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Weiter atmen

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
140 Seiten
Deutsch
Suhrkamp Verlag AGerschienen am06.04.20201. Auflage
Franz Reichelt steht 1912, in seinen selbstgebauten Fallschirm gewandet, auf dem Eiffelturm und zögert, sein Atem wölkt sich in der Kälte, in den alten Schwarzweißaufnahmen »pulsieren Chemie und Kratzspuren wie dichter Schneefall«.

Robika, der ein Siebtklässler wäre, wenn er eine Vorstellung von der Zeit hätte und in die Schule ginge, hat eine Obsession: Jede Woche sucht er sich im Laden von Mama Roza sieben weiße Seifen aus. Als der Laden einmal geschlossen ist, fährt Robikas Mutter mit ihrem untröstlichen Kind auf dem Fahrrad in die Stadt. Auf dem Rückweg haben sie einen Unfall, Robika muss geröntgt werden, eine Seife fest in jeder Hand. Aber alles ist gut, und er darf: Weiter atmen!

Ob sie von einer syrischen Flüchtlingsfamilie erzählt, die an der ungarischen Grenze strandet, von Rimbaud und denen, die ihn erforschen, von Liebenden, Kranken und Kindern, von Paris, Rio de Janeiro oder Ungarn - Zsófia Bán erschafft mit wenigen Sätzen, Filmschnitten Figuren, Bilder, innere Landschaften von ungekannter Tiefenschärfe.

Neue Erzählungen von Zsófia Bán - klug und empathisch, subtil und provokant, von assoziativer Phantasie und lakonischer Kühnheit.



Zsófia Bán, 1957 in Rio de Janeiro geboren, aufgewachsen in Brasilien und in Ungarn, lebte immer wieder in den USA. Sie hat in Filmstudios gearbeitet, war Ausstellungskuratorin und lehrt Amerikanistik in Budapest. Die namhafte Kunst- und Literaturkritikerin debütierte 2007 mit Abendschule. Fibel für Erwachsene (dt. 2012); es folgte der Prosaband Als nur die Tiere lebten (2012; dt. 2014). Auf Deutsch erschien zuletzt Weiter atmen (2020). Zsófia Bán war 2015 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Sie lebt in Budapest. Ihr Werk wird von Terézia Mora übersetzt.
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Verfügbare Formate
BuchGebunden
EUR22,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR18,99

Produkt

KlappentextFranz Reichelt steht 1912, in seinen selbstgebauten Fallschirm gewandet, auf dem Eiffelturm und zögert, sein Atem wölkt sich in der Kälte, in den alten Schwarzweißaufnahmen »pulsieren Chemie und Kratzspuren wie dichter Schneefall«.

Robika, der ein Siebtklässler wäre, wenn er eine Vorstellung von der Zeit hätte und in die Schule ginge, hat eine Obsession: Jede Woche sucht er sich im Laden von Mama Roza sieben weiße Seifen aus. Als der Laden einmal geschlossen ist, fährt Robikas Mutter mit ihrem untröstlichen Kind auf dem Fahrrad in die Stadt. Auf dem Rückweg haben sie einen Unfall, Robika muss geröntgt werden, eine Seife fest in jeder Hand. Aber alles ist gut, und er darf: Weiter atmen!

Ob sie von einer syrischen Flüchtlingsfamilie erzählt, die an der ungarischen Grenze strandet, von Rimbaud und denen, die ihn erforschen, von Liebenden, Kranken und Kindern, von Paris, Rio de Janeiro oder Ungarn - Zsófia Bán erschafft mit wenigen Sätzen, Filmschnitten Figuren, Bilder, innere Landschaften von ungekannter Tiefenschärfe.

Neue Erzählungen von Zsófia Bán - klug und empathisch, subtil und provokant, von assoziativer Phantasie und lakonischer Kühnheit.



Zsófia Bán, 1957 in Rio de Janeiro geboren, aufgewachsen in Brasilien und in Ungarn, lebte immer wieder in den USA. Sie hat in Filmstudios gearbeitet, war Ausstellungskuratorin und lehrt Amerikanistik in Budapest. Die namhafte Kunst- und Literaturkritikerin debütierte 2007 mit Abendschule. Fibel für Erwachsene (dt. 2012); es folgte der Prosaband Als nur die Tiere lebten (2012; dt. 2014). Auf Deutsch erschien zuletzt Weiter atmen (2020). Zsófia Bán war 2015 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Sie lebt in Budapest. Ihr Werk wird von Terézia Mora übersetzt.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783518764558
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum06.04.2020
Auflage1. Auflage
Seiten140 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4931308
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


Die aktive Gegend der Sonne


Sie wussten schon seit Wochen, dass es so kommen würde, dennoch harrten sie aus, blieben noch ein wenig, als würden sie sich nur zögernd aus einem angenehmen Zusammensein bei Freunden verabschieden, und wenn dann doch, weil man wirklich losmuss, bleibt man in der Diele stehen mit dem Mantel in der Hand und unterhält sich noch ein wenig. Noch ein wenig Zeit verbringen, ein wenig von ihrer eigenen Zeit, denn sie waren der Meinung, dass diese Zeit ihnen gehörte, dass sie ihnen gegeben war, das hätten sie sich gewünscht, das dachten sie. Ihre eigene Zeit in ihrer eigenen Stadt, die war es, die sie so eifersüchtig verteidigten, denn wenn ihnen das genommen würde, gäbe es nichts mehr außer dem Stand der Sterne und der Wärme des GPS in ihrer Hand.

Was ist die Sonne, fragte der Kleine, als ihnen die Helligkeit mit ihren Strahlen auf den Rücken knallte wie eine feurige Peitsche, was ist die Sonne, Mutter, und Adeh hätte gerne gesagt, frag deinen Vater, so wie sie es sonst immer tat, wenn Fragen jenseits ihres Wirkungsbereiches, ihrer Interessen und ihres Wissens auftauchten, aber ihr Mann ging mit den beiden älteren Kindern schon sehr viel weiter vorne, er ging wütend, das erkannte Adeh daran, wie er die Schultern hielt, seine Schulterblätter stachen vor lauter ohnmächtiger Wut hervor, als würden Schwerter oder Spieße aus ihm herausstehen, als hätte er einen Stock verschluckt, würde Adeh in ihrer honigsüßen, mit Rosinen gespickten Sprache sagen, die nicht verwandt war mit den Sprachen, denen sie auf ihrem Weg begegnen würden, sie mochte es, fremde Sprachen, Wörter, Ausdrücke zu lernen, und für einen Augenblick sann sie darüber nach, ob man zum Beispiel in jener Sprache, von der sie las, dass sie keiner anderen Sprache ähnlich sei, außer vielleicht dem Finnischen und der Sprache einiger winziger Völker, ob man in dieser Sprache zu der Haltung, mit der ihr Mann Selim mit den beiden älteren Kindern aus der Stadt hinauslief, auch sagte, diese sei, als hätte er einen Stock oder einen Spieß verschluckt, und ob sie überhaupt Spieße kannten, ob sie welche benutzten, um Schafe zu braten oder vielleicht Schweine, denn soweit sie wusste, aß man in jener Gegend auch Schweine, aber was diese Wendung anbelangte, hatte sie kein Wissen, ihre Sprache war für sie undurchdringbar, nicht wie das Englische, das sie gut sprach und das sie in der Schule auch den Kindern beibrachte, aber sie wusste, wo sich dieses Land geographisch befand, in welcher Ecke Europas, als sie auf die Karte schaute, sah sie, dass es genau im Herzen Europas war, und das gefiel ihr, sie hatte das Gefühl, nein, die Hoffnung, dass das ein gutes Omen war, ein Land, das das Herz von etwas war, würde vielleicht die Eulen kompensieren, die ihr ausgerechnet in der Nacht vor dem Aufbruch im Traum erschienen waren, darüber schwieg sie, über die Eulen, drei an der Zahl, denn so ein äußerst schlechtes Omen vor einer Reise hätte den allein an die harte Materie glaubenden Ingenieur, der ihr Mann war, nur noch wütender gemacht, dummer Aberglaube!, hätte er geschrien und mit zitternden Händen am Bügel seiner Brille genestelt, oder, was noch schlimmer gewesen wäre, sie hätte vielleicht Zweifel in ihm gesät, und es mag Zeiten geben, in denen Zweifel angebracht sind, aber das hier waren nicht solche Zeiten, denn man konnte schon seit Wochen wissen, dass die Truppen auf dem Weg zu ihnen waren, und angesichts der Fernsehbilder aus der benachbarten Stadt bestand kein Zweifel, dass auch ihre tausende Jahre alte Stadt zerstört werden würde, die glänzenden Paläste und die reich verzierten Springbrunnen, die kühlen Palmenhaine und die bunten Mosaiken, die Bibliotheken und die Schulen, die ihrem Herzen so nahestanden, die Moscheen und Kirchen tastete sie in Gedanken lieber nicht an, als würde ihnen dadurch eine zauberhafte Unantastbarkeit zuteil, aber sie wusste auch, dass wir, je angestrengter wir an etwas nicht denken, umso mehr daran denken, und je mehr wir etwas in oder um uns herum zerstören, umso mehr bleibt es bei uns, wenn sonst nichts, dann die gespenstische Erinnerung an die Zerstörung, das hatte sie vor einigen Jahren gelesen, if you kill a snake you have a snake, das verstand sie erst gar nicht, die Worte, jedes für sich, schon, nur ihre Bedeutung blieb vage, dennoch ließ ihr dieser Satz tagelang keine Ruhe, sie wiederholte ihn ständig wie ein geheimnisvolles Mantra, wenn sie in der Küche die Jause für den Kleinen zubereitete, wenn sie von zu Hause losgingen, sie mit dem Kleinen in die Schule, die Großen mit ihrem Mann in die andere Richtung, wenn sie zum Einkaufen auf den Markt ging, wenn sie nach dem Abendessen im Licht der Lampe die dahingekritzelten Arbeiten korrigierte, und erst am vierten Tag, als sie am Wochenende Tee mit ihrer besten Freundin Wafa trank und sie in Wafas Küche sitzend ihre Hände an den schlanken Gläsern mit der goldgelben Flüssigkeit wärmten und darüber redeten, wie sich eine gemeinsame Freundin neulich bei einer Einladung verhalten habe, und sie missbilligend die Köpfe schüttelten, wie unbedacht sie schon wieder redete und wie nervenaufreibend das war, als einem Blitz gleich die Bedeutung des Satzes in Adehs Geist einschlug, obwohl er nichts damit zu tun hatte, worüber sie gerade redeten, da verstand sie ihn plötzlich und wunderte sich nur, wieso sie ihn bis dahin nicht verstanden hatte, sie schrie unwillkürlich, leise auf, woraufhin Wafa ihre schön geschwungenen, dicken Augenbrauen hob, sie verstand den Gefühlsausbruch der Freundin nicht, schließlich hatte sie nichts gesagt, was Adeh nicht auch gewusst hätte, sie sah die geliebte Freundin also fragend an, aber Adeh sprang vor lauter Aufregung ob der neu gewonnenen Erkenntnis auf und ging ans Fenster, draußen tauchten die Strahlen der spätnachmittäglichen Sonne die Dächer der Moscheen und Kirchen in diffuses Licht, alles ging seinen gewohnten Gang, wie schon seit hunderten, tausenden von Jahren, und es konnte einem so scheinen, als würde alles so bleiben, es gab schließlich keinen Grund, etwas anderes zu denken, es gab keinen Grund, anzunehmen, die Sonne würde an diesem Tag nicht untergehen oder der Fluss Queiq würde nicht weiterfließen wie bisher auch, es wäre lächerlich gewesen, so etwas anzunehmen, überflüssige und dumme Uhu-Rufe, die Eulen zogen sich still in die Wälder um die Stadt zurück; natürlich, sagte Adeh laut, als würde sie zur Stadt hinter der Fensterscheibe sprechen, dabei sagte sie es nur zu sich selbst, und ab da fuhr sie nur noch lautlos fort, woran du absichtlich nicht denkst, ist das, was nicht anwesend ist, weil sie es getötet haben oder du selbst hast es vernichtet, das fehlt, to kill a snake is to have a snake, und Wafa, sagte Adeh, die es plötzlich eilig hatte, sei nicht böse, ich muss jetzt gehen, sagte sie, sammelte schnell ihre Habseligkeiten ein und rannte nach Hause, um noch einmal in dem Roman nachzuschauen, ob sie denn mit ihren Gedanken richtiglag, und nun, da sie am Rand der Stadt angekommen waren, fiel ihr das plötzlich ein, als sie ein letztes Mal zurückschauen wollte, aber sie wusste, sie würde nichts anderes sehen als die sterbende, in Trümmern liegende Stadt, ihre Stadt, also ging sie einfach mit gesenktem Haupt weiter, den Kleinen an der Hand, den beiden Großen und Selim hinterher, ihrem hochgewachsenen, dürren Mann, sie gingen zu Fuß, denn Wagen waren nicht mehr zu bekommen, außerdem wurden die an der Stadtgrenze sowieso aufgehalten, Luft- und Bahnverkehr gab es keinen mehr, sie liefen also wie die Karawanen, nur ohne Kamele, ihr Mann führte sie über unwegsames Gelände, jeder trug seine eigenen Siebensachen im Rucksack, auch der Kleine hatte einen Rucksack, mit Mickey Mouse darauf, darin eine Trinkflasche und der Teddybär, und um das Kind abzulenken, antwortete sie endlich, die Sonne, habibi, ist ein strahlender Stern, sie wärmt die Erde. Und wenn es dunkel ist?, fragte das Kind, auch dann wärmt sie sie, sagte Adeh, aber wir sehen sie nicht. Weil wir schlafen, nicht wahr?, fragte das Kind, und Adeh lächelte, ja, deswegen. Sie würde ihm irgendwann später die Bewegung der Planeten erklären, jetzt, dachte sie, muss man leise sein, um die dumpfen Abschiedsgeräusche der Stadt hören zu können. Es war absurd, so lange zu warten, das würde sie sich nie verzeihen, aber sie brachten es einfach nicht fertig, loszugehen, das Haus zurückzulassen, den Garten mit den frisch gegossenen Blumenbeeten, die selbstgekochten Marmeladen, die mit goldenen Ornamenten verzierten Gemälde, die ...

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Autor

Zsófia Bán, 1957 in Rio de Janeiro geboren, aufgewachsen in Brasilien und in Ungarn, lebte immer wieder in den USA. Sie hat in Filmstudios gearbeitet, war Ausstellungskuratorin und lehrt Amerikanistik in Budapest. Die namhafte Kunst- und Literaturkritikerin debütierte 2007 mit Abendschule. Fibel für Erwachsene (dt. 2012); es folgte der Prosaband Als nur die Tiere lebten (2012; dt. 2014). Auf Deutsch erschien zuletzt Weiter atmen (2020). Zsófia Bán war 2015 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Sie lebt in Budapest. Ihr Werk wird von Terézia Mora übersetzt.
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