Hugendubel.info - Die B2B Online-Buchhandlung 

Merkliste
Die Merkliste ist leer.
Bitte warten - die Druckansicht der Seite wird vorbereitet.
Der Druckdialog öffnet sich, sobald die Seite vollständig geladen wurde.
Sollte die Druckvorschau unvollständig sein, bitte schliessen und "Erneut drucken" wählen.

Die Unschuldigen

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
352 Seiten
Deutsch
Eichbornerschienen am28.08.20201. Aufl. 2020
Der elfjährige Evered und seine zwei Jahre jüngere Schwester Ada wachsen unter kargen Bedingungen auf. Sie sind die Kinder von Fischern, die allein inmitten der kanadischen Wildnis leben.

Als ihre Eltern sterben, sind die Geschwister auf sich allein gestellt; sie wissen nur das von der Welt, was sie von Mutter und Vater gelernt haben. Also führen sie deren hartes Leben nach Kräften weiter. Bis die Loyalität der Geschwister auf die Probe gestellt wird und sie für ihre Zukunft kämpfen müssen.
mehr
Verfügbare Formate
TaschenbuchKartoniert, Paperback
EUR12,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR9,99

Produkt

KlappentextDer elfjährige Evered und seine zwei Jahre jüngere Schwester Ada wachsen unter kargen Bedingungen auf. Sie sind die Kinder von Fischern, die allein inmitten der kanadischen Wildnis leben.

Als ihre Eltern sterben, sind die Geschwister auf sich allein gestellt; sie wissen nur das von der Welt, was sie von Mutter und Vater gelernt haben. Also führen sie deren hartes Leben nach Kräften weiter. Bis die Loyalität der Geschwister auf die Probe gestellt wird und sie für ihre Zukunft kämpfen müssen.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783732595051
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Verlag
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum28.08.2020
Auflage1. Aufl. 2020
Seiten352 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5161626
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe
MARY ORAM. IHRE WERKZEUGE.

Noch Wochen nachdem der Vater gestorben war, verbrachten die Kinder die meiste Zeit schlafend im Bett, wo es warm war und sie den tröstlichen Atem des anderen neben sich hörten. Die Tage waren kurz, die einzige glaslose Fensteröffnung war mit einem Laden gegen Kälte und Wind verschlossen, sodass die Zeit in einem Wechsel aus kaltem Dämmerlicht und absoluter Dunkelheit verstrich.

Jeden Tag nach Sonnenaufgang machte Evered Feuer. Sobald die unerträgliche Kälte ein wenig nachgelassen hatte, hob er Ada aus dem Bett, wie früher, als sie noch eine kleine Pisstrine von zwei oder drei Jahren gewesen war, setzte sie auf den Toiletteneimer und blieb so dicht bei ihr stehen, dass sie sich bibbernd an sein Bein lehnen konnte. Sie war nur wenig kleiner als er, aber dünn wie ein Stecken, in jeder Hinsicht noch ein Kind, abgesehen von den Händen, die schon seit Jahren Erwachsenenarbeit verrichteten und an die spröden Hände eines alten Weibes erinnerten. Dabei umklammerte sie wie ein Überbleibsel aus besseren, unwiderruflich vergangenen Tagen eine Puppe, die sie aus Lumpen für ihre kleine Schwester genäht hatte. Sie lehnte den Kopf an die Oberschenkel des Bruders, bis sie fertig war, dann trug er sie zurück ins Bett, wo sie einander umarmten, um die lähmende Stille zu verdrängen.

Keines der Kinder hatte nennenswerten Appetit oder brachte es fertig, eine richtige Mahlzeit zuzubereiten. Evered erwärmte jeden Tag aufs Neue einen grindigen Topf Erbsensuppe und bot Ada eine Schüssel an, konnte sie aber nicht überzeugen, davon zu essen. Sie ernährte sich ausschließlich von Hartkeks, den sie im Bett liegend zu Brei zerkaute. Sie sprachen kaum miteinander. Manchmal wurde Evered in der Dunkelheit wach und hörte Ada laut flüstern, doch er konnte weder verstehen, was sie sagte, noch, mit wem sie redete, und traute sich auch nicht, sie zu fragen.

Von Zeit zu Zeit wagte er einen Vorstoß nach draußen, um den vollen Toiletteneimer zu leeren, frisches Wasser vom Bach herzuschleppen oder einen Arm voll Brennholz zu spalten. Der Holzstapel gleich bei der Hütte nahm stetig ab, und Evered war, als schwinde im gleichen unabänderlichen Tempo auch in ihm etwas dahin. Er fühlte sich benommen von zu wenig Essen, zu viel Zeit im Bett und einer unbestimmten Furcht, die immer stärker wurde und ihn nicht mehr losließ. Aus Angst suchte er nach dem Steinschlossgewehr des Vaters, einer alten Büchse, die er nie geladen oder abgefeuert hatte und die schon so lange unbenutzt im Schuppen stand, dass die Eisenteile Rost angesetzt hatten. Er stellte das marode Gewehr nahe der Feuerstelle in eine Ecke, als garantierte sein bloßes Vorhandensein tröstliche Sicherheit.

Ehe er zurück ins Bett kroch, schürte er das Feuer. Ada hob die Decke, um ihn ins Warme zu lassen, und schlang die Arme um ihn. Von Tag zu Tag fiel es ihm schwerer, diesen Kokon zu verlassen. Eines Abends kam ihm im schwindenden Licht der Gedanke, dass sie dort im Bett sterben könnten, einer im Arm des anderen, und er fragte: »Meinst du, wir sollten uns nach Mockbeggar aufmachen?«

Sie hatten die Bucht, in der sie geboren waren, noch nie verlassen und keine Ahnung, was sie in Mockbeggar erwartete. Sie wussten nur, dass Cornelius Strapps Schoner im Frühjahr und im Herbst aus Mockbeggar kam und vor der Bucht ankerte, um Lebensmittel zu bringen und den Fisch einzuladen, den sie während der vergangenen Saison gefangen hatten. Und sie wussten, dass ihr Vater immer dorthin gerudert war, um Mary Oram zu holen, wenn die Mutter meinte, dass es an der Zeit sei. Mehr über Mockbeggar wussten sie nicht - in ihrer Vorstellung hätte der Ort ebenso gut im Heiligen Land oder auf dem Mond liegen können.

»Keine Ahnung«, sagte Ada. »Meinst du, wir könnten bei Mary Oram unterkommen?«

Die bloße Erwähnung dieser Frau löste ein ungutes Gefühl bei Evered aus. »Glaub kaum, dass sie sich mit Leuten wie uns abgibt.«

»Du glaubst, Mary Oram ist eine Art Hexe«, flüsterte Ada.

»Du doch auch, oder?«, sagte er. Er bereute es, das Thema überhaupt angesprochen zu haben. »Ich schätze, wir können uns auch hier durchschlagen, wenn wir´s nur wollen«, sagte er. Und gleich darauf fügte er hinzu: »Aber Angst hab ich nich vor ihr!«

An seiner Brust schüttelte Ada den Kopf. »Du bist ein erbärmlicher Lügner, Bruder.«

Er zog sie an sich. »Schlaf jetzt lieber«, sagte er.

Mary Oram war der einzige Mensch, mit dem sie außerhalb ihrer Familie je zu tun gehabt hatten. Ihre Mutter war in der letzten Phase der Schwangerschaft gewesen, hatte sich nur noch mehr schlecht als recht um die Hütte herumbewegt und den gewaltigen Bauch ungelenk vor sich hergeschoben wie eine Karre. Sie hatte kaum daran vorbeigreifen können, um den Kessel übers Feuer zu hängen, und war schon außer Atem gewesen, wenn sie morgens nur den Toiletteneimer zur Flutgrenze hinabgetragen hatte. Im Sitzen oder Liegen hatte sie alle paar Minuten die Position wechseln müssen. Etwa einen Monat bevor Cornelius Strapps Schoner mit der Frühjahrslieferung kommen sollte, erwachte ihre Mutter jammernd mit krampfartigen Schmerzen.

»Jetzt isses so weit«, sagte der Vater.

Eine neuerliche Wehe fuhr durch ihren Körper, und sie schüttelte den Kopf, als wollte sie sich von einer schrecklichen Erinnerung befreien. »Nein, das is nichts«, sagte sie.

»Ich muss Mary Oram holen«, sagte der Vater.

»Kein Grund, Mary Oram zu belästigen«, sagte die Mutter mit zusammengebissenen Zähnen. »Du kannst das auch schaffen, wenn´s so weit is, Sennet.«

»Gottverdammich«, sagte er. »Zu was werd ich wohl gut sein, wenn ich erst mal umgekippt bin wie´n Hackklotz? Beim letzten Mal wärst du in deim Bett verendet, wenn Mary Oram sich nich um dich gekümmert hätt ...«

»Es is aber nichts«, sagte sie wieder.

Der Vater wandte sich ab, um seinen Mantel zu nehmen, und packte sich drei Hartkekse als Wegzehrung ein.

»Ich schwör bei Gott, Sennet Best, wenn du heut mit dem Boot verschwindest ...«

Evered folgte seinem Vater zur Flutgrenze. »Soll ich mitkommen?«, fragte er.

»Du passt auf die beiden auf«, entgegnete der Vater, während er die Ruder einhängte und sich vom Ufer abstieß. Er warf einen Blick über die Schulter aufs offene Wasser, wo eine frische Brise aus Ost kleine Wellenkämme entstehen ließ. »Wird ein langer Schlag, wenn der Wind nich dreht«, rief er. »Morgen Nachmittag bin ich zurück, so Gott will, oder den Tag drauf.«

Evered sah zu, wie sein Vater mit gleichmäßigen Bewegungen davonruderte. »Ich weiß nicht, was ich machen soll!«, schrie er. »Was soll ich machen?«

»Du bleibst bei den Frauen!«, sagte der Vater. Und dann sagte er noch ein paar Dinge, die Evered aber wegen des Windes und der ans Ufer schlagenden Wellen nicht mehr hören konnte.

Noch vor Einbruch der Dunkelheit war der Vater am folgenden Tag wieder da. Er hatte sich geweigert, auch nur eine Stunde auszuruhen, hatte vielmehr gleich die Rückfahrt angetreten und die ganze Nacht durchgerudert und kam nun vom Ufer hochgerannt, gefolgt von Mary Oram. Halb rechnete er damit, seine Frau oder das Neugeborene tot vorzufinden, doch sie saß ruhig am Feuer, auf dem Bauch einen Becher Tee. Er wandte sich einmal im Kreis, als könnte ihm ein Rundumblick durch die Hütte helfen, die Dinge besser zu verstehen.

»Hallo, Sarah Best«, sagte Mary Oram, die unbemerkt hinter ihm durch die Tür getreten war, und alle drehten sich nach ihr um. Sie war eine zwergenhafte Person, nicht größer als Ada, trug Kleider aus grobem Nesselstoff und Wolle, eine bunte Strickmütze auf dem kahlen Kopf und einen Lederbeutel über der Schulter. Ihre Augenbrauen und Wimpern waren so hell und dünn, dass ihr Gesicht ebenfalls kahl wirkte. Sie erinnerte an eine schlecht gemachte, mit Sägemehl gefüllte Puppe, die plötzlich zum Leben erwacht war. Ihre Hände waren zart und blass und hatten keine Fingernägel. Sie nickte den Kindern zu, die nebeneinander auf der Bettkante saßen. »Ihr zwei seid beide von mir!«, sagte sie, doch die Kinder waren zu erschrocken von ihrem Anblick, um nachzufragen, was sie damit meinte. Ada überlegte, ob wohl alle Menschen in Mockbeggar so aussahen, sprachen und sich bewegten wie Mary Oram.

»Ich hab ihm doch gesagt, es is noch nich so weit«, sagte Sarah Best.

Nachdem der Vater losgerudert war, hatten die Wehen die Mutter aus dem Bett getrieben. Sie war in der kleinen Hütte an die hundertmal auf und ab gegangen und hatte schließlich Ada aufgefordert, sich hinzuknien und ihr die Schuhe anzuziehen, damit sie draußen umherlaufen konnte. Innerhalb einer Stunde hatten die krampfartigen Schmerzen so stark nachgelassen, dass sie etwas essen konnte. Am Nachmittag dann war klar gewesen, dass nichts weiter passieren würde, und sie hatte den Rest des Tages damit verbracht, Seetang von der Wasserkante zum Gemüseacker in den Hügeln zu schleppen.

Mary Oram durchquerte das Zimmer und schob eine Hand unter die Kleidung der Mutter, um nach dem Baby zu tasten. »Weißt du, wie weit du bist?«

»September letztes Jahr. Da hatt ich das letzte Mal den monatlichen Besucher«, flüsterte die Mutter.

Der Vater marschierte an ihnen vorbei, ließ sich in sein Bett fallen und zog die Decke über den Kopf.

»Dauert nich mehr lang, bis es so weit is«, sagte Mary Oram. »Keine zwei Wochen, würd ich meinen. Es sei denn, dies Kind hier hat andere Vorstellungen.«

»Ich schneid´s bald mit nem Fischmesser raus, wenn ich´s noch länger mit mir rumschleppen muss!«

Der Vater schnarchte bereits unter der Decke. Mary Oram sagte:...
mehr

Autor

Michael Crummey stammt aus Buchans, einer Bergarbeiterstadt in Neufundland. Er hat mehrere Gedichtbände und Romane verfasst, die oft in Neufundland und Labrador spielen. Er lebt mit seiner Familie in St. John's, Neufundland.
Die Unschuldigen