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E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
224 Seiten
Deutsch
Penguin Random Houseerschienen am13.04.2020
Ein ungewöhnlicher Blick auf die Kinderjahre der Republik, ein berührender Heimkehrer-Roman
Als Joseph aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkommt, ist er trotz Lungendurchschuss topfit verglichen mit dem, was sonst noch aus dem Zug steigt. Dass er von seiner Frau Katharina, der schönen Tänzerin vom Rhein, nicht abgeholt wird, überrascht ihn kaum. Er ist Realist. Aber das Eifersuchtsdrama, in das er hineingerät, verblüfft ihn doch gehörig ...
Mit unterkühlter Ironie schafft Martenstein die Balance zwischen Trauer, Melancholie und Komik. »Heimweg« ist ein großartiger Roman über die Geister der Vergangenheit und die falschen Versprechungen der Zukunft.

Harald Martenstein, 1953 geboren in Mainz, ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane, unter anderem »Ansichten eines Hausschweins«, »Nettsein ist auch keine Lösung« und »Heimweg«. Seine Kolumnen im ZEIT Magazin, in der WELT am Sonntag, im NDR und auf Radio Eins haben Kultstatus. Er wurde unter anderem mit dem Henri-Nannen-Preis, dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Theodor-Wolff-Preis und zuletzt 2024 mit dem Medienpreis für Sprachkritik ausgezeichnet und unterrichtet an Journalistenschulen. Martenstein lebt in Berlin und in der Uckermark.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR11,99

Produkt

KlappentextEin ungewöhnlicher Blick auf die Kinderjahre der Republik, ein berührender Heimkehrer-Roman
Als Joseph aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückkommt, ist er trotz Lungendurchschuss topfit verglichen mit dem, was sonst noch aus dem Zug steigt. Dass er von seiner Frau Katharina, der schönen Tänzerin vom Rhein, nicht abgeholt wird, überrascht ihn kaum. Er ist Realist. Aber das Eifersuchtsdrama, in das er hineingerät, verblüfft ihn doch gehörig ...
Mit unterkühlter Ironie schafft Martenstein die Balance zwischen Trauer, Melancholie und Komik. »Heimweg« ist ein großartiger Roman über die Geister der Vergangenheit und die falschen Versprechungen der Zukunft.

Harald Martenstein, 1953 geboren in Mainz, ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane, unter anderem »Ansichten eines Hausschweins«, »Nettsein ist auch keine Lösung« und »Heimweg«. Seine Kolumnen im ZEIT Magazin, in der WELT am Sonntag, im NDR und auf Radio Eins haben Kultstatus. Er wurde unter anderem mit dem Henri-Nannen-Preis, dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Theodor-Wolff-Preis und zuletzt 2024 mit dem Medienpreis für Sprachkritik ausgezeichnet und unterrichtet an Journalistenschulen. Martenstein lebt in Berlin und in der Uckermark.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783641266035
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum13.04.2020
Seiten224 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse1704 Kbytes
Artikel-Nr.4999781
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


1

Die Heimkehr meines Großvaters aus dem Krieg stand unter keinem guten Stern. Als seine Gruppe am Bahnhof ankam, zwanzig dünne Männer in grauen Wattejacken, spielte eine Kapelle Walzermelodien und Luftballons hingen an einem Reklameschild für Pepsi Cola. Die Wattejacken waren ein Abschiedsgeschenk der Sowjetunion, an ihre langjährigen deutschen Gäste. Der stellvertretende Bürgermeister hielt eine Rede und drückte jedem Spätheimkehrer die Hand, sofern eine solche noch vorhanden war. Die Zeitung würde ein Foto mit Bildtext bringen.

Die jüngeren Kinder, gezeugt während der letzten Heimaturlaube, hatten Angst vor den verdreckten Gestalten, die aus dem Zug kletterten, und versuchten, sich hinter ihren Müttern zu verstecken. Die Heimkehrer hatten ihre Stadt im Kopf, wie sie früher aussah. Sie sah jetzt aber völlig anders aus. Ihre Frauen waren älter als auf dem Foto in der Brieftasche, Gott allein wusste, was sie erlebt hatten. Mein Großvater trug einen unter widrigsten Umständen selbstgebauten Koffer, auf den er stolz war, aus Birkenholz, grau gestrichen, mit einem Griff aus original russischem Lagermaschendraht. Von seiner Russlandreise hatte er außerdem zwei steife Finger, einen Lungendurchschuss und eine nicht genau zu bestimmende Zahl von Lungenstecksplittern mitgebracht, das heißt, er war geradezu in Topform, verglichen mit einigen anderen armen Teufeln in seinem Eisenbahnwaggon. Er hatte nicht erwartet, dass jemand ihn abholt.

Vom Bahnhof lief er langsam nach Hause, schnupperte die feuchte Luft, die an manchen Tagen vom Fluss in die Stadt suppt, Rheinluft, die einen automatisch durstig macht. Erfreut stellte er fest, dass die restliche Neustadt weniger schlimm aussah als die Gegend direkt am Bahnhof. In einem Laden kaufte er von seinem Willkommensgeld Zigaretten, Schokolade, eine Flasche Bier und einen Blumenstrauß. Er klingelte an der Tür, zwei Mal, die Tür ging auf und er sah in das Gesicht eines unbekannten Mannes, der einen Schnurrbart trug und schwarze Haare hatte.

Mit so etwas war zu rechnen gewesen. Von seiner Grundhaltung her war mein Großvater Realist, vor allem, was die Liebe betraf. Er hatte sich schon im Zug die Worte zurechtgelegt, die er sagen würde. Deutliche, aber besonnene Worte. Falls der Mann Deutsch verstand. Andernfalls würde es schwierig werden.

Als er den Mund aufmachte, bemerkte er kleine Blutstropfen im Gesicht des fremden Mannes. Das Gesicht war blutgesprenkelt, als ob neben dem Mann jemand auf eine Mine getreten wäre, jemand, den es in kleine Stücke gerissen hat. Solche Gesichter hatte mein Großvater schon das eine oder andere Mal gesehen, in Russland. Der Mann schwankte, er hielt eine Pistole in der Hand. Hinter ihm lag meine Großmutter auf dem Teppich im Flur, sie schrie und fluchte gurgelnd und hielt sich den Hals, aus dem in regelmäßigen Abständen eine dünne rote Fontäne herausschoss. Der unbekannte Mann schrie ebenfalls, allerdings auf Französisch. Mein Großvater sagte gar nichts.

Mein Großvater hieß Joseph. Er war vor dem Krieg Bahnarbeiter gewesen, ein blondes, gut aussehendes Muskelpaket, einige Jahre jünger als meine Großmutter. Sie hieß Katharina, war Schönheitstänzerin und bildete unter dem Künstlernamen Salomé de los Rios mit ihrer Schwester ein Duett, das im Reich ein gewisses Aufsehen erregte, weil es hart am Rande der Schicklichkeit tanzte, bei ausreichender Gage auch ein kleines Stück über diesen Rand hinaus. Später arbeitete sie in einer Nachtbar, nicht mehr als Tänzerin im engeren Sinn, mehr in der Animierbranche. Sie saß mit großen grünen Augen und honigfarbenen Beinen an der Bar, in Tüll und Seide verpackt wie eine Praline und verbreitete eine einladende Aura, die sich ins Unermessliche steigern konnte, sofern ihr ein Gast einen Drink ausgab.

Sie war ein Naturtalent, weil die Liebe wirklich ihre Lieblingsbeschäftigung war. Das ist bei den deutschen Frauen ihrer Generation - nach allem, was man hört - nicht unbedingt die Regel gewesen. Meine Großmutter vermittelte den Männern das Gefühl, dass sie auch ohne Geld mit ihnen gegangen wäre. Sie hatte Freude an dem, was sie tat. Freude ist in jeder Branche ein entscheidender Vorteil. Sie war großzügig. Diese Großzügigkeit wirkte ansteckend auf die Männer. Man bekommt immer das zurück, was man gibt. Die Bar, die ihrer Schwester gehörte, lebte fast nur von ihr.

Morgens um vier tauchten manchmal Männer vor der Bar auf, die gerade erst geschlossen hatte, klingelten Sturm, machten ihr auf der Straße Heiratsanträge, während ringsheum die Lichter angingen und wütende Nachbarn ans Fenster rannten. Die Männer kauften Farbe und malten rote Herzen vor der Bar auf den Bürgersteig, mit Initialen darin, einer ließ sich ihren Namen auf den Unterarm tätowieren, ein anderer engagierte einen Stehgeiger für sie, wieder andere brachten Schubkarren voller Blumen und Cognac.

Das alles war im Grunde nicht nötig. Es war ihr beinahe egal. Ein Mann musste sich in Wirklichkeit nicht groß anstrengen, damit sie ihm ihren Zimmerschlüssel in die Brusttasche seines Jacketts gleiten ließ. Den Entschluss dazu fasste sie in dem einen kurzen Moment, in dem sie ihn zum ersten Mal sah. Andererseits konnte ein Mann sich noch so sehr anstrengen, wenn sie ihn nicht wollte, dann wollte sie ihn eben nicht. Daran hätten auch zwanzig Schubkarren voller Cognac nichts geändert.

Ihre Liebe verteilte sie nach klaren Kriterien. Sie liebte reiche Männer, und sie liebte schöne Männer. Es war nur leider so, dass die reichen Männer fast nie schön waren, und umgekehrt. An diejenigen aber, die beides waren, reich und schön, kam sie nicht heran. Die suchten sich andere Frauen, elegantere und klügere als sie. Sie begriff, dass sie sich zwischen den beiden Männersorten entscheiden musste. Sie entschied sich für die Schönheit.

Der Mann, den sie aussuchte, war nicht groß, aber muskulös, mit breiten Schultern und blonden Locken, einem Flaum auf der Brust und weißen Zähnen. Es machte ihm nichts aus, dass sie in einer Bar arbeitete. Es machte ihm nichts aus, dass er nicht ihre erste große Liebe war, auch nicht ihre fünfte, nicht einmal ihre zwanzigste. So gab sie sich hin auf dem Altar der Schönheit.

Mein Großvater meldete sich freiwillig, um etwas für seinen sozialen Status zu tun. Die Wehrmacht war für ihn die einzige realistische Aufstiegschance. Er wollte Offizier werden. Das war sein Traum: ein Offizier und eine Tänzerin.

Meine Großmutter brachte ihn zur Kaserne. Sie küsste ein Medaillon mit der Muttergottes darauf und hängte es ihm um den Hals. In der Kaserne rannten alle zu den Fenstern, sie pfiffen und winkten mit ihren Taschentüchern. Einige der Soldaten kannten meine Großmutter ja bestens.

Mein Großvater aber schwor beim Namen der Muttergottes, dass er für diese Frau bis in die hinterste Mongolei marschieren würde. Er würde Ninive erobern, Babylon befreien und Samarkand einäschern, sämtliche Völker würde er besiegen, die es hinter dem Ural gibt, und zwar, wenn es sein musste, mit nichts weiter bewaffnet als einem Taschenmesser. Anschließend würde er zwischen ihren Schenkeln versinken und frühestens in zweitausend Jahren bei bester Laune wieder hervorkommen. Mit dieser Haltung fuhr er in den Krieg. Wer immer sich ihm auf seinem Feldzug in den Weg stellte, der hatte es nicht leicht.

Er bekam das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, die Nahkampfspange und den Gefrierfleischorden, letzteren für die Teilnahme an einem Gefecht bei minus fünfzig Grad. Mit zuerst zwanzig, zuletzt nur noch mit sieben Mann verteidigte er stundenlang ein Rollfeld gegen dreihundert Feinde. Am Ende wurde er, trotz seiner fast nicht vorhandenen Schulbildung, trotz seiner zurückhaltenden Art und trotz seiner geringen Körpergröße, wegen besonderer Tapferkeit und wegen der strategischen Fähigkeiten, die er bei der Verteidigung des Rollfeldes bewiesen hatte, für den Offizierslehrgang vorgeschlagen. Mein Großvater dachte: Ein Wunder. In diesem Krieg hat sich ein Wunder ereignet. Bald darauf war der Krieg vorbei.

Ein halbes Jahr länger hätten wir durchhalten müssen, dachte mein Großvater sein Leben lang, eine einzige gewonnene Abwehrschlacht mehr oder ein Erfolg bei der letzten Großoffensive am Kursker Bogen, dieser Sieg, der tagelang zum Greifen nahe schien, und ich wäre bei Kriegsende zumindest Leutnant gewesen.

Er kam ohne Hoffnung zurück, ohne Schwung und mit einer schlechten Meinung von der deutschen Obrigkeit. Schön war er auch nicht mehr. Schon bei seinem letzten Heimaturlaub war er nicht mehr schön gewesen. Dazu musste er nicht in den Spiegel schauen, das sah er in ihren Augen.

Der blutbespritzte Mann schien unverletzt zu sein. Er trat einen Schritt zu Seite, damit mein Großvater in die Diele eintreten konnte, dann ging er zum Küchentisch, setzte sich, vergrub seinen Kopf in den Händen und schluchzte. Alles Theater, fand mein Großvater. Er suchte Verbandszeug, fand aber keines, rannte zu meiner Großmutter und beugte sich über sie. »Hast du das Verbandszeug woanders hingepackt, das war doch im roten Schränkchen?«, rief er, laut und mit möglichst genauer Artikulation. Dies waren die ersten Worte, die er nach sechs Jahren Abwesenheit an sie richtete.

Meine Großmutter gab als Antwort ein gurgelndes Geräusch von sich, ruderte hektisch mit den Beinen und deutete auf ihren Hals. Dann griff sie nach dem Garderobentischchen und versuchte, sich hochzuziehen. Aber sie rutschte auf einer Blutpfütze aus. Sie war nackt oder im Negligé, darüber gehen die Darstellungen auseinander. Fest steht, dass meine Großmutter auch in der extremsten Situation eine makellos schöne Frau war.

Mein Großvater rannte in die Küche, riss dem weinenden Franzosen die...

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Autor

Harald Martenstein, 1953 geboren in Mainz, ist Autor zahlreicher Sachbücher und Romane, unter anderem »Ansichten eines Hausschweins«, »Nettsein ist auch keine Lösung« und »Heimweg«. Seine Kolumnen im ZEIT Magazin, in der WELT am Sonntag, im NDR und auf Radio Eins haben Kultstatus. Er wurde unter anderem mit dem Henri-Nannen-Preis, dem Egon-Erwin-Kisch-Preis, dem Theodor-Wolff-Preis und zuletzt 2024 mit dem Medienpreis für Sprachkritik ausgezeichnet und unterrichtet an Journalistenschulen. Martenstein lebt in Berlin und in der Uckermark.