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Das fremde Herz

von
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
460 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am01.08.2021
Als ihre geliebte Tochter Amalie in einem norwegischen Badesee ertrinkt, bricht für Alison die Welt zusammen. Für eine andere Familie bedeutet es einen Neuanfang: Nach Jahren schwerer gesundheitlicher Probleme erhält die kleine Kaia am Morgen nach dem Unfall ein Spenderherz - Amalies Herz. Ihre Mutter Iselin ist überglücklich, endlich geht es aufwärts. Und dann findet sie auch noch eine neue Freundin, die sich besonders um sie und ihre Tochter kümmert: Alison. Iselin ahnt nicht, wer Alison in Wirklichkeit ist. Und deren Trauer wandelt sich zunehmend in Besessenheit ...

Alex Dahl ist halb Norwegerin, halb Amerikanerin und lebt in Norwegen und London. Sie ist eine entfernte Verwandte von Roald Dahl, spricht fließend Deutsch und Französisch und hat einen Master in Kreativem Schreiben.
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Produkt

KlappentextAls ihre geliebte Tochter Amalie in einem norwegischen Badesee ertrinkt, bricht für Alison die Welt zusammen. Für eine andere Familie bedeutet es einen Neuanfang: Nach Jahren schwerer gesundheitlicher Probleme erhält die kleine Kaia am Morgen nach dem Unfall ein Spenderherz - Amalies Herz. Ihre Mutter Iselin ist überglücklich, endlich geht es aufwärts. Und dann findet sie auch noch eine neue Freundin, die sich besonders um sie und ihre Tochter kümmert: Alison. Iselin ahnt nicht, wer Alison in Wirklichkeit ist. Und deren Trauer wandelt sich zunehmend in Besessenheit ...

Alex Dahl ist halb Norwegerin, halb Amerikanerin und lebt in Norwegen und London. Sie ist eine entfernte Verwandte von Roald Dahl, spricht fließend Deutsch und Französisch und hat einen Master in Kreativem Schreiben.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641260934
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2021
Erscheinungsdatum01.08.2021
Seiten460 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2889 Kbytes
Artikel-Nr.4941184
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe



Kapitel 1

Alison

Immer wieder wache ich auf, wenn ich überhaupt schlafen kann. Auf Sindres Seite des Betts projiziert der Wecker die Zeit an die Wand, und ich liege da und starre auf die pulsierenden Punkte zwischen den Ziffern. Es ist kurz nach zwei Uhr morgens, und Sindre ist nicht hier. Er war hier, als ich eingeschlafen bin. Glaube ich wenigstens. Ich ziehe die Hand unter der warmen Decke hervor und streiche über die kalte, leere Stelle, auf der mein Mann liegen sollte.

Vor ein paar Nächten war es genauso. Ich schreckte in diesem dunklen, lautlosen Zimmer aus einem Traum auf, an den ich mich nicht erinnern konnte. Blinzelnd versuchte ich, im Dunkeln Sindres massige Gestalt auszumachen - ohne die Hand auszustrecken, weil er nicht denken sollte, dass ich etwas wollte; ich hätte seine warmen, zärtlichen Hände nicht auf meiner Haut ertragen. Erst nach einem Moment begriff ich, dass er nicht da war. Ich stand auf, setzte mich auf die Fensterbank und blickte auf den Wald und die Lichter der Stadt, die auf den Hügeln dahinter den Sternen entgegenstiegen. Für Anfang Oktober war die Nacht sehr kalt, und der rötliche Mond stand tief über Tryvann. Ich war froh, dass Sindre nicht da war - es tat gut, mich zur Abwechslung nicht schlafend stellen zu müssen.

Als ich wieder ins Bett gehen wollte, fiel mir zwischen den Bäumen gegenüber dem Haus, direkt am Kiesweg, eine Bewegung auf. Ich wich vom Fenster zurück und sah, wie Sindre den Wald verließ. Er trug seine teuren Lederslipper und ein hellblaues Hemd, das halb in der Hose steckte und auf der Brust mit Erde verschmiert war. Auf dem schmalen Weg zwischen Auto und Haus blieb er stehen, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er wieder hereinkommen oder wegfahren sollte. Erst als er sich wieder in meine Richtung drehte, konnte ich sein Gesicht deutlich ausmachen. Es war zu einer enthemmten, fremdartigen Grimasse verzogen. Hätte der Mann vor unserem Haus nicht Sindres Kleidung getragen, weiß ich nicht, ob ich ihn erkannt hätte.

Ist er heute Nacht wieder dorthin gegangen? Ich stehe auf und trete ans Fenster. Es ist windig und regnerisch, unter grauen Wolken raschelt eine kräftige Brise durch das Laub im Garten. Aus dem dichten Wald hinter unserem Grundstück steigt Nebel, der vom Wind verwirbelt wird. Es wäre schön, jetzt durch den Wald zu laufen, das Knacken der Zweige zu hören, mich von der Kälte der Nacht durchdringen zu lassen und die feuchte Luft tief einzuatmen. Vielleicht würde es das Brennen lindern, und sei es nur für einen Moment. Ich kneife die Augen zusammen und starre auf die Stelle, an der Sindre neulich nachts aus dem Wald kam, aber ohne das Mondlicht könnte ich den Umriss eines Mannes nicht von einem Baum unterscheiden, selbst wenn er dort wäre. Er könnte direkt vor mir stehen und mich anschauen, ich würde ihn nicht sehen.

Ich gehe zur Tür und horche, bevor ich sie einen Spaltbreit öffne. Dieses Haus ist selten still - als würde unablässig ein leises Summen aus seinen Wänden dringen, wie eine Bassbegleitung zu der Melodie, mit der meine Familie es jeden Tag erfüllt -, doch heute Nacht höre ich keinen Laut. Ich verharre auf dem Treppenabsatz im zu grellen Licht der Deckenstrahler und lausche auf dieses tröstliche Murmeln des Hauses oder ein beruhigendes Geräusch von einem seiner Bewohner, aber es ist vollkommen still. Als ich zu Amalies Tür hinüberblicke und daran denke, was dahinter ist, steigt plötzlich blanke Panik in mir auf. Wie ein Feuer lodert sie auf, als würden echte Flammen in jeden dunklen Winkel schlagen. Ich drücke die Hände auf den Bauch und reiße den Blick von Amalies Tür los. Ich suche etwas, das ich zählen kann, irgendetwas, und das Einzige, was mir einfällt, sind die Stufen. Siebzehn. Siebzehn Stufen, das schaffe ich. Ich kann nach unten gehen und ein Glas Wasser holen und nach oben zurückkehren, vorbei an Olivers und an Amalies Zimmer, das ist ganz einfach. Ich kann das, es ist ja nicht das erste Mal, nur eine schlimme Nacht, mehr nicht, und wenn ich wieder oben bin, kann ich eine Tablette aus dem Nachttisch nehmen, die vielleicht keinen richtigen Schlaf bringt, aber doch tiefe, traumlose Ruhe.

Im Dunkeln stehe ich vor der Küchenspüle. Jetzt höre ich das Summen. Meine Hände presse ich immer noch auf den Bauch, als würden sonst meine Gedärme herausfallen. Das Brennen lässt nach. Nun fühlt es sich eher so an, als würde sich mein Inneres zersetzen - als hätte ich an einer Batterie genagt.

Eine Angststörung, sagt der Arzt.

Hallo, Bärchen, flüstere ich. Ich wette, du kannst mich jetzt sehen, auch wenn ich dich nicht sehe. Wenn du mich hörst, gibst du mir bitte ein Zeichen, irgendeines, ein ganz kleines? Wirf einen Teller herunter, schalte eine Lampe ein, lass draußen ein Tier schreien. Ich würde dich in den Scherben erkennen, in dem hellen Licht, ich würde dich in dem Ruf hören ... Ein Zeichen, Schätzchen, mein kleiner Engel - bitte, bitte sprich mit mir ...

Irgendwo geht Licht an - es strömt durchs Fenster und zeichnet hinter mir ein Quadrat auf den Boden. Ich halte mich mit beiden Händen an der Spüle fest, mein Herz hämmert so heftig, dass ich kaum atmen kann. Ich will ihren Namen noch einmal sagen, aber ich bekomme keinen Ton heraus. Ich beuge mich zum Fenster vor und stelle fest, dass das Licht aus der Garage hinter dem schmalen Fußweg dringt.

Sindre steht vor der Werkbank, die eine ganze Wand der Garage einnimmt. An derselben Stelle steht er jeden Winter, um mit Engelsgeduld unsere Langlaufski für die Wochenenden zu wachsen - erst Olivers schmale schnelle, dann seine eigenen, gefolgt von meinen Anfängerski und schließlich Amalies kurzen, breiten Ski mit den glitzernden Schneeflocken und Königin Elsas Gesicht an den gebogenen Spitzen. Ich bleibe zwischen Haus und Garage, wo der Wind viel schärfer weht, als ich dachte. Gerade nah genug, um die kleinen Ski an einem Haken oben an der Wand auszumachen. Sindre hat mir den Rücken zugewandt, trotzdem kann ich das meiste vor ihm auf der Werkbank sehen. Seine Bewegungen wirken seltsam, manchmal rasch und ruckartig, dann wieder langsam und flüssig. Erst nach einer Weile erkenne ich, dass er Waffen poliert. Er nimmt das Teleskop von einem langen, matten Jagdgewehr ab, hält es gegen das Licht und poliert mit einem roten Tuch die Linsen. In ein paar Wochen geht er auf die Elchjagd. Das hatte ich vergessen. Er fährt jedes Jahr zu dieser Zeit - darauf muss er sich natürlich vorbereiten.

Der Regen wird von einem Windstoß um die Hausecke und auf den Pfad getrieben und kribbelt unangenehm auf meinem Gesicht und den Händen. Ich ziehe meine Jacke enger um mich, trotzdem friere ich schrecklich, und vielleicht schreie ich auch leise auf, denn Sindre kommt plötzlich an das schmale Fenster, um hinauszuspähen. Ohne recht zu wissen, warum, drücke ich mich neben dem Fenster an die Wand, damit er mich nicht bemerkt. Ich könnte einfach leise anklopfen, in die Garage schlüpfen und meinen Mann von hinten umarmen. Ich könnte ihn fragen, ob er einen Kaffee haben möchte - wir werden wohl beide sowieso nicht mehr in den Schlaf finden. Aber ich tue es nicht. Ich bleibe auf dem schmalen Weg stehen und beobachte Sindre dabei, wie er die beiden Gewehre sorgsam auseinandernimmt, wieder zusammenbaut und mit dem Tuch jede Stelle säubert. Als er fertig ist, holt er eine Pappschachtel von einem hohen Regal herunter. Sie sieht aus wie ein normaler Schuhkarton, ganz unauffällig. Er öffnet sie und nimmt ein paar Zeitungsseiten, ein Trockentuch und einen weiteren Gegenstand heraus.

Zuerst kann ich das Objekt nicht erkennen; es ist nicht groß, und weil Sindre mir den Rücken zugedreht hat, versperrt er mir teilweise die Sicht. Dann legt er das, was er in der Hand hielt, hin und geht ein paar Schritte nach rechts, wahrscheinlich, um etwas anderes zu holen. Jetzt habe ich freie Sicht - es ist ein stahlgrauer Revolver, den ich nicht kenne. Sindre öffnet einen zweiten, deutlich kleineren Karton und schüttet mehrere Patronen in seine Hand. Eine hält er ins Licht und dreht sie hin und her, bevor er sie und die anderen in die Kammern des Revolvers steckt.

Manchmal denke ich über Sindres früheres Leben nach, das Leben vor mir. Vor unserer Familie. Ich stelle mir vor, wie er damals gewesen sein muss, als er mit Helm und Tarnuniform im Hindukusch und den Bergen von Badachschan Jagd auf einige der meistgesuchten Kriegsverbrecher und Terroristen der Welt machte. Er schlief in Höhlen und Schäferhütten, trank aus kristallklaren Gebirgsbächen und arbeitete sich an ein Ziel heran, bis er es sauber ausschalten konnte. Ich sehe ihn vor mir, wie er mit einem Auge durch das Visier späht - im Fadenkreuz den Kopf eines Mannes, den Finger voller Überzeugung auf dem Abzug, dann der präzise, gedämpfte Schuss. Ich habe Sindre nie gefragt, wie viele Menschen er getötet hat. Oder neutralisiert, wie er es nennt. Vielleicht weiß er es selbst nicht. Würde er so etwas zählen? Ich würde es tun.

Das Leben, das Sindre vor mir und unserer Familie geführt hat, ist das genaue Gegenteil von meinem: Ich bin in der San Francisco Bay Area aufgewachsen und habe die ganze Welt bereist - erst zum Spaß, dann des Berufs wegen - und Artikel für Hochglanzmagazine und Zeitungsbeilagen verfasst. Ich habe weibliche Staatsoberhäupter von Neuseeland bis Island interviewt, im Drogenmilieu südamerikanischer Frauengefängnisse recherchiert und über den gestiegenen Weinkonsum der amerikanischen Mittelklasse geschrieben. Wenn Sindre gereist ist, dann in den Irak, nach Afghanistan und Pakistan - um zu töten.

Jetzt hebt er den Revolver wieder auf, wiegt ihn in der Hand und dreht ihn mit einem leichten...

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Autor

Alex Dahl ist halb Norwegerin, halb Amerikanerin und lebt in Norwegen und London. Sie ist eine entfernte Verwandte von Roald Dahl, spricht fließend Deutsch und Französisch und hat einen Master in Kreativem Schreiben.