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Sechs Jahre in Haus F

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
253 Seiten
Deutsch
Bastei Entertainmenterschienen am30.04.20201. Aufl. 2020
Bis heute fühlt sich Günter Wulf unwohl in Räumen, die sich abschließen lassen, erst recht in den Keller geht er nie. Zu schlimme Erinnerungen kommen dort auf. Mit neun Jahren wurde er als Heimkind in die Psychiatrie abgeschoben, weggesperrt mit gefährlichen Straftätern und psychisch Kranken. Dort wurde er Opfer von Medikamentenversuchen, Gewalt und sexuellem Missbrauch. Erst mit 18 Jahren durfte er die Klinik verlassen. Heute kämpft er um die Anerkennung des Unrechts, das ihm widerfahren ist.


Günter Wulf wurde seiner Mutter nach der Geburt mit dem Versprechen abgenommen, ihn zur Adoption freizugeben - stattdessen kam er ins Heim. Da die Kinderheime Schleswig Holsteins überfüllt waren, wurde er 1968 in eine Jugendpsychiatrie abgeschoben, wo er bis zur Volljährigkeit blieb. Heute appelliert er an die Regierung, sich der Verantwortung für seine Schutzbefohlenen stets bewusst zu sein.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR11,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextBis heute fühlt sich Günter Wulf unwohl in Räumen, die sich abschließen lassen, erst recht in den Keller geht er nie. Zu schlimme Erinnerungen kommen dort auf. Mit neun Jahren wurde er als Heimkind in die Psychiatrie abgeschoben, weggesperrt mit gefährlichen Straftätern und psychisch Kranken. Dort wurde er Opfer von Medikamentenversuchen, Gewalt und sexuellem Missbrauch. Erst mit 18 Jahren durfte er die Klinik verlassen. Heute kämpft er um die Anerkennung des Unrechts, das ihm widerfahren ist.


Günter Wulf wurde seiner Mutter nach der Geburt mit dem Versprechen abgenommen, ihn zur Adoption freizugeben - stattdessen kam er ins Heim. Da die Kinderheime Schleswig Holsteins überfüllt waren, wurde er 1968 in eine Jugendpsychiatrie abgeschoben, wo er bis zur Volljährigkeit blieb. Heute appelliert er an die Regierung, sich der Verantwortung für seine Schutzbefohlenen stets bewusst zu sein.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783732586585
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum30.04.2020
Auflage1. Aufl. 2020
Seiten253 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4937806
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

1
Der Pferdeflüsterer

Ich lag in einem Bett und wurde durch einen langen Gang geschoben. Vorher musste ich woanders gewesen sein, doch daran habe ich keine Erinnerungen. Man hatte mich hierhergebracht, an den Ort, an dem sich mein Leben als Heimkind fortsetzte. Ein Leben ohne Mutter.

Ich hatte keine Mutter. Nein, das stimmt nicht. Natürlich hatte ich eine Mutter, eine, die mich geboren hatte, aber ich kannte sie nicht, wusste auch nicht, wie das war, eine Mutter zu haben.

Zur Welt gekommen war ich am 14. Februar 1959 um 00:21 Uhr in der Kieler Universitäts-Frauenklinik. Man hatte mich ihr dort weggenommen, als ich sechs Wochen alt war. Es geschah in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, im wahrsten Sinne des Wortes, denn als man mich von meiner Mutter trennte, geschah dies nicht am helllichten Tag, sondern mitten in der Nacht, als sie schlief und nichts davon mitbekam. Dieses Vorgehen geschah auf Anweisung der Amtsvormundschaft Neumünster, aus Angst, ich könnte unter ihrer Obhut verwahrlosen. Meine Mutter, Erika Wulf, lebte damals bei ihrer Mutter in Nortorf, in der Nähe von Neumünster, deshalb war für mich das Jugendamt Neumünster zuständig. Meine Großmutter war der Ansicht gewesen, dass ihre Tochter »nicht mit dem Kindchen umgehen kann, weshalb es gut wäre, wenn ihr der Kleine auch weggenommen wird, wie zuvor schon ihre beiden Töchter Angelika und Renate. Dazu haben ja alle verschiedene Väter, weshalb über unsere Familie in der Nachbarschaft schon schlecht geredet wird. Das muss jetzt aufhören.« Hinzu kam, dass mein Vater angeblich im Gefängnis saß, das reichte dem Amt, mich meiner Mutter ohne ihr Wissen und Einverständnis zu entwenden.

Zuerst brachte man mich in Neustadt-Pelzerhaken in der Lübecker Bucht unter. Als ich zu alt war für das Kleinkinderheim, schob man mich weiter, nun über diesen Flur mit den gewölbten Decken. Doch um das zu können, musste man mich vorher als schwachsinnig eingestuft haben. Sonst hätte mich das psychiatrische Kinderheim Vorwerk nicht aufgenommen. Es war für geistig und oft auch körperlich behinderte Jungen und Mädchen gedacht, aber nicht für »normale« Kinder. Und wenn sie doch normal waren, so wie ich, dann musste man sie eben für schwachsinnig erklären. So wurden Plätze geschaffen für Kinder, die man in den anderen Heimen nicht haben wollte. Und den entsprechenden Stempel bekam man, wenn es keine Eltern gab, die protestieren konnten - aus welchen Gründen auch immer.

Wie alt ich bei meinen ersten Erinnerungen war, weiß ich nicht mehr, ich schätze mal drei oder vier Jahre. Der Flur hatte eine kleine Einbuchtung in der Wand gehabt, und in diese wurde mein Bett geschoben. Vielleicht war da früher eine Bank gewesen, jedenfalls stand dort nun mein Bett. Es war dunkel um mich herum, und ich hörte noch, wie jemand sagte: »Wir müssen den Jungen hier abstellen, die Station ist völlig überfüllt.« Dann war es still. Diese Stille, dazu die Schwärze um mich herum, ängstigte mich so sehr, dass ich ins Nichts hinein fragte: »Ist noch jemand hier? Ich hab Angst!« Auf einmal hörte ich eine Stimme, ganz leise, sie antwortete mir: »Ja, hier ist auch einer. Und ich hab auch Angst.« Da gab es nun zwei Jungs, die Angst hatten, aber niemanden, der sie uns nahm.

Als ich am nächsten Morgen aufwachte - irgendwann hatte mich doch die Müdigkeit übermannt -, sah ich, dass sich mir direkt gegenüber ein Zimmer befand, das eine gläserne Front zum Flur hin hatte. In dem Raum konnte ich einen hoch aufgeschossenen Mann ausmachen, aus dessen schmalem Gesicht Augen scharf und stechend blickten wie bei einem Adler. Er bewegte sich mit großen Schritten, ging oft auf und ab; die Haare waren nach hinten gekämmt, leicht pomadisiert, damals favorisierten viele Männer diese Frisur, sie galt als schick. Wahrscheinlich hatte man sich das bei Elvis Presley abgeguckt, nur hatte nicht jeder so eine eindrucksvolle Haarpracht. Dieser Mann kämpfte mit seinen eher lichten braunen Haaren und war, wie ich später erfuhr, der Direktor des Heims, Walter Holthusen.

Den Jungen, der sich genauso verloren gefühlt hatte wie ich, konnte ich nirgends entdeckten, so sehr ich mich auch umschaute. Da ich nicht wusste, was ich tun sollte, blieb ich vorsichtshalber in meinem Bett, das schien mir am wenigsten bedrohlich. Im Laufe des Morgens schob man mich dann aus meiner Bucht, zog mich an und brachte mich in ein anderes Haus, nicht weit von diesem entfernt. »Du bist jetzt auf einer Station«, sagte der Pfleger, der mich begleitet hatte. Und diese Station bestand aus einem Raum mit vielen anderen Kindern und einem tagsüber leeren Schlafsaal. Eine Belegung von fünf Kindern wäre ein Traum gewesen, aber in den hiesigen Sammelräumen waren zehn, fünfzehn, manchmal sogar zwanzig Jungen untergebracht. Die Person, die mich gestern Abend im Gang abgestellt hatte und der ich kein Gesicht zuordnen konnte, hatte ja gesagt, dass die Station völlig überfüllt sei. In diesem Moment ahnte ich, was damit gemeint war.

Unter den Kindern entdeckte ich eines mit dunkler Hautfarbe, natürlich fiel es sofort auf. Noch nie hatte ich einen Jungen gesehen, der so seltsam ausschaute, noch dazu hatte er kurze krause Haare. Wie sie sich wohl anfühlten? Irgendwann fand ich auch sein Schicksal heraus: Er hatte nicht die geringsten geistigen und emotionalen Beeinträchtigungen, seine Mutter hatte ihn hier einfach abgegeben, weil sein Vater ein schwarzer GI war, der jedoch nichts von seinem Kind wissen wollte. Mit einer solchen »schwarzen Schmach« wollte aber auch die ledige Mutter nichts zu tun haben - so ein Bastard passte nicht in die brave Nachkriegsgesellschaft, und solche Frauen, die ihre Kinder loswerden wollten, achteten sehr auf das Außen, auf das, wie sie von anderen bewertet wurden. Es war schon schlimm genug, wenn ledige Frauen ein Kind zur Welt brachten, dann galt man gemeinhin schon als Schlampe. Wenn es dann noch ein »Mischlingskind«, ein Besatzungskind, war, ein dunkelhäutiger Nachwuchs, dann wurde permanent und ungeniert mit dem Finger auf einen gezeigt, dann ging das weit über Tuscheln hinter dem Rücken der Frauen hinaus. Was für ein gesellschaftlicher Druck da ausgeübt wurde, ohne dass man sich einmal fragte, was man damit anrichtete. Was das für die Kinder bedeutete und auch für die Frauen, denen kaum eine Wahl blieb, wenn sie nicht gerade kämpferisch veranlagt waren.

Anfangs fühlte ich mich in dem Heim wohl, denn es gab Dinge, die mir gefielen, die gut waren, die mir das Gefühl gaben, behütet zu sein. Die Vorwerk-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter sangen viel mit uns, meist Volkslieder, darunter einige aus Ostpreußen, was wohl daran lag, dass die Pfleger aus ihrer dort angestammten Heimat geflohen waren, der Krieg hatte sie auch nach Schleswig-Holstein gebracht.

Da wir für die Badewanne noch zu klein waren, wurden wir in Steinbottichen gewaschen und gebadet. Eines Abends nahm mich ein Pfleger mit weizenblonden Haaren, Herr Schönfeld, an die Hand und führte mich zur Badewanne.

»Du brauchst keine Furcht zu haben«, sagte er sanft.

Er zog mich aus, hob mich in die Wanne und nahm mich fest und sicher an den Händen und Füßen und schiffte mich übers Wasser, hin und her, dabei sang er: »Fahre hin, fahre her, fahre Schifflein übers Meer â¦«

Ich genoss auch das alljährliche Erntedankfest. Mit dem, was geerntet wurde, wurde nach alter Tradition ein Kutschwagen geschmückt, und mit ihm fuhren wir laut singend durch das weitläufige Heimgelände, zu dem auch noch ein Mädchen- und Frauenhaus gehörte sowie eine Villa, in der nur ältere männliche Patienten untergebracht waren. Ich liebte außerdem die Vorweihnachtszeit, es gab Plätzchen und Kuchen, und wir haben mit großer Begeisterung gebastelt, überall brannten Kerzen, alles war heller als sonst.

Sehr stolz war ich, weil ich an einer Weihnachtsaufführung mitwirken durfte. Darin spielte ich die »goldene Nuss«, als die ich mich rollend auf andere Statisten zubewegte und ihnen ganz viel Glück bescherte, wenn ich sie berührte und ihnen sagte: »Jetzt erfüllt sich für dich ein großer Wunsch!« Für diese »schauspielerische Leistung« wurde ich gelobt, sodass ich leuchtende Augen und rote Wangen bekam. Es war einer jener seltenen Augenblicke, in denen ich unendlich glücklich war. Und immer versuchte ich später, als 1964 die Stimmung mir gegenüber kippte und ich nicht mehr an den Weihnachtsaufführungen teilnehmen durfte - was für mich eine Katastrophe ersten Ranges war -, die schlechten Zeiten zu verdrängen und die guten Zeiten hochzuhalten. Die waren mir wichtiger.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass um Weihnachten herum Eltern vorbeikamen, weder die von anderen Kindern noch meine, die schon gar nicht.

Einmal fragte ich, neugierig, wie ich war: »Wo ist meine Mama? Ich muss doch auch eine Mama haben, sonst wäre ich doch gar nicht da?«

Ich wurde von der Pflegerin nur merkwürdig angeguckt, und dann fragte mich der Direktor, der das gehört hatte und zu uns getreten war: »Wie kommst du denn darauf?«

»Ich bin hier, mich gibt es, dann muss es doch auch eine Mama geben«, wiederholte ich.

»Ja«, sagte er. »Da hast du nicht ganz Unrecht. Eine Mama gibt es, aber die wollte nichts mit dir zu tun haben. Dass dir das nur klar ist.«

Das hatte er ohne Rücksicht auf meine Gefühle geäußert und mich dann stehen lassen, hatte sich einfach wieder anderen Dingen zugewandt.

Wie? Es stimmte also, dass ich eine Mutter hatte, so wie Ludwig, der schwarze Junge, eine Mutter hatte. Aber wo war sie? Warum kam sie mich nicht besuchen? Was hieß das, dass sie mit mir nichts zu tun haben wollte? Keiner war bereit, mir...

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Autor

Günter Wulf wurde seiner Mutter nach der Geburt mit dem Versprechen abgenommen, ihn zur Adoption freizugeben - stattdessen kam er ins Heim. Da die Kinderheime Schleswig Holsteins überfüllt waren, wurde er 1968 in eine Jugendpsychiatrie abgeschoben, wo er bis zur Volljährigkeit blieb. Heute appelliert er an die Regierung, sich der Verantwortung für seine Schutzbefohlenen stets bewusst zu sein.
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