Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Momentum

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
Hanser Berlinerschienen am09.03.20201. Auflage
'David Vanns Romane sind elementare Berichte aus dem Innern des Menschseins - faszinierend, gnadenlos und dabei voller Mitleid.' Christian Brückner
Jim ist Ende dreißig und depressiv. Aus Alaska, wo er lebt, fliegt er nach Kalifornien, wo er aufgewachsen ist. Sein jüngerer Bruder Gary holt ihn vom Flughafen ab - er will auf Jim aufpassen und hofft, dass dieser im Kreis der Familie seine Lebensfreude zurückgewinnt. Doch während Jim wie ein Geist durch die Hinterlassenschaften seines alten Lebens wandelt, wird er von seinen Gedanken vorwärtsgetrieben, auf das Ende zu. In seinem schmerzhaften, radikalen Roman - dem ersten bei Hanser Berlin - imaginiert David Vann die letzten Tage im Leben seines Vaters. Er ist zugleich ein eindringliches Zeugnis der Suche nach Sinn und Erlösung in der unermesslichen Natur.

David Vann wurde 1966 auf Adak Island/Alaska geboren. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und erscheinen in 22 Ländern. David Vann lebt in Neuseeland und ist derzeit Professor an der University of Warwick in England.
mehr

Produkt

Klappentext'David Vanns Romane sind elementare Berichte aus dem Innern des Menschseins - faszinierend, gnadenlos und dabei voller Mitleid.' Christian Brückner
Jim ist Ende dreißig und depressiv. Aus Alaska, wo er lebt, fliegt er nach Kalifornien, wo er aufgewachsen ist. Sein jüngerer Bruder Gary holt ihn vom Flughafen ab - er will auf Jim aufpassen und hofft, dass dieser im Kreis der Familie seine Lebensfreude zurückgewinnt. Doch während Jim wie ein Geist durch die Hinterlassenschaften seines alten Lebens wandelt, wird er von seinen Gedanken vorwärtsgetrieben, auf das Ende zu. In seinem schmerzhaften, radikalen Roman - dem ersten bei Hanser Berlin - imaginiert David Vann die letzten Tage im Leben seines Vaters. Er ist zugleich ein eindringliches Zeugnis der Suche nach Sinn und Erlösung in der unermesslichen Natur.

David Vann wurde 1966 auf Adak Island/Alaska geboren. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und erscheinen in 22 Ländern. David Vann lebt in Neuseeland und ist derzeit Professor an der University of Warwick in England.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783446267350
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum09.03.2020
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.4957940
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe

Das Flugzeug sinkt, aber San Francisco ist nicht zu sehen, nur Wolken und Regen dicht über dem Flügel, Regen bei mehreren hundert Stundenkilometern eine rein horizontale Sache, er fällt nicht, nichts daran ist leicht genug für den Fall. Ein ungeheurer Druck, beharrlich, panisch, er verschwindet und kehrt wieder und sein Ursprung ist fürchterlich, der Atem eines zornigen Gottes.

Jim sitzt und wartet, aber auf was?

Es ist, als sei die Turbulenz die Bewegung des Flugzeugs selbst, als komme sie von innen, als versuche der Flügel etwas abzuschütteln, aber die Bewegung findet in einem mächtigen Fluss statt, die Strömung unwiderstehlich. Die Außenhaut wird aufreißen, das Aluminium sich abschälen.

Und dann scheinen unten die Wellen auf, Schaumkronen, dreckiger Schaum auf braunem Wasser. Alles in schmalen Linien, geordnet, nicht die Wellen von Ozeanen, sondern von einem Wind getrieben, der direkt hier erzeugt wird, neugeborene Wellen, ein paar Minuten alt erst, aber schon zu voller Größe herangewachsen, die sich hier brechen und einen halben Kilometer von der Küste zurückgeworfen werden, zum Ort ihrer Entstehung. Unsere Bewegung geht nur in eine Richtung und nie zurück.

Jim schnallt sich an für die Landung, aber wieso? Gelbe Bojen, Felsbrocken eines Wellenbrechers. Unter ihnen taucht die Landebahn auf, daneben Gras, und sie setzen auf und heben wieder leicht ab, ein Moment der Verweigerung, der alles außer Kraft setzt und ewig währen könnte, aber dann senken sie sich wieder und ihr gesamtes Gewicht drückt jetzt nach vorne, die Triebwerke auf Schubumkehr, die Radbremsen greifen und alles wird langsamer und die Bewegungen der Luft reißen ab, der Regen fällt wieder nach unten.

Sein Bruder wird auf ihn warten. Gary. Jüngerer Bruder, jetzt Hüter seines Bruders, der zu etwas Zerbrechlichem geworden ist. Ein Mann in einer gelben Regenjacke zeigt mit zwei Leuchtstäben die Richtung an. Niemand sonst bei ihm, endlose Weite aus Asphalt.

Stillstand dann am Gate, und beim Ruck nach vorne, beim letzten Stoß, erheben sich alle in einer Bewegung, aus ihren Sitzen getrieben, bis auf Jim. Er hat irgendein Signal verpasst. Er hätte nichts dagegen, hier noch eine Weile sitzen zu bleiben. Er hat keine Ahnung, was er zu Gary sagen soll, und er weiß, dass es Gary genauso gehen wird. Gekommen, um seinen älteren Bruder zum Therapeuten zu bringen. Der Therapeut hat davor gewarnt, Jim allein zu lassen.

Als die anderen weg sind, steht er auf und holt seine Tasche aus dem Gepäckfach. Braunes Leder, schwer, darin sein Revolver, eine 44er Ruger Magnum, die gleiche, die Dirty Harry benutzt hat. An Bord erlaubt, solange die Patronen mit dem Gepäck aufgegeben werden. Darauf achten, dass Pistolen und Patronen getrennt sind. Noch ein Rat des Therapeuten.

Er kommt als Letzter raus, und Gary ist der Einzige, der noch am Gate wartet, er steht auf einem dünnen grauen Teppich. Ein Nicken zur Begrüßung, ein wenig Erleichterung. Erster Schritt geschafft, sein Bruder sicher aus Alaska angekommen. Alle sind sich einig, dass Alaska Jim nicht guttut, ihm noch nie gutgetan hat. Besonders diesen Winter nicht, wo er allein in einem neuen Haus lebt, auf einem Bergrücken fern von Nachbarn, in der Dunkelheit am Rande der Arktis.

»Bereit?«, fragt Gary, wie sie es bei der Jagd immer gesagt haben, als würden sie gerade in der Dämmerung zu den Waldwiesen aufbrechen, der eine am Steuer, der andere aufrecht hinten auf dem Pick-up mit einem Gewehr.

Gary sieht nervös aus, und so jung, dreiunddreißig, sechs Jahre jünger als Jim. Aber größer, und daran wird sich Jim nie gewöhnen. Gary war immer der Zwerg, der Kleinste in seinem Jahrgang, immerhin schnell genug, um es ins Basketballteam zu schaffen, aber klein und schmächtig, und dann, als er im College war, an der Chico State, ist er gewachsen. Der späteste Wachstumsschub, von dem man je gehört hatte, und jetzt ist er über eins achtzig groß und breitschultrig, mit einer kräftigen Brust vom Holzhacken und weil er sein eigenes Haus gebaut hat und das Basketballteam an der Junior High School trainiert.

»Bereit wie nur was«, sagt Jim.

Sie gehen schweigend zur Gepäckausgabe, die Gänge fast leer. Als sie ankommen, fährt das Gepäck schon auf dem Band und die Leute laden versiegelte Kühltaschen und Tiefkühlboxen auf die Wagen, zu der Jahreszeit, Mitte März, bringen sie Heilbutt mit, keinen Lachs. Er ist in Seattle umgestiegen, aber viele von denen hat er schon in Anchorage gesehen. Ihm war nicht bewusst, dass so viele Alaskaner Verwandte in Kalifornien hatten. Er ist von Fairbanks aus geflogen, ein kleines Flugzeug, zehn Leute oder so an Bord. Nur dreißigtausend Menschen in Fairbanks, Alaskas zweitgrößter Stadt. Außenposten in Dunkelheit und Kälte und fern von allem. Jeder Lichtstrahl geht direkt hinauf in den Himmel, wegen des Eisnebels, und wirkt wie eine Lichtprojektion von oben.

Er greift sich seine grüne Reisetasche aus alten Armeebeständen, schlaff, kaum zu einem Drittel gefüllt. Der Einzige hier, dessen Tasche nicht vollgepackt ist, und was bedeutet das jetzt? Sollte er mehr an seinen Sachen hängen, mehr bei sich haben? Hilft das? Seine Patronen, eine Schachtel voll, sind jetzt rund einen Fuß von seiner Magnum entfernt. Er sollte weniger an seiner Pistole hängen und weniger an sie denken. So viel ist ihm klar.

»Was ist los?«, fragt Gary, als sie durch einen unterirdischen Tunnel zum Parkhaus gehen.

»Was?«

»Du zuckst so.«

»Wirklich?«

»Hast du Schmerzen?«

»Ja, ich glaube schon.« Jetzt spürt er sie deutlicher, die Spirale aufwärts von seinem rechten Auge, Bahn des Schmerzes. »Sinusitis-Kopfschmerz, hab ich fast ständig, nach Flügen schlimmer.«

»Kannst du das nicht operieren lassen, dass es irgendwie besser wird?«

Jim ist Zahnarzt, er weiß genau, wie brutal der Eingriff wäre, kennt die Risiken, weiß, dass der Chirurg herumkaspern wird, sobald Jim nichts mehr mitbekommt, dass er Witze reißt, während er Teile aus Jims Kopf schneidet, nah genug am Sehnerv, um ihn blind zu machen, nah genug am Hirn, um es zu durchlöchern.

»Du kannst nicht einfach die Zähne zusammenbeißen. Du musst die Sache von allen Seiten angehen, und dazu gehört auch, körperlichen Schmerz in den Griff zu kriegen.«

Jim bleibt stehen und schaut seinen Bruder an. Schönes Gesicht, viel schöner als Jims, dessen Haaransatz zurückweicht und der ein schwaches Kinn hat, hängende Wangen, tiefe Höhlen um die Augen von der Schlaflosigkeit. Gary hat das alles nicht. Auch keine Falten, nur frische Haut, gesund, klare Augen, das Haar blond und gewellt, lang, fast bis auf die Schultern. Immer noch unverheiratet, immer eine neue Freundin, obwohl er die jetzige, Mary, schon eine Weile hat, also wer weiß. Aber Jim beneidet seinen jüngeren Bruder, nicht nur um seine Jugend und sein Aussehen und seine Freundinnen, sondern auch um seine Unkompliziertheit. Ihn hat nie was aus der Ruhe gebracht. Er konnte entspannt ein paar Bier trinken und mit Freunden rumhängen, ohne sich Sorgen um Geld oder die Uni oder die Familie oder die Arbeit zu machen. Jim hat nie getrunken, konnte nicht rumhängen mit Freunden, machte sich andauernd um alles Sorgen, arbeitete neben der Schule und dem College bei Safeway, ging in die Kirche, heiratete die zweite Frau, mit der er je was hatte, ließ sich scheiden, heiratete fast ohne Kennenlernen noch mal, ließ sich wieder scheiden. Warum war Jim so geworden und Gary nicht?

»Du siehst gut aus«, sagt Jim. »Glücklich und gesund.«

»Danke«, sagt Gary. »Aber heute geht es um dich.«

»Vielleicht wäre es hilfreich, wenn es nicht um mich ginge.«

Sie sehen einander jetzt wirklich an, längster Augenkontakt ihres Lebens vermutlich. Alles sehr seltsam, und seltsam leer. Jim empfindet nichts, als er seinem Bruder in die Augen schaut, außer dass es komisch ist. Blaue Augen mit Andeutungen von Gelb oder Gold. Gary, der Goldjunge. Er spürt, dass er gleich lachen muss.

»Okay«, sagt Gary und wendet den Blick ab. Sie gehen weiter.

Was Jim ständig empfindet, mehrmals am Tag: Euphorie. Er spürt, wie sie aufsteigt, eine Schutzschicht von innen. Ohne Grund oder Richtung, als würde er in Suppe sitzen. Wie kommen die Leute darauf, sie könnten ihre Gefühle beherrschen?

»Ich habe mein Leben lang zu dir aufgeschaut«, sagt Gary, während sie gehen. »Ich brauche meinen großen Bruder zurück. Du musst das hinkriegen.«

Jim muss lachen, tief in sich hinein, es klingt echt. Es fühlt sich echt an. »Ich bin da«, sagt Jim. »Alles wird gut.«

Sie laufen weit zu Garys Pick-up. Er ist alt, rostbraun.

»Du...
mehr

Autor

David Vann wurde 1966 auf Adak Island/Alaska geboren. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und erscheinen in 22 Ländern. David Vann lebt in Neuseeland und ist derzeit Professor an der University of Warwick in England.