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Das eiserne Herz des Charlie Berg

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
720 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am16.03.2020
Charlie Berg hat ein schwaches Herz und die feine Nase eines Hundes. Das einzige, was ihn seine Eltern gelehrt haben: Zwei Künstler sollten nie Kinder bekommen! Es sind die frühen 90er, Charlie will ausziehen, nicht mehr der Depp der Familie sein, der alles zusammenhält, während Mutter am Theater die Welt verstört und Vater wochenlang bekifft im Aufnahmestudio sitzt. Die Zivistelle im Leuchtturm ist zum Greifen nah - da läuft alles aus dem Ruder: Auf der Jagd mit Opa trifft ein Schuss nicht nur den Hirsch, sondern auch Opa. Und Charlies heimliche große Liebe Mayra, seine Videobrieffreundin aus Mexiko? Hat nichts Besseres zu tun, als den Ganoven Ramón zu heiraten...

Sebastian Stuertz, geboren 1974 und aufgewachsen am Steinhuder Meer, war jahrelang Musiker mit überschaubarem Erfolg, bevor er sich dem Schreiben widmete. Er animiert Grafiken für Film und TV und arbeitet als Dozent für Motion Design. Seit Beginn des Jahrtausends lebt er mit seiner Familie in Hamburg. Sein Debütroman von 2020, »Das eiserne Herz des Charlie Berg«, wurde mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und war Finalist beim Klaus-Michael Kühne-Preis. 2021 erschien die Audio-Miniserie »Ruslan aus Marzahn«, nominiert für den Deutschen Hörbuchpreis.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextCharlie Berg hat ein schwaches Herz und die feine Nase eines Hundes. Das einzige, was ihn seine Eltern gelehrt haben: Zwei Künstler sollten nie Kinder bekommen! Es sind die frühen 90er, Charlie will ausziehen, nicht mehr der Depp der Familie sein, der alles zusammenhält, während Mutter am Theater die Welt verstört und Vater wochenlang bekifft im Aufnahmestudio sitzt. Die Zivistelle im Leuchtturm ist zum Greifen nah - da läuft alles aus dem Ruder: Auf der Jagd mit Opa trifft ein Schuss nicht nur den Hirsch, sondern auch Opa. Und Charlies heimliche große Liebe Mayra, seine Videobrieffreundin aus Mexiko? Hat nichts Besseres zu tun, als den Ganoven Ramón zu heiraten...

Sebastian Stuertz, geboren 1974 und aufgewachsen am Steinhuder Meer, war jahrelang Musiker mit überschaubarem Erfolg, bevor er sich dem Schreiben widmete. Er animiert Grafiken für Film und TV und arbeitet als Dozent für Motion Design. Seit Beginn des Jahrtausends lebt er mit seiner Familie in Hamburg. Sein Debütroman von 2020, »Das eiserne Herz des Charlie Berg«, wurde mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und war Finalist beim Klaus-Michael Kühne-Preis. 2021 erschien die Audio-Miniserie »Ruslan aus Marzahn«, nominiert für den Deutschen Hörbuchpreis.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641249175
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum16.03.2020
Seiten720 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4615 Kbytes
Artikel-Nr.4940763
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Der rote Riese

Bevor wir aufbrachen, kochte ich Hirschgulasch - nach Omas Rezept. Ich war der Letzte, der es zubereiten konnte. Als auch Oma noch in der Lage dazu war, hatten wir gerade die VHS-Kamera ganz neu. Gleich auf meiner ersten Kassette filmte ich sie beim Kochen, sie schnibbelte und erklärte, Mayra ging ihr zur Hand, ich wog, maß und notierte alles minutiös, was Oma nach Gefühl in den Topf schmiss. Ihr Gulasch zeichnete sich durch eine Reihe von Zutaten aus, die in keinem anderen Rezept auftauchten: zum Beispiel der Beifuß, mit seinem leicht kampferartigen Aroma. Oder die Nadeln einer japanischen Schwarzkiefer, die in einem kleinen Stoffsäckchen mitgekocht wurden. Dazu wurde das Ganze am Ende mit Piment, Zimt und einer beträchtlichen Menge Thymianhonig in die Nähe einer weihnachtlichen Süßspeise abgeschmeckt, die mit dem herben Wildgeschmack, dem bitteren Geist der Kiefernnadeln und viel frisch gemahlenem Anispfeffer eine polyamoröse Beziehung einging, in der Eifersucht kein Thema war.

Nachdem ich in Opas Küche alles klein geschnitten, mehliert, angebraten, angegossen und aufgekocht hatte, drehte ich die Hitze herunter und hängte das Säckchen mit den Kiefernnadeln in den Topf. Das Gulasch musste nun noch mindestens eine Stunde bei leiser Flamme köcheln. Die Zeit wollte ich nutzen, um in meinem Labor das Meeresparfum anzumischen.

Ich ging nach unten, zu meinen Fläschchen, Kolben, Pipetten, der Waage, holte das Notizbuch heraus und machte mich an die Arbeit. Ich musste nur ein paar Verhältnisse nachbessern, bereits die zweite Mixtur saß. Die korrigierten Dosierungen der Riechstoffe notierte ich in meiner Formelsammlung, etikettierte die Mischung mit Datum und dem Namen des Duftes - Allegorese der See -, füllte mir ein kleines Fläschchen ab und verstaute es in meiner Reisetasche. Die große Flasche stellte ich zu den anderen ins Regal.

Dann warf ich mich in die Camouflage-Kluft, zog die Stiefel an, nahm meine Steyr aus dem Gewehrschrank und ging hoch zu Opa. Während er sich um den Reis kümmerte und den Tisch deckte, ölte und reinigte ich mein Gewehr.

Satt, gut getarnt und noch besser gelaunt fuhren wir los. Ich griff nach hinten, holte die Videokamera aus der Tasche und filmte, obwohl das Tageslicht hier, wo der Wald dichter wurde, bereits zu schwinden begann. Ich hielt auf Opa, er tippte sich an den Hut und verbog seinen Mund zu einem Grinsen. Es ging sanft bergauf. Kleinere Rudel junger Hirsche standen abseits des Waldweges in Schussweite. Als wir mit dem Pick-up langsam vorbeirollten, beobachteten sie uns geduckt, jederzeit bereit loszuspringen. Es wäre ein Leichtes gewesen, zwei vom Auto aus zu erledigen. Aber wir hatten anderes im Sinn. Auf unserem Abschussplan stand ein Klasse-I-Hirsch: Der »rote Riese«, so getauft wegen seiner auffälligen Deckenfärbung und überdurchschnittlichen Größe. Ein Sechzehnender mit über acht Kilo Geweihgewicht, Opa beobachtete ihn schon seit Längerem. Er wusste, wo sich der Riese während der Brunft herumtrieb: auf der Wildwiese gleich bei Omas Koniferengalerie.

Die Sicht wurde wieder besser, als wir auf den kantigen, weißen Kies der Lichtung rollten. Knirschend brachte Opa das Auto nah am Zaun zum Stehen, der staubige Geruch des Gerölls kroch trotz geschlossener Fenster zu uns herein. Hier parkten auch die Busse mit den Schulklassen, wenn im Rahmen des Biologieunterrichts eine Exkursion zur berühmten Nadelbaumsammlung meiner Großmutter auf dem Programm stand - einer der seltenen Momente, an dem das einzige Tor zum komplett umzäunten Privatwald der Familie Faunichoux geöffnet wurde. Sonst hatte man nur vom Herrenhaus aus Zugang zu dem über hundert Hektar großen Waldgebiet.

Wir stiegen aus und schulterten die Gewehre. Ich öffnete das Zahlenschloss, mit dem das Tor verschlossen war, 3-1-1-2, Omas Geburtstag. Opa übernahm die Kamera, ich löste die Sicherheitsnadel, stach mir in den linken Handrücken, etwas unterhalb der Daumenwurzel, der Schmerz machte mich hell und legte allen Geruch übersichtlich in Moleküle unterteilt auf meine Wahrnehmung. So machten wir uns auf den Weg.

In der Nähe des Brunftplatzes prüften wir den Wind und pirschten uns langsam an, ich mit entsichertem Gewehr, Opa filmte. Immer wieder mussten wir trockenen Ästen auf dem Boden ausweichen.

Ich hatte das Kahlwildrudel längst gewittert, bald konnte auch Opa es durch den lichter werdenden Wald sehen. Der Platzhirsch war ebenfalls hier, allerdings hatte er seinen mit Pheromonen gesättigten Harn so großzügig verteilt, dass der gesamte Luftraum davon dominiert wurde. Mit etwas Konzentration konnte ich den Hirschurin aus der Waldluft herausrechnen, ich beschleunigte mit geschlossenen Augen die Adaption meiner Riechzellen. Gerade noch rechtzeitig war mein wichtigstes Organ wieder einsatzfähig - und ich fasste Opa an den Arm. Wir waren bereits kurz vor der Wildwiese. Ich deutete auf meine Nase und dann zum Rand der Fläche.

»Eine Rotte Sauen«, flüsterte ich.

Opa fluchte stumm. Dann wisperte er: »Wenn die uns mitbekommen, ist die Bühne sofort leer.«

Er drehte sich um und wollte den Rückzug antreten. Ich blieb stehen.

»Warte«, flüsterte ich.

Durch den Urin und die Sauen stach noch ein anderer Duft in unsere Richtung.

Fragend sah Opa mich an.

Dann ertönte ein lautes Röhren. Ein langgezogener und zwei kurze Brunftrufe. Opas Augen wurden groß und feucht.

Da war er.

Der König mit dem roten Rücken.

Direkt vor uns trat er ins Schussfeld und blickte herüber.

Ich versuchte zu schlucken, es wollte nicht gelingen.

Noch nie hatte ich ein so gewaltiges Tier gesehen. Mehr Hirsch ging nicht. Langsam hob ich das Gewehr.

Ich nahm ihn ins Visier und stellte die Atmung ein.

Wer mich tötet, wird sterben, so wie ich sterben werde.

Ich wollte noch nicht sterben. Ich hatte noch einiges auf der Liste. Den größten Hirsch aller Zeiten schießen, zu Hause ausziehen, ein Buch schreiben, reich und berühmt werden. In der Reihenfolge.

Der Hirsch starrte mich an und machte keinerlei Anstalten wegzurennen. Opa röchelte. Es war zum Weinen. Sollte man einem telepathisch begabten Hirsch Glauben schenken?

Ich strich den ersten Punkt von meiner Liste, zielte einen Meter daneben und drückte ab. Es klang irgendwie anders als sonst, etwas mit dem Echo stimmte nicht. Ohrenschützer bei der Jagd zu tragen war leider auch weibisch. Gleich beide Ohren piepten.

Das Rudel stolperte panisch davon, die Sauen walzten durchs Unterholz. Heißer Angstschweiß verteilte sich in der Luft. Der Hirsch taumelte bei der Flucht, getroffen. Irritiert ließ ich die Steyr sinken.

Opa reichte mir die Kamera und klopfte ein Mal kräftig auf meine Schulter. »Nicht ins Blatt. Aber glaube, du hast ihn. Komm.«

Er eilte zur Äsungsfläche, ich sicherte und ging filmend hinterher, das Gewehr in der linken Hand.

»Hier. Schweiß!«, Opa zeigte auf die rote Spur und folgte ihr durch das sich ausdünnende Dickicht. Der Hirsch hatte sich noch ein ganzes Stück weitergeschleppt, sein Blutverlust war enorm.

Am Rande der nun leeren, sanft abfallenden Wildwiese lag er. Ausgerechnet hier, nur ein paar Meter von meiner Buche entfernt. Sofort suchte ich unser Gang-Zeichen, das Mayra vor vielen Jahren in den Stamm geschnitzt hatte, und ich hielt kurz mit der Kamera für sie drauf. Das C, dessen unterer Bogen in ein M überging, sodass es wie auf einer Mondsichel saß, es war noch immer zu erkennen.

Ich schwenkte zum Hirsch. Selbst aus ein paar Metern Entfernung sah ich die riesige hellrote Lache. Opa stand schon bei ihm und blickte zu mir herüber. Auf dem Schießstand hatte ich ihn immer stolz gemacht: mit der Flinte alle Kipphasen getroffen, nur selten eine Tontaube verfehlt. Jetzt sah er nicht so glücklich aus. Ich filmte ihn trotzdem. Sein Zeigefinger machte eine schnelle Bewegung seitlich am eigenen Hals entlang. Offenbar hatte ich den Hirsch mit einem Streifschuss getroffen. Hin und wieder zuckte eins der Beine des Tieres.

Opa knickte einen Zweig ab, bückte sich und steckte dem Hirsch seinen letzten Bissen in die Äse. Das machte man eigentlich erst, wenn das Wild erlegt war, aber Opa hatte schon immer alles etwas anders gehandhabt. Die meisten anderen Jäger hätten ein Messer gezückt, um das Tier mit einem gezielten Stich zwischen die oberen Halswirbel abzunicken. Doch auch davon hielt Opa nichts. Er nahm lieber sein Gewehr.

Im gleichen Moment hörte ich aus der entgegengesetzten Richtung ein Rascheln.

Ich schwenkte herum.

Keine fünf Meter entfernt bewegte sich etwas im Gebüsch.

Vorsichtig ging ich näher. Hatte ich zusätzlich noch ein Reh erwischt?

Vielleicht war es klüger, das Gewehr schussbereit zu halten. Eine angeschossene Sau konnte gefährlich werden.

Und dann erkannte ich, was dort lag. Ein Gewehr war gar nicht nötig. Ich ließ die Kamera sinken.

Da lag ein Mann.

In Tarnkleidung.

Und blutete.

Der Hals und Teile seines schwarz-grün bemalten Gesichts waren rot. Blutrot, wie man sonst nur sagt, wenn Blut gar nicht im Spiel ist, aber hier war Blut im Spiel, viel Blut, das Blut eines Menschen. Und offenbar lebte der Mensch noch, denn hin und wieder zuckte eins seiner Beine, so wie auch die Beine des Hirsches zuckten.

Opa hatte mir schon oft erzählt, dass Wilderer ihr Unwesen in seinem Wald trieben. Als wären die Wölfe, die langsam zurückkehrten und ungestört Wild rissen, nicht lästig genug: Weder die einen noch die anderen durfte man schießen.

Ich hörte Opa sein Gewehr laden...

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Autor

Sebastian Stuertz, geboren 1974 und aufgewachsen am Steinhuder Meer, war jahrelang Musiker mit überschaubarem Erfolg, bevor er sich dem Schreiben widmete. Er animiert Grafiken für Film und TV und arbeitet als Dozent für Motion Design. Seit Beginn des Jahrtausends lebt er mit seiner Familie in Hamburg. Sein Debütroman von 2020, »Das eiserne Herz des Charlie Berg«, wurde mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und war Finalist beim Klaus-Michael Kühne-Preis. 2021 erschien die Audio-Miniserie »Ruslan aus Marzahn«, nominiert für den Deutschen Hörbuchpreis.