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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
432 Seiten
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am05.03.20201. Auflage
1911 erwirbt ein italienischer Adeliger ein halb verfallenes Schloss in der Schweiz. Es liegt in Urmein, einem kleinen Dorf oberhalb von Thusis. Ausgewählte Freunde aus ganz Europa kommen hier zusammen, um einen geruhsamen Lebensabend zu verbringen. Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bricht die neue Zeit in Gestalt eines jungen Soldaten über sie herein. Im Jahr 1911 erwirbt der italienische Graf Emilio Galli ein halb verfallenes Schloss; es liegt in Urmein am Fuße des Piz Beverin. Als Galli den mit verschwenderischer Pracht restaurierten Ruhesitz bezieht, ist er nicht allein: Ausgewählte Freunde aus halb Europa kommen zusammen - eine ungewöhnliche Gemeinschaft, in der sich die Lebensgeschichten von Künstlern und Abenteurern, von Reisenden und Damen der Gesellschaft kreuzen. Tagsüber in den weitläufigen Zimmerfluchten mit sich selbst beschäftigt, trifft man sich abends im exotisch angelegten Wintergarten. Doch dann bricht die neue Zeit herein in Gestalt des aus den Materialschlachten des Krieges zurückkehrenden Neffen Gallis. Mit stilistischem Glanz und großer Dichte zieht Alain Claude Sulzer seine Leser in eine Welt, die in ihrem Untergang noch einmal ihre ganze Pracht entfaltet. Schloss Urmein, das ist eine faszinierend gedachte Weltfluchtburg. Als Galli seine Utopie aufgibt und die Koffer packt, ist es 1918: Winter über Europa.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
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Produkt

Klappentext1911 erwirbt ein italienischer Adeliger ein halb verfallenes Schloss in der Schweiz. Es liegt in Urmein, einem kleinen Dorf oberhalb von Thusis. Ausgewählte Freunde aus ganz Europa kommen hier zusammen, um einen geruhsamen Lebensabend zu verbringen. Doch mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bricht die neue Zeit in Gestalt eines jungen Soldaten über sie herein. Im Jahr 1911 erwirbt der italienische Graf Emilio Galli ein halb verfallenes Schloss; es liegt in Urmein am Fuße des Piz Beverin. Als Galli den mit verschwenderischer Pracht restaurierten Ruhesitz bezieht, ist er nicht allein: Ausgewählte Freunde aus halb Europa kommen zusammen - eine ungewöhnliche Gemeinschaft, in der sich die Lebensgeschichten von Künstlern und Abenteurern, von Reisenden und Damen der Gesellschaft kreuzen. Tagsüber in den weitläufigen Zimmerfluchten mit sich selbst beschäftigt, trifft man sich abends im exotisch angelegten Wintergarten. Doch dann bricht die neue Zeit herein in Gestalt des aus den Materialschlachten des Krieges zurückkehrenden Neffen Gallis. Mit stilistischem Glanz und großer Dichte zieht Alain Claude Sulzer seine Leser in eine Welt, die in ihrem Untergang noch einmal ihre ganze Pracht entfaltet. Schloss Urmein, das ist eine faszinierend gedachte Weltfluchtburg. Als Galli seine Utopie aufgibt und die Koffer packt, ist es 1918: Winter über Europa.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462321579
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum05.03.2020
Auflage1. Auflage
Seiten432 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2020 Kbytes
Artikel-Nr.4995277
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


II


Da sie keine Koffer besaß, war sie gezwungen, ihren gesamten Besitz - viel war das nicht - in dem aus Weiden geflochtenen, mit zwei Schlössern versehenen sperrigen Reisekorb unterzubringen, der aufgeschlagen neben dem abgezogenen, schmalen Leutebett stand, in dem sie, abgesehen von ihrem Aufenthalt im St.Josephs-Hospital, an den sie sich nur mit Schaudern erinnerte, jede Nacht der vergangenen vier Jahre verbracht hatte; meist zu erschöpft, um geheimen Gedanken feste Konturen zu geben. Hatte ihre Kindheit nur in Träumen stattgefunden? Nichts war ihr, die längst zum stets verfügbaren Bestand fremder Haushalte gehörte, ferner als die eigene, unendlich weit zurückliegende Vergangenheit. Sie nahm den Stapel rüschenbesetzter Küchenschürzen aus hellblauem Cretonne vom Bett, bückte sich zum Reisekorb und legte sie auf die schneeweißen, mit Lochstickerei versehenen Tändelschürzen, die sie auf ausdrücklichen Wunsch der Herrschaft stets nachmittags zum Tee getragen und alle zwei Tage gewechselt hatte. Sie richtete sich wieder auf, hielt inne, starrte auf die dreiteilige, hoch gefederte Matratze, auf der sie sich zumindest nachts für Augenblicke der Täuschung hatte hingeben können, von einer unsichtbaren Last befreit zu sein, und bemerkte nun zum ersten Mal zwei faustgroße, braun geränderte Flecken auf der mittleren Matratze sowie mehrere kleine Brandlöcher auf dem Keilkissen; Verunstaltungen, die darauf hindeuteten, dass eine ihrer Vorgängerinnen (oder deren Liebhaber) heimlich geraucht hatte und eine andere, wenn nicht dieselbe, das beklagenswerte Opfer starker Blutungen gewesen war, deren Ursache sie nie erfahren würde. Spuren, die ihr bisher entgangen waren, weil sie nur selten Zeit gefunden hatte, sich bei Tageslicht hier oben aufzuhalten; Spuren, ähnlich jenen, die sie an anderer Stelle wohl selber hinterlassen hatte.

Sophie trug einen Unterrock, eine weiße, mit Spitzenborten verzierte Bluse, schwarze Lackschuhe und graue Strümpfe, die den Blicken ihrer Mitmenschen selbst die Farbe ihrer Fesseln entzogen. Auf dem Stuhl lag der Hut, der kürzlich aus Breslau eingetroffen war; in Wirklichkeit nicht ganz so herrlich wie das Exemplar, das im Katalog des Modehauses Henel gelockt hatte. Die Ohrringe, in Gold gefasste, tropfenförmige Granate, waren ebenso wie der kleine, smaragdäugig blitzende Schlangenring am Mittelfinger ihrer rechten Hand Hinterlassenschaften ihrer Mutter, Erinnerungen an Versprechungen einer sorglosen Kindheit, die in jede nur erdenkliche leuchtende Zukunft außer eben jener gewiesen hatte, die sich schließlich in erzwungener Bescheidenheit und dienstfertiger Abhängigkeit erfüllte. Sie trug die Ohrringe und den Ring nur selten; aber wenn sie sich damit schmückte, an Feiertagen etwa, fühlte sie, wie sich das unbekümmerte Auftreten ihrer verstorbenen Mutter auf sie übertrug und ihr für Augenblicke sogar das schmerzhafte Gehen erleichterte. Sobald sie aber an den Ort zurückkehrte, wohin das Verhalten ihrer Mutter sie geführt hatte, fiel jede Fröhlichkeit von ihr ab. Sie wich dem stetig glimmenden, schmerzlichen Hass auf jene Frau, die ihr gesamtes Vermögen einer Person vermacht hatte, deren Namen Sophie niemals aussprach, wenngleich er immer in ihr umging. Die eigene Mutter hatte sie leichtfertig jener Zukunft beraubt, für die sie sie erzogen hatte. Kaum lagen die Schmuckstücke wieder in ihrer wattierten Hülle, kehrten die unerklärlichen Schmerzen in ihren fehlenden Gliedmaßen zurück.

Was ihr überflüssig erschienen war oder worauf sie glaubte verzichten zu können, lag nun zusammengedrängt auf der dicht an die Wand geschobenen Waschkommode, die den Wind davon abhalten sollte, durch den breitesten der unzähligen senkrechten Risse zu dringen, die kalte Wintertage und heiße Sommer in die Giebelwand gesprengt hatten. Sophies Wohnung lag ungeschützt, durch keine Umfassung begrenzt, unter dem Dach und war nicht mehr als eine in eine Ecke des weitläufigen Dachbodens gedrängte Schlafgelegenheit, die aus einem Bett bestand, um das herum sich in trostloser Verlorenheit ein spiegelloser Schrank mit fehlender Rückwand, ein selten benutzter Stuhl und eben die Kommode gruppierten, an der sie sich jeden Morgen gewaschen und gekämmt hatte und auf deren Marmorplatte nun jene Habseligkeiten lagen, die sie entbehren konnte: Die Taschenbibel, die ihr eine der frommen Schwestern des Hospitals zum Abschied überreicht hatte, ein gänzlich entfärbter Strauß Trockenblumen, der all die Jahre an einem der vier Bettpfosten gehangen hatte und von dem noch immer ein herber Geruch ausging, ein einfältig bemaltes Kästchen, in dem sich, wie sie sich vergewissert hatte, nichts außer einem fast zahnlosen Kamm befand - lauter Dinge, die sie vergessen haben würde, sobald dies Haus sowie die Zeit, die sie darin verbrachte hatte, hinter ihr lag.

Sie beugte sich, zwei frisch gebügelte Mullblusen in den Händen, über den Reisekorb, als sie durch eines jener Geräusche, an die sie sich nie gewöhnt hatte, in ihrer Tätigkeit unterbrochen wurde. Sie erstarrte, wandte sich in gebückter Haltung langsam um, sah aber nichts außer jener unveränderlichen, in die Jahre gekommenen, staubbedeckten Unordnung, an die zu rühren niemand seine Zeit verschwenden wollte und deren Anblick Sophie noch immer in leise Angst vor dem versetzte, was sie nicht sehen, aber ahnen konnte, weshalb sie nachts ihre Schritte niemals von jener Gasse weggelenkt hatte, die von Stühlen, Kisten und andere Gegenständen gebildet wurde, jener Gasse, die auf Umwegen von der Dachbodentür zu ihrem Bett führte, vorbei an grinsenden Schränken, selbstgefälligen Koffern, amputierten Tischen und vielen undeutlichen Gebilden, die im Schein des flackernden Kerzenlichts, das sie vor sich hertrug, bedrohliche Schatten warfen, die ihr entgegeneilten und hinter ihr verschwanden.

Sie glaubte weder an Gespenster noch an finstere Mächte, doch gegen die Gewalt rätselhafter Geräusche, deren Ursache sie nicht kannte und von denen sie nicht wusste, wo sie entstanden, war auch sie nicht gefeit. Sie schrie nicht auf, sie schrie nie auf, sie zuckte vor dem, was ihr kalt über die Haut fuhr, lediglich zusammen und dachte dann, wie immer, dass sie ja Schlimmeres gewöhnt sei. Es verstrich auch tagsüber kaum eine Minute, in der es im Dachgestühl, das unter der Hitze und Kälte ebenso zu leiden schien wie seine Bewohner, nicht knarrte. Doch jetzt, am helllichten Tag, schreckten die Geräusche sie weniger als nachts. Bereits morgen würden sie für immer der Vergangenheit angehören, denn auf einem Speicher würde sie in ihrer neuen Anstellung nicht wohnen.

Sie drückte die Blusen fest auf die gestärkten Schürzen und versenkte dann das Paar kostbarer Handschuhe in der Lücke zwischen den bunten wollenen Servierkleidern und dem halben Dutzend Schiffchen- und sichelförmiger Batist- und Baumwollhäubchen. Frau von Schmidthals hatte ihr die selten getragenen sämischledernen Handschuhe am selben Tag geschenkt, an dem die nach Ansicht der Herrschaft längst überfällige elektrische Klingelvorrichtung über eine Entfernung von vier Etagen bis zum Dachboden verlegt und die kleine, schrill tönende Glocke über ihrem Bett installiert worden war. Von da an waren Sophie, die Köchin und der Hausdiener stets und überall im Haus zu erreichen gewesen, selbst dann, wenn sie zwei Stockwerke über den oberen Wohnräumen ihrer Herrschaft oder, im Falle der Köchin, in unmittelbarer Nähe der Küche schon schliefen. Kürzere oder längere Klingelzeichen gaben - nicht immer deutlich genug - zu verstehen, nach welchem der Hausangestellten gerade verlangt wurde; zweimaliges, langes Schellen hatte Sophie gegolten.

Anders als Johann Hunger, der um einige Jahre älter war als Sophie und Herrn von Schmidthals bereits in seiner Jugend als Offiziersbusche gedient hatte (ohne in der Fremde seinen kuriosen Akzent verloren zu haben), anders als diesem war Sophie keines der beiden mit Fenstern versehenen Mansardenzimmer, sondern bloß dieses frei stehende Bett auf dem offenen Dachboden zugewiesen worden, während die Köchin im Hängeboden untergebracht war, der sich zwischen Küche und Badezimmer befand und nur über eine kleine Leiter erreicht werden konnte.

Von ihrem Bett aus, auf dem sie sich erst dann behaglich fühlte, wenn die eigene Körpertemperatur die Laken zu erwärmen begann, hatte Sophie vier Jahre lang auf schwammfeuchte, schwarz gesprenkelte Backsteinwände, auf morsche Dachsparren, nackte, mit Schindeln unterlegte Ziegel und verlassene Spinnennetze geblickt und ständig fürchten müssen, dass es einer der ihr äußerst widerwärtigen Tauben gelingen könnte, durch ein unerreichbar hoch gelegenes, unsichtbares Schlupfloch in den Dachstuhl einzudringen, wie es schon öfters vorgekommen war. Ohne fremde Hilfe hatte bisher keine den Ausgang gefunden, und wenn Johann Hunger nicht in der Nähe war, den sie nur ungern behelligte, blieb ihr nichts anderes übrig, als den Vogel eigenhändig ins Freie zu scheuchen. Während ihr die Vorstellung, heimlich von einer oder mehreren Tauben angestarrt zu werden, alles andere als behagte, hatte sie sich bald an die Holzteilchen und Ziegelsplitter gewöhnt, die dann und wann auf sie herunterrieselten, und geradezu beruhigend wirkte das Geräusch des Regens, der aufs Dach prasselte; selbst das Pfeifen und Trippeln hin und her huschender Mäuse hatte sie nicht geängstigt.

Während vier langen Jahren war sie bei den von Schmidthalsens in Diensten gewesen und, wie ihr schien, um das Dreifache gealtert (sie war nun vierunddreißig), obwohl man ihr das Leben weder unnötig noch absichtlich schwer gemacht zu haben glaubte. Ihr Arbeitstag hatte sich in nichts von den Arbeitstagen anderer Hausangestellter unterschieden - er dauerte von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends und jeweils...
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Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.