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Die siamesischen Brüder

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
304 Seiten
Deutsch
Kiepenheuer & Witsch GmbHerschienen am05.03.20201. Auflage
Eine historisch inspirierte Fantasie über den spektakulären und rätselhaften Lebenslauf der Siamesischen Zwillinge Chang und Eng, die zwei Schwestern heirateten, mit ihnen zahlreiche Kinder zeugten und die Einbildungskraft der Zeitgenossen aufs heftigste beschäftigten. Chang und Eng werden Anfang des 19. Jahrhunderts, an der Brust zusammengewachsen, auf einem Flosshaus in Bangkok geboren. Als Kinder von einem englischen Kapitän gekauft, reisen sie später auf Tourneen durch die Hauptstädte Europas und Amerikas. Sie werden berühmt, sind Monster und Artisten zugleich - doch nie können sie auch nur einen Schritt ohne den anderen tun.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
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Produkt

KlappentextEine historisch inspirierte Fantasie über den spektakulären und rätselhaften Lebenslauf der Siamesischen Zwillinge Chang und Eng, die zwei Schwestern heirateten, mit ihnen zahlreiche Kinder zeugten und die Einbildungskraft der Zeitgenossen aufs heftigste beschäftigten. Chang und Eng werden Anfang des 19. Jahrhunderts, an der Brust zusammengewachsen, auf einem Flosshaus in Bangkok geboren. Als Kinder von einem englischen Kapitän gekauft, reisen sie später auf Tourneen durch die Hauptstädte Europas und Amerikas. Sie werden berühmt, sind Monster und Artisten zugleich - doch nie können sie auch nur einen Schritt ohne den anderen tun.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783462321562
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum05.03.2020
Auflage1. Auflage
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse2072 Kbytes
Artikel-Nr.4995280
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe


2


Auftritt der Zwillinge Chang und Eng, einer Attraktion ohnegleichen, unvergesslich, unvergleichlich, Sonnenschein und Mondfinsternis, die Siamesischen Zwillinge nach ihrer Heimat genannt. Es riecht nach gesalzenem Fisch, gepökeltem Fleisch und eingelegtem Gemüse. Noch nach über einer Woche richtete sich ein wesentlicher Teil der Aufmerksamkeit der Passagiere, überwiegend Männer, die Handelsgeschäfte in den Fernen Osten führten, auf die zusammengewachsenen Zwillinge Chang und Eng, deren Haut zur Berührung reizte, weil sie so kindlich rein schien, matt bronzefarben, glatt und schimmernd; dünne, kurze Zöpfe, die Chou-Chou in ihre Haare geflochten hatte, schauten nur wenige Zentimeter unter ihren steifen, zylindrischen Hüten hervor.

Sie saßen auf dem Doppelstuhl, einem eigens für sie konstruierten Möbelstück aus Teakholz und schwarzem Leder, das sich beliebig, ganz nach den jeweiligen Wünschen der beiden, in diverse Stellungen bringen ließ. Sie konnten darin sitzen, liegen, sich zurücklehnen, wachen und schlafen. Die mittlere Armlehne befand sich etwa auf der Höhe ihrer Hüften. Sie hatten die Füße übereinandergelegt, die in schwarzen, lediglich zu den Knöcheln reichenden Stiefelchen steckten, Chang den rechten auf dem linken Fuß, Eng den linken auf dem rechten, in der Sonne, auf dem Oberdeck, da es um diese Zeit in den Kabinen unerträglich stickig war, die Beine weit von sich gestreckt und etwas gespreizt, weshalb die Hosenbeine über den Knien ein wenig spannten. Die grünen Augen funkelten zwischen den schmalen Augenschlitzen, durch welche sie sich von den anderen jugendlichen Passagieren zweifellos auch dann unterschieden hätten, wenn sie nicht zusammengewachsen gewesen wären. Die Sonne blendete. Eng erinnerte sich der Geschichte vom Drachen und vom jungen Mann aus dem Meer, der sich dem Drachen zitternd, aber mutig entgegenstellte. Etwas Kühlung oder doch ein Gefühl von Frische brachte der nur langsame, aber schwerfällige Gang des ächzenden Schiffs über die kaum bewegte See, ein wenig Schatten spendeten die beiden Sonnenschirme, die sie in ihren auffallend großen und kräftigen Händen hielten.

Sie hatten die Duncan am 5. Juni 1829 in Begleitung ihres Käufers (und Vormunds) betreten, der, wäre er nicht Engländer gewesen, ihr Vater hätte sein können, und sogleich waren alle drei von einer kleinen Schar neugieriger Reisender, vor allem Herren, umringt gewesen, die allerdings taktvoll Abstand hielten, sie nicht anfassten, sie nicht einmal anzufassen versuchten, die Hände nicht nach ihnen ausstreckten, sie nur aufmerksam, etwas distanziert, jedoch nicht hochmütig betrachteten, als einen merkwürdigen, aber nicht unvorstellbaren Teil der Welt, von der sie mehr gesehen hatten als die Mehrzahl ihrer Landsleute. Die meisten hatten von den Siamesischen Zwillingen, als welche Hunter sie präsentierte, bereits als von den Chinesischen Zwillingen gehört, nachdem sehr bald bekannt geworden war, dass sie nach England übersetzen würden, wohin sie der Kapitän der Duncan, Robert Hunter, führen wollte, um sie so bald wie möglich einer größeren und gewiss interessierten Öffentlichkeit vorzuführen, in Salons und vielleicht, sollte es sich nicht vermeiden lassen, auf Jahrmärkten; in dieser Hinsicht behielt Hunter seine Pläne für sich, auch das Ausland betreffend; mit den Zwillingen selbst sprach er darüber nicht. Dank der vornehmen Zurückhaltung der anderen Passagiere, ertönten also weder entsetzte Schreckensschreie angewiderter Frauen noch aufreizende oder gar obszöne Ausrufe eines von Schaulust angestachelten Pöbels, nicht jene Ausbrüche, auf die Hunter, ohne es auszusprechen - er wirkte wortkarg und spielte in Gesellschaft den Zurückhaltenden, Besonnenen -, für die Zukunft baute, für seine Zukunft und die der beiden Kinder. Die Vertreter der kontinentalen und britischen Zivilisation hielten sich geflissentlich zurück, die wenigen Frauen an Bord hatten dem Entsetzen schon mehr als einmal ins Gesicht gesehen, in vielfältiger Form, und ihm widerstanden, auf jede erdenkliche Weise. Sie waren durch Missgeschicke abgehärtet, die sie bis in diese fernen Gegenden begleitet hatten, die der schwüle Wind eher noch verschärfte, wohingegen die Kälte des Kontinents oder der Insel die Gefühle möglicherweise ersticht hätte. Nichts reizte sie zum Gesang, zum Klavierspiel. Sie hatten sich mit unterdrückter Wut in ihr Leben geschickt oder in das Leben ihrer reisenden Gatten; und wenn sie jetzt an Deck saßen und so taten, als betrachteten sie nichts weiter als ihre feuchten Hände, war es doch nur der trostlose Versuch, sich für einige Tage, für die Tage dieser Reise, der Hoffnung auf das Ende solcher und ähnlicher Reisen hinzugeben, an deren Ende der Einzug in ein Haus stünde, wo Verwandte, Freunde, Diener, Pferde und Hunde darauf warteten, ihnen die netteste Gesellschaft der Welt zu leisten, es ihnen behaglich zu machen, am Kaminfeuer, abends, bei Tisch, bei offenem Fenster morgens, in jeder nur vorstellbaren guten Gesellschaft, beim Ausritt, im Theater, in der Oper, von der man sich woanders wohl auch in diesem Augenblick Wunderdinge erzählte, bei der Lektüre neuer Romane, beim Lesen von Gedichten und keinesfalls auf Reisen; am unwiderruflichen Ende der Reisen. Stattdessen brannte die Sonne durch den zu leichten, hellen Stoff der Sonnenschirme, die die Hitze nicht mehr abzuhalten vermochten. Bald hatten sich alle Passagiere in die unteren Räume verzogen, um etwas zu trinken oder um sich hinzulegen, außer den Zwillingen, die, wie es schien, unter der sengenden Hitze nicht litten.

Die Mannschaft, in der Mehrzahl Asiaten, war angehalten, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, man möge auf jede gehässige oder anzügliche Bemerkung verzichten; doch konnte natürlich niemand daran gehindert werden, sich beim Betrachten dieser Kuriosität seine Gedanken zu machen, nicht immer die feinsten.

Obwohl ihr während einer Choleraepidemie früh verstorbener Vater Chinese und die Mutter Halbchinesin war, hatte Robert Hunter, den sie Sir zu nennen hatten, sie als die Siamesischen Zwillinge vorgestellt, EINE SONDERBARKEIT ERSTEN RANGES, AUF REISEN AUF HOHER SEE NACH ENGLAND, EIN WELTWUNDER, DIE XIPHOPAGEN CHANG UND ENG, DER LINKE UND DER RECHTE, DERSELBE MENSCH, unter welchem Namen sie, verliefe alles nach seinen Wünschen und Plänen, weltweit berühmt werden mussten und ihm Vermögen und einen Ruf als außerordentlichen Menschenerzieher einbringen würden. Was Chang und Eng zweifellos in großem Umfang noch fehlte, war die unumgängliche Kultur, auf deren Pflege Hunter die ersten Wochen, wenn nötig Monate ihres Zusammenseins verwenden wollte, prüfend und überwachend aus dem Hintergrund, womöglich eingreifend, wenn es ihm geboten schiene, es würde ihm weder an Zeit noch Geduld noch an einem gewissen Interesse fehlen, die beiden Siamesen Chang und Eng unter seiner Anleitung sich verwandeln zu sehen, auf sein Geheiß hin, dessen Frau Mary kinderlos geblieben war und eher den Eindruck einer Witwe als den der Gattin eines Mannes machte, nach dem sie sich sehnte.

Keinesfalls durften sie in ihrer jetzigen geistigen Verfassung vor die breite Öffentlichkeit, nicht als schlitzäugige Barbaren oder bedauernswerte Missgeburt auf sich aufmerksam machen, dann würde das Interesse, das beschränkte Interesse einer sich schnell anderen Attraktionen zuwendenden Masse, bald erlahmen. Sie sollten der freien, einer liebenswerten Welt als Bezwinger entgegentreten und nicht als Monstrum, das von ihr abhängig war.

Es galt, sie erst einmal gründlich in den Künsten der Konversation, der guten Manieren bei Tisch und in Gesellschaft, der englischen und französischen Sprache und Literatur, vielleicht sogar in Musik, vor allem im Kunstgesang zu unterweisen. Hunter wiegte sich in der Hoffnung, die beiden, die kräftige Stimmen besaßen, eines Tages im Duett singen zu hören, obwohl er selbst alles andere als ein Liebhaber von Opern, überhaupt der Musik war, von der er jedoch wusste, wie sehr sie von anderen geschätzt, ja heiß geliebt wurde, die dem Zauber der beiden gleichen und verdoppelten Stimmen zweifellos erliegen würden.

Solche Künste und Liebhabereien waren Robert Hunter, der seit seiner Jugend, seit seinem zwölften Lebensjahr, zur See gefahren war, ebenso fremd wie etwa der Umgang mit Kindern oder Hunden. Zum Zweck des Unterrichts hatte er durch die Vermittlung eines irischen Kaufmanns Verbindung mit Mr. Hawcraft, einem Dichter, aufgenommen, dessen Gedichte oder sonstige literarischen Hervorbringungen er nicht kannte, die er, hätten sie ihm vorgelegen, gewiss nicht gelesen hätte, der aber, wie ihm von verschiedenen Seiten bestätigt worden war, ein ausgezeichnetes, höchst verfeinertes, wortschatzreiches und ausgeprägtes Englisch sprach, in Oxford geschliffen, wurde gesagt, auch etwas Deutsch und wenig Französisch, das aber von Miss Charlotte Dine, deren Mutter Französin war, unterrichtet werden sollte, auf welche David Hawcraft den Kapitän schon beim ersten Gespräch aufmerksam machte. Sie war eine hübsche Frau mit sehr blassem, sich bei jeder Gelegenheit rötendem Gesicht, ihre Hände waren weiß und rein und blieben es in jeder Situation, manchmal trug sie helle Lederhandschuhe. Die Absätze ihrer Schuhe waren flach und die Schuhe von ausgezeichneter Qualität, wenn auch nicht neu. Der Vater war Ire gewesen, die Mutter nach dessen Tod in ihre Heimat nach Bayonne zurückgekehrt.

Hunter hatte Hawcraft drei Wochen vor seiner Abreise in Bangkok aufgesucht, in einem Hause etwas außerhalb der Stadt, und war über die Unordnung in dessen Zimmern erstaunt gewesen, ohne davor zurückzuschrecken. Er stand erstmals einem jener Wesen gegenüber, die sich als Künstler bezeichneten oder von der Welt als Künstler bezeichnet wurden. Nichts an ihm war auf...
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Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.