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Alles fließt

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
256 Seiten
Deutsch
Ullstein Taschenbuchvlg.erschienen am27.09.2019Auflage
Nach dreißig Jahren Gefängnis und Lager kehrt Iwan Grigorjewitsch in die Freiheit zurück. Er zieht nach Moskau, dann weiter nach Leningrad, findet Arbeit und eine Frau. Wieder gehen die Jahre dahin - und Iwan versucht zu verstehen, nach welchen Gesetzen das Leben funktioniert. Von der russischen Revolution bis hin zur Tauwetterperiode spannt Wassili Grossman den Bogen um Fragen nach Staat und Individuum, Verbrechen und Strafe, Schuld und Unschuld. Im Mittelpunkt steht dabei sein gütiger Blick auf die Fehlbarkeit des Menschen.

Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) war zunächst einer der anerkanntesten linientreuen Schriftsteller der Sowjetunion. Die Erfahrungen während des Krieges, die Katastrophe der europäischen Juden, die auch ihn unmittelbar traf, sowie die vielen Schicksale, denen er als Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern begegnete, veränderten sein Leben jedoch von Grund auf und er wurde zu einem der unbeugsamsten Chronisten seiner Zeit. Sein großes Stalingrad-Epos, dessen zweiter Band Leben und Schicksal 1961 beschlagnahmt wurde, erschien erst 16 Jahre nach seinem Tod in einem russischen Exilverlag in der Schweiz und wurde von dort aus in 20 Sprachen übersetzt. Dieser als Meisterwerk der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts geltende Roman erschien 2007 in einer vollständig überarbeiteten und ergänzten Neuausgabe und wurde von der Presse wie von den Lesern als Wiederentdeckung gefeiert. Inzwischen liegen unter dem Titel Tiergarten außerdem einige Erzählungen auf Deutsch vor.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR19,99
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR24,99

Produkt

KlappentextNach dreißig Jahren Gefängnis und Lager kehrt Iwan Grigorjewitsch in die Freiheit zurück. Er zieht nach Moskau, dann weiter nach Leningrad, findet Arbeit und eine Frau. Wieder gehen die Jahre dahin - und Iwan versucht zu verstehen, nach welchen Gesetzen das Leben funktioniert. Von der russischen Revolution bis hin zur Tauwetterperiode spannt Wassili Grossman den Bogen um Fragen nach Staat und Individuum, Verbrechen und Strafe, Schuld und Unschuld. Im Mittelpunkt steht dabei sein gütiger Blick auf die Fehlbarkeit des Menschen.

Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) war zunächst einer der anerkanntesten linientreuen Schriftsteller der Sowjetunion. Die Erfahrungen während des Krieges, die Katastrophe der europäischen Juden, die auch ihn unmittelbar traf, sowie die vielen Schicksale, denen er als Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern begegnete, veränderten sein Leben jedoch von Grund auf und er wurde zu einem der unbeugsamsten Chronisten seiner Zeit. Sein großes Stalingrad-Epos, dessen zweiter Band Leben und Schicksal 1961 beschlagnahmt wurde, erschien erst 16 Jahre nach seinem Tod in einem russischen Exilverlag in der Schweiz und wurde von dort aus in 20 Sprachen übersetzt. Dieser als Meisterwerk der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts geltende Roman erschien 2007 in einer vollständig überarbeiteten und ergänzten Neuausgabe und wurde von der Presse wie von den Lesern als Wiederentdeckung gefeiert. Inzwischen liegen unter dem Titel Tiergarten außerdem einige Erzählungen auf Deutsch vor.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783843716758
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2019
Erscheinungsdatum27.09.2019
AuflageAuflage
Seiten256 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2457 Kbytes
Artikel-Nr.4887833
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1

Der Zug aus Chabarowsk erreichte Moskau gegen neun Uhr morgens. Der junge Mann im Schlafanzug kratzte sich den struppigen Kopf und schaute durchs Fenster in die herbstliche Morgendämmerung. Gähnend wandte er sich an die Leute, die mit Handtuch und Seifendose im Gang standen:

»Bürger, wer ist der Letzte?«

Man erklärte ihm, dass hinter dem Mann, der eine zerquetschte Zahnpastatube und ein Stück Seife, an dem Zeitungspapier klebte, in der Hand hielt, eine füllige Bürgerin den letzten Platz in der Schlange einnehme.

»Warum ist nur eine Toilette offen?«, fragte der junge Mann. »Wir erreichen doch die Endstation, die Hauptstadt, und die Schaffner sind nur mit Warenumsatz beschäftigt, für eine anständige Bedienung der Passagiere haben sie keine Zeit.«

Ein paar Minuten später erschien eine dicke Frau im Schlafrock, und der junge Mann sagte zu ihr:

»Bürgerin, ich komme nach Ihnen, ich gehe noch einmal auf meinen Platz, um nicht im Gang herumzustehen.«

Im Abteil öffnete der junge Mann seinen orangefarbenen Koffer und betrachtete entzückt seine Habe.

Der eine von seinen Nachbarn, mit dem breiten Stiernacken, schnarchte, der zweite, rotwangig, kahl und jung, sah die Papiere in seiner Aktentasche durch, und der dritte, ein hagerer alter Mann, saß da, den Kopf in die braunen Fäuste gestützt, und schaute aus dem Fenster.

Der junge Mann fragte den Mitreisenden mit den roten Backen:

»Sie werden wohl nicht weiterlesen, oder? Ich müsste das Buch in den Koffer packen.«

Er wollte, dass der Nachbar Stielaugen nach seinem Koffer machte. Der Koffer enthielt Hemden aus Kunstseide, das »Kleine philosophische Wörterbuch«, eine Badehose und eine weißgerandete Sonnenbrille. Am Rand lagen, von einem Provinzblättchen zugedeckt, selbstgebackene graue Süßfladen aus seinem Dorf.

Der Nachbar antwortete:

»Bitte sehr, dieses Buch, Eugénie Grandet , habe ich schon voriges Jahr im Sanatorium gelesen.«

»Ganz schön packend, das muss ich sagen«, erwiderte der junge Mann und verstaute das Buch im Koffer.

Sie hatten während der Fahrt Karten gespielt und beim Essen und Trinken über Filme, Schallplatten, Möbelgarnituren, Sanatorien in Sotschi und die sozialistische Landwirtschaft gesprochen, hatten diskutiert, wer die besseren Stürmer habe - »Spartak« oder »Dynamo« ...

Der rotbackige Kahlkopf war Gewerkschaftsausbilder in einer Kreisstadt, der Verstrubbelte kehrte aus dem Urlaub, den er auf dem Land verbracht hatte, nach Moskau zurück, wo er als Wirtschaftsfachmann in der Obersten Planbehörde der RSFSR angestellt war.

Der dritte Mitreisende, ein Bauleiter aus Sibirien, der jetzt auf der unteren Liege schnarchte, missfiel ihnen wegen seines ungehobelten Benehmens: Er fluchte und rülpste nach dem Essen; als er erfahren hatte, dass sein Reisegefährte in der Abteilung für Wirtschaftswissenschaften der Obersten Planbehörde arbeitete, hatte er gefragt:

»Politische Ökonomie, ja klar, da geht´s doch darum, wie die Kolchosbauern vom Land in die Stadt fahren, um von den Arbeitern Brot zu kaufen.«

Einmal hatte er sich an einem Eisenbahnknotenpunkt, wo er sich schnell einen Vermerk hatte holen müssen, wie er sagte, im Bahnhofsbuffet betrunken und seine Reisegefährten dann lange am Einschlafen gehindert; immerzu hatte er laut schwadroniert:

»Hält man sich ans Gesetz, dann erreicht man in unserer Branche gar nichts, und wenn man den Plan erfüllen will, dann muss man arbeiten, wie es das Leben verlangt: Gibst du mir, so geb ich dir. Unter dem Zaren hieß das Privatinitiative , und bei uns heißt es: Lass den Menschen leben, er will leben ; das ist Volkswirtschaft! Meine Eisenflechter wurden ein ganzes Quartal lang, bis der neue Kredit kam, in den Rechnungsbüchern als Krippenpersonal geführt. Das Gesetz ist gegen das Leben, aber das Leben verlangt, was es will! Hast du den Plan erfüllt, bekommst du eine Lohnzulage und eine Prämie, aber sie können dir auch mal eben zehn Jahre aufbrummen. Das Gesetz ist lebenswidrig und das Leben gesetzeswidrig.«

Die jungen Leute schwiegen, und als der Bauleiter verstummt oder vielmehr nicht verstummt war, sondern im Gegenteil laut schnarchte, verurteilten sie ihn:

»Auf solche Leute sollte man auch ein wachsames Auge haben. Die tarnen sich als Kumpel.«

»Ein Schacherer. Ohne Prinzipien. Wie ein Abrahamssohn.«

Es verdross sie, dass sie dieser ungehobelte Mann aus der tiefsten Provinz so verächtlich behandelte.

»Bei mir auf dem Bau arbeiten Häftlinge; Leute wie euch nennen sie Dünnbrettbohrer, wenn mal die Zeit kommt und man untersuchen wird, wer den Kommunismus aufgebaut hat, dann stellt sich plötzlich heraus, dass ihr geackert habt«, hatte der Bauleiter einmal zu ihnen gesagt und war ins Nachbarabteil gegangen, um Schafskopf zu spielen.

Der Vierte im Abteil reiste offensichtlich selten im Platzkartenwagen. Er saß meistens da, die Hände auf die Knie gelegt, als wollte er die Flicken auf seiner Hose verdecken. Die Ärmel seines schwarzen Satinhemdes endeten irgendwo zwischen Ellbogen und Handgelenk, und die weißen Knöpfchen am Kragen und auf der Brust ließen es wie ein Kinderhemd wirken. Diese Verbindung von weißen Kinderknöpfchen an der Kleidung und den grauen Schläfen sowie dem gemarterten Blick aus Greisenaugen hatte etwas Komisches und Rührendes.

Als der Bauleiter in gewohntem Befehlston sagte:

»Väterchen, setz dich vom Tisch weg, ich will jetzt Tee trinken«, war der Alte wie ein Soldat aufgesprungen und auf den Gang hinausgegangen.

In seinem Holzkoffer mit der abgeblätterten Farbe lag neben der vom Waschen vergrauten Wäsche ein Laib krümeligen Brotes. Er rauchte Machorka und ging, nachdem er sich eine Papirossa gedreht hatte, zum Qualmen auf die Plattform am Wagenende, um die Nachbarn nicht mit dem beißenden Rauch zu belästigen.

Manchmal boten ihm die Mitreisenden ein Stück Wurst an, und der Bauleiter spendierte ihm einmal ein hartes Ei und ein Gläschen Moskowskaja.

Er wurde sogar von denen geduzt, die halb so alt waren wie er, und der Bauleiter witzelte ununterbrochen, das »Väterchen« werde sich in der Hauptstadt als Junggeselle auf Freiersfüßen zu erkennen geben und eine junge Frau heiraten.

Einmal kam man im Abteil auf die Kolchosen zu sprechen, und der junge Wirtschaftsfachmann zog über die Faulpelze auf dem Land her.

»Ich habe mich gerade mit eigenen Augen davon überzeugt, wie sie sich neben dem Verwaltungsbüro versammeln und sich hin und wieder mal kratzen. Der Kolchosvorsitzende und die Brigadeführer geraten zehnmal in Schweiß, bis sie die Leute zur Arbeit getrieben haben. Die Kolchosbauern aber beklagen sich, dass man ihnen unter Stalin überhaupt keinen Tagelohn bezahlt habe und sie auch jetzt kaum etwas bekämen.«

Der Gewerkschaftsausbilder mischte nachdenklich die Karten und pflichtete ihm bei:

»Wofür sollte man diese Freunde bezahlen, wenn sie das Soll nicht erfüllen. Man muss sie erziehen, und zwar so« - er schüttelte seine große weiße, von der Arbeit entwöhnte Bauernfaust in der Luft.

Der Bauleiter strich sich über seine dicke Brust mit den speckigen Ordensbändern.

»An der Front hatten wir Brot zu essen, das russische Volk hat uns versorgt. Und keiner hat es erzogen.«

»Das stimmt«, sagte der Wirtschaftsfachmann. »Der springende Punkt ist aber, dass wir russische Menschen sind. Das ist doch was: der russische Mensch!«

Der Ausbilder zwinkerte lächelnd seinem Reisebekannten zu, als wollte er sagen: Ein Russe ist sozusagen der große Bruder, der Erste unter Gleichen!

»Daher kommt ja das Übel«, sagte der junge Wirtschaftsfachmann, »es sind doch Russen! Keine Angehörigen einer nationalen Minderheit. Einer ist auf mich losgegangen: Fünf Jahre haben wir Lindenblätter gegessen, seit ´47 haben wir keinen Tagelohn mehr bekommen. Sie arbeiten nicht gerne. Wollen nicht begreifen, dass jetzt alles vom Volk abhängt.«

Er blickte sich zu dem Graukopf um, der schweigend zuhörte, und sagte:

»Nichts für ungut, Väterchen. Ihr erfüllt eure Arbeitspflicht nicht, da hat der Staat eben Interesse an euch gezeigt.«

»Ach was«, sagte der Bauleiter. »Kein Bewusstsein, aber jeden Tag essen wollen.«

Dieses Gespräch führte zu keinem Ergebnis wie die meisten Unterhaltungen im Zug. Ein Major der Luftwaffe mit blitzenden Goldzähnen schaute ins Abteil und sagte vorwurfsvoll zu den jungen Leuten:

»Was ist denn mit euch los, Genossen? Wer will schon arbeiten?«

Sie gingen zu den Nachbarn, um die Partie zu Ende zu spielen.

Doch da war die weite Reise vorbei ... Die Fahrgäste packten ihre Pantoffeln in die Koffer und räumten auf den Tischchen liegende trockene Brotstücke, bis auf den bläulichen Knochen abgenagte Hühnerbeine und blasse Wurstreste in der Pelle zusammen.

Schon waren die mürrischen Schaffnerinnen durchgegangen und hatten das zerknüllte Bettzeug eingesammelt.

Bald würde sich die Waggonwelt...
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Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) war zunächst einer der anerkanntesten linientreuen Schriftsteller der Sowjetunion. Die Erfahrungen während des Krieges, die Katastrophe der europäischen Juden, die auch ihn unmittelbar traf, sowie die vielen Schicksale, denen er als Korrespondent der Armeezeitung Roter Stern begegnete, veränderten sein Leben jedoch von Grund auf und er wurde zu einem der unbeugsamsten Chronisten seiner Zeit.Sein großes Stalingrad-Epos, dessen zweiter Band Leben und Schicksal 1961 beschlagnahmt wurde, erschien erst 16 Jahre nach seinem Tod in einem russischen Exilverlag in der Schweiz und wurde von dort aus in 20 Sprachen übersetzt. Dieser als Meisterwerk der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts geltende Roman erschien 2007 in einer vollständig überarbeiteten und ergänzten Neuausgabe und wurde von der Presse wie von den Lesern als Wiederentdeckung gefeiert. Inzwischen liegen unter dem Titel Tiergarten außerdem einige Erzählungen auf Deutsch vor.