sei auch aus den Wänden, an denen lediglich ein großer Schrank und eine Kommode standen, alles Leben gewichen.

Der Blick des jungen Assistenten fiel zufällig auf eine Verdichtung dunkler Punkte oberhalb der hellgrauen Paneele: Es handelte sich dabei zweifellos um Blut, das gegen die Wand gespritzt und getrocknet war und sich entweder nicht vollständig hatte entfernen lassen oder von der Zofe übersehen worden war. Blut von wem? Von ihr, von ihm oder von beiden?

Nachdem Weitbrecht die Decke über der Toten zurückgeschlagen hatte, machten sich die beiden Männer an die Arbeit. Im Gegensatz zur Wirkung, die Anna Sutter von der Bühne herab gewiß nicht nur auf ihn gehabt hatte, schien ihm ihr Körper jetzt, in ihren eigenen Räumen, auf diesem Bett, in ihrem Sterbezimmer gänzlich zurückgenommen, fast schmächtig. Als Weitbrecht das Wort an seinen jungen Assistenten richtete, wandte dieser seinen Blick endlich von der Wand.

Er schien von dem Anblick der berühmten Sängerin beeindruckt zu sein. Hatte er sie jemals auf der Bühne gesehen? Weitbrecht hat ihn weder jetzt noch später danach gefragt.

Weitbrecht bat die Zofe, die unter der Tür stand und auf Orders wartete, einen Eimer Wasser und ein Tuch zu bringen.

Stuttgart, den 4ten Juli 1910

Hätte ich die Tür niemals geöffnet, so wäre das Verbrechen durch diese Tür nicht eingetreten, und mein liebes Sutterle lebte noch. Ich wollte Dir schon alle die Tage schreiben, denn ich fürchte, Du hast schon auf anderem Wege von dem furchtbaren Unglück vernommen, das sich hier unter meinen Augen ereignet hat und von dem die ganze Stadt seit Tagen spricht. Wenn nicht, dann um so besser.

Wenn ich Dir bisher nicht schrieb, so deshalb, weil ich kaum wußte, wo mir der Kopf stand, und weil ich, wie mir der Doktor sagte, ganz unter dem Eindruck des Geschehens stand und stehe. Ich war erschüttert und bin es immer noch und voll wirrer Gedanken. Das machte es mir kaum möglich,...
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