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LoveStar

E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
304 Seiten
Deutsch
Eichbornerschienen am30.10.20201. Aufl. 2020
Der international agierende Konzern LoveStar mit Sitz in Island hat eine Methode gefunden, um die Menschheit komplett fernzusteuern. Träume werden entschlüsselt und zu Geld gemacht, der Tod wird zu einem großen Spektakel vermarktet, und die einzig wahre Liebe wird jedem Menschen unwiderruflich per Algorithmus zugerechnet. Ein junges Paar jedoch versucht, sich der totalen Gleichschaltung zu widersetzen und seine ganz individuelle Liebe zu retten - während die Welt ins Chaos stürzt ...



Andri Snær Magnason, geboren 1973, ist Autor, Regisseur, Umweltaktivist, viel gefragter Zukunftsvisionär, war Kandidat für das isländische Präsidentschaftsamt und erhielt u .a. den mit 75.000 Euro dotierten KAIROS-Preis für herausragende Persönlichkeiten. LoveStar wurde mit dem Isländischen Buchhandelspreis 2002 und dem Prix d'Imaginaire 2006 ausgezeichnet und erhielt eine besondere Erwähnung des Philip K. Dick Award 2012.
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Verfügbare Formate
BuchKartoniert, Paperback
EUR14,00
E-BookEPUB0 - No protectionE-Book
EUR12,99

Produkt

KlappentextDer international agierende Konzern LoveStar mit Sitz in Island hat eine Methode gefunden, um die Menschheit komplett fernzusteuern. Träume werden entschlüsselt und zu Geld gemacht, der Tod wird zu einem großen Spektakel vermarktet, und die einzig wahre Liebe wird jedem Menschen unwiderruflich per Algorithmus zugerechnet. Ein junges Paar jedoch versucht, sich der totalen Gleichschaltung zu widersetzen und seine ganz individuelle Liebe zu retten - während die Welt ins Chaos stürzt ...



Andri Snær Magnason, geboren 1973, ist Autor, Regisseur, Umweltaktivist, viel gefragter Zukunftsvisionär, war Kandidat für das isländische Präsidentschaftsamt und erhielt u .a. den mit 75.000 Euro dotierten KAIROS-Preis für herausragende Persönlichkeiten. LoveStar wurde mit dem Isländischen Buchhandelspreis 2002 und dem Prix d'Imaginaire 2006 ausgezeichnet und erhielt eine besondere Erwähnung des Philip K. Dick Award 2012.
Details
Weitere ISBN/GTIN9783732595099
ProduktartE-Book
EinbandartE-Book
FormatEPUB
Format Hinweis0 - No protection
FormatFormat mit automatischem Seitenumbruch (reflowable)
Verlag
Erscheinungsjahr2020
Erscheinungsdatum30.10.2020
Auflage1. Aufl. 2020
Seiten304 Seiten
SpracheDeutsch
Artikel-Nr.5161663
Rubriken
Genre9200

Inhalt/Kritik

Leseprobe


EIN HANDFREIER MODERNER MANN

Indriði Haraldsson war ein handfreier moderner Mann. Handfreie moderne Menschen umgaben sich so wenig wie möglich mit Kabeln und Leitungen, die allerdings nicht mehr Kabel und Leitungen hießen. Kabel wurden Fesseln genannt. Die alten Geräte nannte man Halden, Lasten oder Bürden. Die Leute betrachteten die Halden und Bürden und priesen sich glücklich. »Früher«, sagten manche, »waren wir Kabelsklaven, die an ihre Schreibtischstühle gefesselt waren, fernab von Vogelgezwitscher und Sonnenschein.« Doch das war längst Vergangenheit. Wenn Männer in Anzügen auf der Straße Selbstgespräche führten und Indexzahlen herunterleierten, hielt niemand sie für verrückt, denn wahrscheinlich führten sie gerade ein Verkaufsgespräch mit einem abwesenden Kunden. Ein Mann, der hochkonzentriert am Flussufer saß und Gymnastikübungen machte, konnte ein Ingenieur sein, der gerade eine Brücke konstruierte. Wenn eine Frau beim Sonnenbaden aus heiterem Himmel verkündete, sie wolle eine Fangquote für zwei Tonnen Seelachs kaufen, musste sich niemand automatisch angesprochen fühlen, und wenn ein Jugendlicher im Bus merkwürdig summte und den Kopf hin und her wiegte, litt er nicht zwangsläufig an schwerem Autismus - wahrscheinlich hörte er unsichtbares Radio. Wer heftig atmete und an einem unpassenden Ort oder zu einer unpassenden Zeit eine Erektion bekam, war vermutlich über seinen Sehnerv mit einem Hardcoreprogramm verbunden oder lauschte der Telefonsexline. Es gab kein Limit für die Perversitäten, die einigen Leuten durch die ständig verbundenen Köpfe gingen, aber man konnte ihnen natürlich nicht verbieten, ihre eigenen Köpfe mit Dreck, Gewalt und Obszönitäten vollzustopfen. Dann hätte man ebenso gut das Denken verbieten können.

Wenn jemand neben einem stand und fragte: »Wie viel Uhr ist es?«, woraufhin man prompt antwortete: »Halb zehn«, konnte der Fragende, obwohl sonst niemand zu sehen war, entgegnen: »Danke, aber mit Ihnen habe ich nicht gesprochen.«

Daher lohnte es sich in der Regel nicht, zu antworten, wenn ein Fremder einen ansprach. Man hätte ihn stören können.

Indriði Haraldsson war ein handfreier moderner Mann, und deshalb konnte kein normaler Mensch erkennen, ob er gerade durchdrehte oder nicht. Wenn er auf der Straße mit sich selbst sprach, war vielleicht jemand am anderen Ende der Leitung. Wenn er lachte und lachte, konnte das denselben Grund haben, oder er hörte gerade eine Comedy-Sendung im Radio, oder ein lustiger Sketch lief über seine Linse. Im Grunde ließ sich unmöglich sagen, was in seinem Kopf abging, aber es musste keineswegs etwas Unnormales sein. Wenn er durch die Straße rannte und schrie: »Das Ende der Welt ist nah! Das Ende der Welt ist nah!«, gingen die meisten davon aus, dass er an einem Radioquiz teilnahm und versuchte, einen Hamburger zu gewinnen. Wenn er siebenmal nackt auf der Rolltreppe im Einkaufszentrum hinauf und hinunter fuhr, dachten die Leute dasselbe, nämlich dass wahrscheinlich alle, die siebenmal nackt Rolltreppe fuhren, einen Preis bekamen. Es war schwer zu sagen, welchen Preis er ergattern wollte, zumal er nackt war und man, ausgehend von Frisur, Alter und Statur, nur raten konnte, welcher Zielgruppe er angehörte. Indriði war schlank, hatte blasse Haut und spärliche Körperbehaarung, während sein Kopfhaar blond, wirr und ungekämmt war. Er gehörte also bestimmt nicht zur Zielgruppe des Gute-Laune-Radiosenders, der für Bodybuilding, Sportwagen, Strähnchen und Solarium warb. Er hatte weder ein Tattoo noch eine gepiercte Lippe, Augenbraue, Stirn oder Vorhaut, sodass er nicht zur Zielgruppe des Senders gehörte, der auf alles einen Dreck gab, Rock- und Punk-Coverversionen spielte und für reines Bier, selbstgebrannten Schnaps und filterlose Zigaretten warb. Indriði war nackt und ungekämmt und gehörte bestimmt nicht zu einer der gesetzteren Zielgruppen. Vielleicht war er Performance-Künstler. Künstler performten immer irgendwas. Vielleicht brachte die Rolltreppeneinlage drei Punkte beim Performance-Kurs an der Kunsthochschule. Aber er konnte natürlich auch einer seltenen, exotischen Zielgruppe angehören. Davon gab es viele, obwohl man normalerweise versuchte, die Leute in eine allgemeinere Richtung zu lenken, wo man sie leichter erreichen konnte.

Wenn Indriði plötzlich zehn Sekunden lang jemanden anschrie: »EEEEEISKALTES MALZBIER! EEEEEISKALTES MALZBIER!!!«, ohne dass seine Augen oder sein Körper mit den Worten mitgingen, war das nicht unnormal. Der Grund für dieses Verhalten war klar: Die Werbung, die ihm übermittelt wurde, war direkt mit seinem Sprachzentrum verknüpft. »EEEEEISKALTES MALZBIER!!!!« Er musste also ein »Werbekräher« oder »Kräher« sein, wie sie meist genannt wurden. Vermutlich war er so pleite, dass er aus den meisten Zielgruppen herausfiel und es sich nicht lohnte, ihm Werbung zu übermitteln. Aber man konnte durch ihn Werbung an andere übermitteln, indem man Slogans mit seinem Sprachzentrum verknüpfte und seinen Mund als Lautsprecher benutzte. Wer an einem Kräher vorbeikam, musste mit einer Ankündigung rechnen:

»EEEEEISKALTES MALZBIER!«

Das hatte eine größere Wirkung als traditionelle Appelle auf Werbetafeln oder im Radio. Deshalb krähte Indriði, wenn er auf dem Weg zum Parkplatz einem Mann begegnete:

»BITTE ANSCHNALLEN! FAHREN SIE VORSICHTIG!«

Der Mann war mit überhöhter Geschwindigkeit ohne Sicherheitsgurt von der Polizei angehalten worden. Als Strafe musste er sich zweitausend erbauliche Ermahnungen von Werbekrähern anhören und für diese bezahlen. Das war vielleicht das Beste an der neuen Technik. Man konnte sie anwenden, um die Gesellschaft zu verbessern.

»LIEBE DEINEN NÄCHSTEN!«, kreischte ein finster aussehender Typ jede halbe Stunde. Ein geläuterter Mörder, vermutete Indriði ganz richtig und machte einen Bogen um ihn. Gefangene konnten vorzeitig freikommen, wenn sie für Wohltätigkeitsvereine oder Religionsgemeinschaften krähten.

Nicht alle Kräher waren pleite. Viele wollten einen Rabatt oder eine Vergünstigung ergattern, und einige arbeiteten nur in den ersten drei Monaten des Jahres als Kräher, während sie das neueste Update für ihr handfreies Betriebssystem abbezahlten. Wer sein Betriebssystem nicht updatete, bekam Probleme in Business und Kommunikation. Handfreie Haushaltsgeräte und automatische Türöffner erkannten nur die aktuellen Systeme, und dasselbe galt für neue Automodelle. Wenn jemand mit einem alten Betriebssystem die Straße überquerte, bremsten sie nicht mehr automatisch ab, und es blieb einem nichts anderes übrig, als die Beine in die Hand zu nehmen.

Wenn Indriði einer Gruppe Jugendlicher begegnete, rief er vielleicht:

»GEILE SCHUHE! GANZ SCHÖN COOL VON DIR, SO GEILE SCHUHE ZU KAUFEN!«

Es war eine völlig neue Strategie, die Leute erst etwas kaufen zu lassen und sie dann dafür zu loben. Dadurch stärkte man das Verhaltensmuster und brachte die Produkte früher in Mode.

Manchmal wirkten die Ankündigungen absurd, bestanden womöglich nur aus einem Wort, einem Motto oder einem Slogan, der in keiner Verbindung zu einem Produkt stand. Dann waren sie wahrscheinlich Teil einer längerfristigen Kampagne, einer sogenannten Denksportwerbung, über die sich die Leute lange und ausgiebig den Kopf zerbrachen. Auf der Haupteinkaufsstraße Laugavegur begegnete man beispielsweise einer alten Frau, die aus heiterem Himmel sagte:

»GESCHMEIDIGKEIT!«

Ein Stück weiter traf man einen Jugendlichen, der sagte:

»DYNAMIK!«

Und selbst wenn man auf dem Absatz kehrtmachte und in die Hverfisgata einbog, hörte man aus einem Kellerfenster ein Flüstern:

»ZUVERLÄSSIGKEIT!«

Am Ende raste jemand auf einem Fahrrad durch den Klapparstígur und rief:

»FOOOOORD! FORD!«

Solche Kampagnen erreichten immer ihr Ziel, man konnte ihnen nicht entkommen. Alles wurde haargenau bis auf 0,5 Zentimeter ausgerechnet, und die Ankündigung passte perfekt zur Zielgruppe des Empfängers, der bis in seine banalsten Marotten hinein kategorisiert war. Das Krähersystem war effizient, einfach und bequem. Jeder normale Mensch konnte für wenig Geld einen Kräher bestellen, wenn er sich an etwas erinnern lassen wollte.

»Um drei Uhr haben Sie ein Meeting mit dem Minister, und denken Sie an Ihren Hochzeitstag!«

Wer vor kurzem in die Stadt gezogen war, bestellte oft einen oder zwei Kräher, um sich auf der Straße grüßen oder in ein Gespräch verwickeln zu lassen.

»Guten Tag, Guðmundur, schönes Wetter heute!«

Dann wirkte die Großstadt nicht mehr ganz so kalt und abweisend. Entwurzelte Bauern, die gerne von einem Hahnenschrei geweckt wurden, konnten ihre Nachbarn um sechs Uhr morgens krähen lassen, falls sie in der glücklichen Lage waren, in der Nähe eines Krähers zu wohnen.

»Kikeriki! Zeit zum Aufstehen!«

Vielen Unternehmern war es wichtig, frühmorgens als Erstes ihr Selbstvertrauen zu stärken.

»Sie sind der Beste!«, sagte die Putzfrau.

»Keiner kann Sie aufhalten, Bjarki!«, sagte der Hausmeister.

»Sie sehen heute aber gut aus!«, sagte der Taxifahrer. »Heute ist ein Tag für Gewinner!«

Wenn freie Menschen in der Nähe waren, musste man mit allem rechnen, und deshalb achtete auch niemand darauf, wenn Indriði in einem Café saß und weinte. Er saß laut heulend in einer Ecke, und die wenigsten kamen auf die Idee, ihn zu fragen, was los sei. Wahrscheinlich hatte seine Zielgruppe Woche der griechischen Tragödie. Es war am einfachsten, so etwas anzunehmen. Aber er konnte natürlich auch eine »Werbefalle« sein.

»Warum weinst du denn?«

»Ich hätte so gerne einen Honda, das sind echt tolle Autos, und diese Woche gibt...


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Andri Snær Magnason, geboren 1973, ist Autor, Regisseur, Umweltaktivist, viel gefragter Zukunftsvisionär, war Kandidat für das isländische Präsidentschaftsamt und erhielt u .a. den mit 75.000 Euro dotierten KAIROS-Preis für herausragende Persönlichkeiten. LoveStar wurde mit dem Isländischen Buchhandelspreis 2002 und dem Prix d'Imaginaire 2006 ausgezeichnet und erhielt eine besondere Erwähnung des Philip K. Dick Award 2012.
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