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Die wir liebten

E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
384 Seiten
Deutsch
Piper Verlag GmbHerschienen am02.03.20201
Zwei Brüder, die 70er und ein Heim, in dem das dunkle Deutschland überdauert Die Siebziger in der westdeutschen Provinz. Ein Dorf, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Für Edgar und seinen Bruder Roman ist das Leben überschaubar und gut. Bis sich ihr Vater am Maifest in die Tierärztin verliebt und die Familie verlässt. Die Mutter zieht sich immer mehr in ihren Lotto-Laden zurück. Die Jungen sind bald sich selbst überlassen. Schließlich steht das Jugendamt vor der Tür, um Edgar und Roman in den Gnadenhof zu holen. Ein Heim, in dem die Methoden der Nazis fortbestehen. In glühenden Bildern erzählt Willi Achten von einem spannungsvollen Jahrzehnt, dem unauflösbaren Band zwischen Geschwistern und vom Aufbruch einer Generation, die dem dunklen Erbe ihrer Eltern mit aller Entschiedenheit entgegentritt. »Ein spannender Entwicklungsroman und ein Soziogramm der 70er. Willi Achten schreibt Szenen, die man nicht mehr vergisst. Diese beiden Brüder werden die Leser lange begleiten.« - Sylvie Schenk

Willi Achten wuchs in einem Dorf am Nieder­rhein auf. Er studierte in Bonn und Köln. Seit den frühen 1990er-Jahren ist er als Schriftsteller tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Willi Achten lebt im niederländischen Vaals bei Aachen.
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Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUBePub WasserzeichenE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextZwei Brüder, die 70er und ein Heim, in dem das dunkle Deutschland überdauert Die Siebziger in der westdeutschen Provinz. Ein Dorf, in dem die Zeit stillzustehen scheint. Für Edgar und seinen Bruder Roman ist das Leben überschaubar und gut. Bis sich ihr Vater am Maifest in die Tierärztin verliebt und die Familie verlässt. Die Mutter zieht sich immer mehr in ihren Lotto-Laden zurück. Die Jungen sind bald sich selbst überlassen. Schließlich steht das Jugendamt vor der Tür, um Edgar und Roman in den Gnadenhof zu holen. Ein Heim, in dem die Methoden der Nazis fortbestehen. In glühenden Bildern erzählt Willi Achten von einem spannungsvollen Jahrzehnt, dem unauflösbaren Band zwischen Geschwistern und vom Aufbruch einer Generation, die dem dunklen Erbe ihrer Eltern mit aller Entschiedenheit entgegentritt. »Ein spannender Entwicklungsroman und ein Soziogramm der 70er. Willi Achten schreibt Szenen, die man nicht mehr vergisst. Diese beiden Brüder werden die Leser lange begleiten.« - Sylvie Schenk

Willi Achten wuchs in einem Dorf am Nieder­rhein auf. Er studierte in Bonn und Köln. Seit den frühen 1990er-Jahren ist er als Schriftsteller tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Willi Achten lebt im niederländischen Vaals bei Aachen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783492996266
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format HinweisePub Wasserzeichen
FormatE101
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum02.03.2020
Auflage1
Seiten384 Seiten
SpracheDeutsch
Dateigrösse4837 Kbytes
Artikel-Nr.5075055
Rubriken
Genre9201

Inhalt/Kritik

Leseprobe
1

Das Unglück meines Bruders begann in der sechsten Klasse. Sein Unglück war auch mein Unglück. Alles fing an, weil Roman mutiger war als ich. Eine Tugend kann ein Verhängnis sein. Das ahnten wir damals nicht.

Roman riss die Tür auf, flog durch die Reihen, warf sich auf seinen Stuhl und keuchte, als hätte er einen langen Lauf absolviert. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, schaute zur Tür. Ich sah, wie blass er war. Dann hörten wir es. Das Tack-Tack des Gehstocks auf der Treppe, die von den Privaträumen Honolds runter zu den Klassenzimmern führte, das Schleifen des Schuhs über die gebohnerten Holzdielen im Flur, das schwere Atmen. Schließlich rochen wir den Zigarrengeruch, der ihn umflorte wie ein immerwährendes, schales Parfum und ihm vorauseilte, bevor er das Klassenzimmer betrat, in dem wir uns zum Silentium trafen - Schüler der Klasse 4 der Volksschule und wir, die wir schon das Gymnasium in der Kreisstadt besuchten und zweimal wöchentlich zur Nachhilfe kamen, damit wir nicht jämmerlich scheiterten, fern des Dorfs und der Obhut unseres ehemaligen Rektors. Honold war hager und groß, und sein Kopf leuchtete wie die Boje, die man vor ein paar Tagen im See befestigt hatte. Er stelzte zum Pult, stellte seinen Gehstock ab, nahm den Rohrstock und schlug sich damit in die offene Hand, dass es klatschte.

»Wer?«, fragte Honold leise. Auf der Handfläche furchten sich die Striemen in die Haut.

»Wer hat es getan?« Er blickte über uns hinweg zum Fenster hinaus, als ließe sich dort die Antwort finden. Dann legte er den Rohrstock aufs Pult, ergriff seinen Gehstock und setzte sich in Bewegung. Sein krankes Bein mit dem stumpfen Fuß zog er nach. Es mutete weich und fladderig an. Niemand von uns hatte es je gesehen. Knöchel und Wade hielt er mit einem Strumpf bekleidet. Nie trug Honold Sandalen, auch im Sommer nicht. Selbst wenn er sich am Pult niederließ und das Hosenbein nach oben rutschte, der Strumpf verdeckte alles. Keiner von uns schien sich an den Anblick des seltsam leeren Hosenbeins gewöhnt zu haben. Unsere Blicke blieben daran hängen, fanden nicht mehr zurück zur Tafel oder zu seinem Mund, aus dem die Kopfrechenaufgaben, Multiplikationen und Divisionen, in die Klasse schwirrten. Nur wenn sich einer von uns auf seinen Schoß setzen musste, weil er eine Aufgabe glänzend gelöst hatte, oder übers Knie gelegt wurde und Prügel bezog, kamen wir dem Bein nahe. Mehr als die Schläge selbst fürchteten wir nur, es zu fühlen, das nie gesehene, schlaksige Bein. War es aus Holz? Bestand es aus einem gummiartigen Material, das ihm Form und Konsistenz verlieh, hart und nachgiebig zugleich? Jeder, der übers Knie gelegt wurde, wollte und musste eine Einschätzung geben. Gerüchte waren im Umlauf. Es sei ihm im Krieg abgeschossen worden. Andere wiederum hatten vom Knochenfraß gehört, einer Krankheit, die einen über Nacht befallen konnte und die das Bein Stück für Stück aufzehrte, wie ein gefräßiger Marder.

Schlimmer als alle Vorstellungen bezüglich Substanz und Ursache der Verletzung und des Verlusts war der Gedanke, es eines Tages tatsächlich berühren zu müssen. Das wollte keiner. Selbst mein Bruder nicht. Ja, noch die Aussicht, es ohne den Blickschutz der Hose und des Strumpfes sehen zu müssen, schreckte uns. Unvorstellbar, den Rektor im Schwimmbad in der Badehose anzutreffen.

»Wer?«, zischte der Rektor. »Wer von euch?«

Er hatte den ersten Tisch erreicht. Verharrte, schaute die beiden Mädchen an, die sich duckten. Nie würde eines der Mädchen aus der ersten Reihe so etwas tun. Etwas, von dem wir nichts Näheres wussten, das aber in der Welt sein musste. Etwas, das Honold so über alle Maßen in die Wut trieb. Etwas, das Roman angerichtet haben konnte. Wer sonst?

Auch ich duckte mich jetzt, hielt den Blick auf die braunen, unterschiedlich hohen Schuhe gesenkt. Der Schuh, in dem das kranke Bein steckte, reichte über den Knöchel hinaus, glich einem Schlittschuh, freilich ohne die Kufen. Ich hielt den Rücken gekrümmt, senkte den Kopf, hörte das Aufsetzen des Stocks und das Schleifen auf dem Parkettboden. Tisch für Tisch lief Honold die Reihen ab, schaute jedem ins Gesicht, musterte uns, ob sich nicht einer verriet durch rote Flecken am Hals, durch hastiges Atmen, das die Not ahnen ließ, entdeckt und überführt zu werden. Ich hörte Roman atmen, ich sah den Schweiß auf seinen Tisch tropfen. Er saß aufrecht da, schien Honold wie selbstverständlich zu erwarten, der uns gleich erreicht haben würde, in einigen wenigen Augenblicken, die uns noch blieben, bis er so unerträglich vor uns stehen würde wie ein bissiger, zähnefletschender Hund, der ansetzt zum Sprung. Mein Bruder war verrückt. Er hätte sich ducken müssen wie alle anderen, nichts und niemand würde ihn retten können, wenn Honold es zum Äußersten kommen ließ, der Schritt für Schritt auf uns zu kam, bis er, nachdem die Zeit sich noch einmal streckte, Herzschlag um Herzschlag, Atemzug um Atemzug, in der angstsatten Luft vor uns stand und das leere Hosenbein nachflatterte, während das andere unbewegt und starr am Rand des Tisches stand. Ich wagte nicht aufzuschauen.

»Warst du das?«, bellte die Stimme des Rektors. Du konnte nur mein Bruder sein. Oder glaubte der Rektor gar, dass ich â¦ Ich doch nicht. Ich nie!

»Sag die Wahrheit!« Noch war die Stimme gezügelt. Aus den Augenwinkeln sah ich, Roman schaute ihn an und sagte kein Wort. Sein Blick war in wutenge Schlitze versenkt. Wie ein stiller Mönch in die Weite schaut, so schaute mein Bruder in die gelben Wolfsaugen des Rektors. Plötzlich klatschte der Stock auf unseren Tisch, einmal, zweimal, dann rührte er mit der Spitze in den Schweißtropfen meines Bruders, die die Tischplatte sprenkelten. Schließlich packte Honold meinen Bruder am Ohr, riss ihn vom Stuhl und zerrte ihn zum Pult. Er setzte sich, legte Roman übers Knie, und der Stock fuhr in die Höhe, um gleich auf ihn niederzujagen wie ein Falke, der aus großer Höhe auf sein Opfer stürzt.

»War zu spät, komm von zu Haus, musste rennen, deshalb schwitze ich«, sagte mein Bruder mit fester Stimme, und der Stock verharrte über seinem Hintern.

Der Rektor stellte Roman zurück auf die Füße. Über Romans Gesicht huschte ein Lächeln. In Honolds Gesicht kochte die Wut. Die Haut hatte sich aufgeworfen, wirkte faltiger als sonst. Er stieß Roman zurück zu uns, und mein Bruder ging ab wie von einer Bühne. Sein Schritt war bestimmt, ich las keine Angst in seinen Augen, er nahm Platz, kniff mir ein Auge. Roman strich sich über die Stirn, die nun trocken war, nur das Haar glänzte feucht. Er hatte rotes Haar, ein dunkles Tizianrot, es stand ihm gut, und seine Haut war nicht die blasse, sonnenängstliche Haut anderer Rothaariger, sondern wurde im Sommer kastanienbraun.

Honold schien noch nicht genug zu haben. Wer genau hinschaute, sah, dass die Wut nicht erloschen war, sondern ungebrochen aus seinen Augen starrte. Wo Füße angstvoll scharrten, ein Gesicht aufflammte, an einem Fingernagel gekaut oder die Haut am Nagelrand abgeknibbelt wurde, verbiss sich sein Blick, zerrte er immerzu an seinem Opfer und verlangte nach einer Antwort: »Wer? Wer war das? Redet!«

Niemand sagte etwas, selbst der Ängstlichste nicht. Unser Schweigen zog teigig durch den Raum, es hatte etwas Physisches bekommen. Die Uhr tickte. Keiner rührte sich, kein Finger streckte sich in die Höhe. Ich sah das gesunde Bein des Rektors einen Schritt tun. Das andere folgte ihm in die Schlacht, zu Theo und Stefan in der zweiten Reihe, sie traf das betäubende, schmerzende Schreien des Rektors. Auf die beiden hatte er es schon immer abgesehen. Zweimal waren sie bereits sitzen geblieben, und er drohte ihnen mit der Hilfsschule oder mit dem Heim, dem Gnadenhof, der ein paar Kilometer entfernt am Rand des nächsten Dorfes lag. Ihr Vater war ein Flüchtling aus dem Osten, der hier bei uns im Dorf nach dem Krieg ein neues Leben angefangen hatte, wie Mutter sagte. Es gab vor dem Krieg, und es gab nach dem Krieg. Anders ließen sich die Zeit und das Leben nicht einteilen. Das Davor klang wehmütig und das Danach erleichtert. Bitter schmeckte allein im Krieg. Dann senkte sich die Stimme.

Honolds Gedonnere schlug in Theos und Stefans Ohren, dass ihre Körper zur Seite knickten. Ins Heim gehöre, wer sich nicht an die Regeln halte. Ein Anruf von ihm genüge. Dort würde man uns die Flötentöne schon noch beibringen. Honold kippte auf sie zu, gebadet in seinem Toben, ein Krieger, plötzlich nicht mehr kreuzalt, sondern fast jung. Bevor er mit dem Oberkörper auf dem Tisch aufschlug und von dort in die Stuhlreihe rauschen würde, riss er sich hoch, schwankte, bebte in allen Knochen und hetzte zum Nachbartisch. Er stürzte von Tisch zu Tisch - und niemand, der ihm eine Antwort auf seine Frage gab, niemand, der endlich das befreiende, uns alle befreiende Ich sagte oder es flüsterte oder es nur nickte. Niemand, auch ich nicht, sagte Ich. Und nun schoss seine Wut an unseren Tisch zurück, sie schien sich gerade bei uns noch einmal zu verdoppeln, vielleicht weil mein Bruder ihn so unverwandt anschaute, seinen Blick direkt in das Geschrei hielt.

Ein einziges Mal nahm er den Blick fort, schaute mich an und musste die Tränen, die winzigen Tränen in meinen Augen gesehen haben, und schließlich wird er das Rinnsal bemerkt haben zu meinen Füßen, vielleicht auch nur den Geruch, denn als Honold verstummte und die Nase rümpfte und ein hauchfeines Grinsen wie eine sehr dünne Maske sich auf seinem Gesicht einfand, stand mein Bruder auf, langsam, mit Bedacht, und in seinem Rücken fand ich Schutz. Es war der Rücken eines Zwölfjährigen, aber es war ein Rücken, und Honolds Kopf verschwand aus meinem Sichtfeld. Der...
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